Leitsatz (amtlich)

1. Die Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass ein vollständiger Wegfall des Arbeitslosengelds II möglich und sofort vollziehbar ist, ist auch bei der Abwägungsentscheidung des Gerichts zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu beachten. Der Gesetzgeber räumt dem Sofortvollzug den Vorrang ein.

2. Von diesem Regel-Ausnahmeverhältnis ist nur abzuweichen, wenn überwiegende Interessen des Antragstellers gegen den Sofortvollzug sprechen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids bestehen oder besondere private Interessen überwiegen.

3. Wenn im konkreten Fall schwere und unzumutbare Rechtsbeeinträchtigungen entstehen können und die Sach- und Rechtslage nicht abschließend geprüft werden kann, sind die besonderen privaten Interessen im Rahmen einer Folgenabwägung zu prüfen. Damit werden die Vorgaben des BVerfG zum einstweiligen Rechtsschutz bei existenzsichernden Leistungen (insb. Beschluss BVerfG vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05) umgesetzt.

 

Tenor

I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 9. Juli 2012 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Streitig ist der Wegfall des Anspruchs auf Arbeitslosengeldes II des Antragstellers für die Monate Juni, Juli und August 2012 wegen einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung.

Der 1965 geborene Antragsteller bezieht seit 01.01.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Antragsgegner. Er lebt in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau und ihren 1990 und 2001 geborenen Kindern.

Mit Bescheid vom 14.04.2011 wurde das Arbeitslosengeld II des Antragstellers um 30 % der Regelleistung abgesenkt. Mit Bescheid vom 24.10.2011 wurde das Arbeitslosengeld II des Antragstellers wegen einer weiteren Pflichtverletzung um 60 % der Regelleistung abgesenkt.

Zuletzt wurden der Familie mit Bescheid vom 20.02.2012 Leistungen für die Zeit von März bis einschließlich August 2012 bewilligt. Angerechnet wurde Einkommen mehrerer Familienmitglieder. Für den Antragsteller selbst wurde ein Betrag von monatlich 409,57 Euro bewilligt. Auf jedes Familienmitglied entfielen monatlich ca. 182,- Euro an Kosten für Unterkunft und Heizung.

Am 17.04.2012 unterbreitete der Antragsgegner dem Antragsteller ein Stellenangebot im Rahmen des Projekts "Bürgerarbeit". Es handelte sich um einen Arbeitsplatz in einer gemeinnützigen Fahrradwerkstatt mit einer Arbeitszeit von 30 Wochenstunden bei einem Monatslohn von 1105,- Euro brutto. Der Antragsteller sollte sich dort am 27.04.2012 um 9:30 Uhr melden. Das Stellenangebot enthält eine Rechtsfolgenbelehrung, wonach bei einer Weigerung, die angebotene Arbeit aufzunehmen, das Arbeitslosengeld II des Antragstellers vollständig entfalle. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass ein Anspruch auf ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen bestehe, wenn minderjährige Kinder in der Bedarfsgemeinschaft leben.

Der Antragsteller legte am 20.04.2012 Widerspruch gegen das Arbeitsangebot ein. Es handele sich um eine unzumutbare Tätigkeit. Der Widerspruch wurde als unzulässig verworfen.

Der Antragsteller erschien zwar zum Vorstellungstermin am 27.04.2012, nahm jedoch die Arbeit nicht auf, weil er die Arbeit für unzumutbar hielt.

Nach Anhörung zur Sanktion stellte der Antragsgegner mit Bescheid vom 15.05.2012 den vollständigen Wegfall des Arbeitslosengelds II für die Monate Juni, Juli und August 2012 fest. Der Antragsteller habe die angebotene Tätigkeit ohne wichtigen Grund abgelehnt. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 31.05.2012 als unbegründet zurück.

Dagegen hat der Antragsteller am 05.06.2005 Klage erhoben und zugleich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage beantragt. Die Zuteilung zu Bürgerarbeit sei eine Rache des Antragsgegners wegen des mehrjährigen Streits um eine Ausbildung/ Umschulung gewesen. Er sei nicht gegen Arbeit, er benötige jedoch eine Ausbildung.

Mit Beschluss vom 09.07.2012 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ab. Der Sanktionsbescheid sei gemäß § 39 Nr. 1 SGB II sofort vollziehbar. Es überwiege das Vollzugsinteresse des Antragsgegners, weil auf Grundlage des aktuellen Sach- und Beistands keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestünden. Trotz ordnungsgemäßer Rechtsfolgenbelehrung habe der Antragsteller das ihm vorgeschlagene Arbeitsverhältnis nicht angetreten und sich damit geweigert, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen. Die Tätigkeit in der Fahrradwerkstatt sei dem Antragsteller auch gemäß § 10 SGB II zumutbar. Hinderungsgründe nach § 10 Abs. 1 SGB II seien weder vorgetragen noch erkennbar. Auch der Vortrag des Antragstellers, dass er vorrangig eine Ausbildung begehre, ändere nichts an der Zumutbarkeit der vorgeschlagenen Arbeit. Ein wichtiger Grund liege nicht vor. Es handelt sich um eine weitere wiederholte Pflichtverletzung im Sinn von § 31a Abs. 1 Satz 4 und 5...

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