Entscheidungsstichwort (Thema)
Dronabinol. Cannabinoide. chronische Kopfschmerzen. singuläre Krankheit. Rezepturarzneimittel. neue Behandlungsmethode. Systemversagen. notstandsähnliche Situation
Leitsatz (redaktionell)
Ein Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung hat zur Behandlung chronischer Kopfschmerzen keinen Anspruch auf Versorgung mit dem Rezepturarzneimittel Dronabinol.
Normenkette
SGB V § 2 Abs. 1 S. 3, § 12 Abs. 1, § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 31 Abs. 1, § 135 Abs. 1
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 7. April 2006 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitgegenstand ist die Versorgung mit dem Rezepturarzneimittel Dronabinol.
Bei der 1974 geborenen Klägerin, Mitglied der Beklagten, ist seit 1998 ein GdB von 30 wegen operativ behandelter Arachnoidalzyste, Kopfschmerzsymptomatik und diskreter Halbseitensymptomatik links festgestellt. Für sie beantragte der Leiter der Schmerzambulanz im Uniklinikum W. Prof. Dr. S. am 25.05.2004 die Kostenübernahme für Dronabinol unter ausführlicher Schilderung der Beschwerdeentwicklung und -therapie seit 1995. Herkömmliche Pharmakotherapien seien gescheitert und erst die seit 28.03.2003 durchgeführte Dauertherapie ermögliche ein normales Alltagsleben und die berufliche Neuorientierung. Entsprechend dem Konsens in Fachgesellschaften zum Off-Label-Einsatz werde die Anwendung von Dronabinol trotz fehlender Zulassung im Einzelfall bei täglichen Kosten von 2,00 EUR bejaht.
Im MDK-Gutachten Dr. E. vom 26.05.2004 heißt es, Dronabinol sei der Hauptwirkstoff der Cannabispflanze, der unter Marinol in den USA zugelassen sei und in Deutschland ein verschreibungsfähiges Betäubungsmittel darstelle. Zur Schmerztherapie sei das Arzneimittel weder national noch europaweit zugelassen. Verordnungsfähig sei es erst nach der Prüfung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss, die bislang nicht erfolgt sei. Es lägen keine validen klinischen Untersuchungen, vielmehr eine ablehnende Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums aus dem Jahre 2004 vor. Gegenüber etablierten Schmerzmitteln inklusive Opiaten sei keine Überlegenheit von Dronabinol feststellbar. Daraufhin lehnte die Beklagte den Kostenübernahmeantrag mit Bescheid vom 17.06.2004 ab. Den Widerspruch wies sie am 22.11.2004 zurück.
Im Klageverfahren hat der Klägerbevollmächtigte vorgetragen, die singuläre Krankheit der Klägerin verbiete den Vergleich mit dem Massenphänomen Kopfschmerz. Entsprechend der Auffassung der Uniklinik W. sei eine Einzelfallentscheidung notwendig, nicht hingegen das Abwarten des Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses hinsichtlich einer neuen Methode, zumal es sich nicht um horrende Kosten handele (180,00 EUR pro Quartal). Maßgebend sei die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 19.10.2004 (B 1 KR 27/02 R), weil die systematische Erforschung der Behandlungsmöglichkeiten der Klägerin praktisch ausscheide. Ein Evidenznachweis sei vorliegend nicht möglich.
Das Sozialgericht Augsburg hat die Beklagte mit Urteil vom 07.04.2006 verpflichtet, bei entsprechender kassenärztlicher Verordnung das Rezepturarzneimittel Dronabinol als Sachleistung zur Verfügung zu stellen. Ausgehend von der Empfehlung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestags sei im Fall der Klägerin erheblich, dass es sich um eine absolute Ausnahmesituation handele und ohne eine entsprechende Medikation der soziale und gesundheitliche Absturz zu befürchten sei. Auch wenn die Situation nicht lebensbedrohlich sei, sei eine Kostenübernahme in Fortentwicklung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 gerechtfertigt, weil eine erhebliche Einbuße der Lebensqualität durch ein wirksames Arzneimittel vermieden werden könne und eine andere Therapie nicht zur Verfügung stehe.
Gegen das Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung finde § 135 SGB V Anwendung und Anhaltspunkte für ein Systemversagen seien entsprechend der Entscheidung des LSG Sachsen vom 22.08.2005 (L 1 B 102/05 KR ER) nicht vorhanden. Es gebe keinerlei Belege für die Wirksamkeit der strittigen Medizin bei chronischen Kopfschmerzen und chronische Kopfschmerzen seien eine sehr häufige Krankheit. Die Beklagte hat ein MDK-Gutachten Dr. D. vom 07.08.2006 beigefügt, wonach es sich bei chronischen Schmerzen um ein sehr häufiges Krankheitsbild handele. Der Zusammenhang der bei der Klägerin vorliegenden Kopfschmerzen mit der Arachnoidaloperation sei nicht nachgewiesen.
Im Auftrag des Gerichts hat Dr. K., Stellvertretende Leiterin der Schmerzambulanz C., am 13.06.2007 nach Aktenlage ein Gutachten erstellt. Nach der Recherche in vier umfassenden international renommierten medizinischen Datenbanken hat die Sachverständige festgestellt, es existierten keine kontrollierten Phase 3-Studien zum Einsatz von Dronabinol bei Kopfschmerzen. Aufzufinden seien lediglich Einzelfallberichte und eine...