Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren: Voraussetzung einer Aussetzung der Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung während des Rechtsmittelverfahrens. Anforderungen an die Annahme einer Offenkundigkeit der Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels. Erforderlichkeit einer Abwägungsentscheidung zur Aussetzung bei Vorliegen einer höchstrichterlichen Entscheidung in vergleichbarer Sache
Leitsatz (amtlich)
1. Die Aussetzung einer erstinstanzlichen Entscheidung nach § 199 Abs. 2 SGG ist nur bei Offenkundigkeit der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels möglich.
2. Die Erfolgsaussichten im Hinblick auf eine Prognoseentscheidung bei einer 26wöchigen Drogentherapie sind auch dann nicht offenkundig, wenn eine Entscheidung des BSG in einem vergleichbaren Fall vorliegt. Vielmehr ist im konkreten Einzelfall zu prüfen, in welchem Umfang die Entscheidung des BSG vergleichbar und damit anwendbar ist.
3. Für die Interessen und Folgenabwägung spielt es keine Rolle, wenn vorläufig nach dem SGB II erbrachte Leistungen evtl. im Aufrechnungsverfahren nach dem SGB II nicht mehr zurück zu holen sind.
Orientierungssatz
Bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung eines Urteils für die Dauer des Rechtsmittelverfahrens ist, soweit das Rechtsmittel nicht offensichtlich erfolgreich sein wird, immer eine Abwägung der Interessen im Einzelfall vorzunehmen. Das gilt auch dann, wenn zu einem vergleichbaren Streitgegenstand ein höchstgerichtliches Urteil vorliegt, soweit nicht feststeht, dass es sich dabei um einen tatsächlich vergleichbaren Sachverhalt handelt.
Tenor
I. Der Antrag des Antragstellers auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 10. Juni 2015 (S 11 AS 104/15) wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller des Aussetzungsantrags hat dem Antragsgegner die außergerichtlichen Kosten dieses Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Mit Urteil vom 10.06.2015, Az.: S 11 AS 104/10, hat das Sozialgericht Augsburg den Antragsteller (Ast.) verurteilt, dem Antragsgegner (Ag.) für die Zeit während seiner stationären Unterbringung in einer Therapieeinrichtung der Drogenhilfe vom 01.12.2014 bis 18.05.2015 Leistungen nach dem SGB II zu erbringen.
Die Berufung des Ast. ist im Senat unter Az.: L 7 AS 430/15 anhängig.
Am 15.07.2015 hat der Ast. Antrag auf einstweilige Anordnung gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestellt zum Bayer. Landessozialgericht. Das Urteil des SG Augsburg würde offensichtlich der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hinsichtlich des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs. 4 SGB II widersprechen im Hinblick auf Personen, die an einer sechsmonatigen bzw. 26-wöchigen Drogentherapie teilnehmen (BSG, Urteil vom 02.02.2012, B 14 AS 66/13 R). Bei Vollstreckung des Urteils würden neben den laufenden Sozialleistungen - die aktuell durch einen anderen Leistungsträger nach dem SGB II erbracht werden - dem Ag. ca. 1.800,00 Euro zusätzlich zur Verfügung stehen. Bei einer 10%igen Aufrechnung mit dem Regelbedarf, wie sie das SGB II zulasse, könnten lediglich 1.400,00 Euro zurückgefordert werden. Dies sei bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen.
Mit Schreiben vom 17.07.2015 hat der Ag. dahingehend Stellung genommen, dass die Berufung nicht offensichtlich unbegründet sei und es hier um existenzsichernde Leistungen gehe.
II.
Der Aussetzungsantrag ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG kann, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat, der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Ein vollstreckbarer Titel im Sinne von § 199 Abs. 2 SGG liegt hier vor; die Berufung hat nach § 154 Abs. 2 SGG keine aufschiebende Wirkung (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 199 Rz. 8a m.w.N.).
Der Aussetzungsantrag ist jedoch nicht begründet.
Bei der Entscheidung über die Aussetzung ist eine Interessen- und Folgenabwägung vorzunehmen (BSG, Beschluss vom 05.09.2001, B 3 Kr 47/01 R), wobei der in § 154 Abs. 2 SGG zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers zu beachten ist, dass Berufungen in der Regel keine aufschiebende Wirkung haben sollen. Eine Aussetzung kommt daher nur in Ausnahmefällen in Betracht (BSG, Beschluss vom 28.10.2008, B 2 U 189/08 B).
Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist im Rahmen einer Interessen- und Folgenabwägung zu prüfen (vgl. BayLSG, Beschluss vom 19.05.2010, L 10 AL 127/10 ER, Rz. 6). Dabei können die Erfolgsaussichten der Berufung ausnahmsweise dann eine Rolle spielen, wenn diese offensichtlich fehlen (vgl. BSG, Beschluss vom 05.09.2001, B 3 KR 47/01 R) oder offensichtlich bestehen (BSGE 12, 138).
Sind die Erfolgsaussichten jedoch nicht in dieser Weise eindeutig abschätzbar, ist im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung insbesondere zu berücksichtigen, ob dem Ast. - über den Nachteil hinaus, der mit jeder Zwangsvollstreckung als solcher verbunden ist - ein im nachhinein nicht mehr zur ersetzender Schaden entstehen...