Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Ablehnung eines Antrags nach § 109 SGG wegen Verspätung. Zurückverweisung. aufwändige Beweisaufnahme. Einholung eines Gutachtens. Ermessen
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Zurückweisung eines Antrags gemäß § 109 SGG als verspätet, obwohl er innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist gestellt worden ist, stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
2. Die verfahrensfehlerhafte Zurückweisung eines Antrags gemäß § 109 SGG kann das Berufungsgericht zur Zurückverweisung gem § 159 Abs 1 Nr 2 SGG berechtigen, da die Einholung des Gutachtens gem § 109 SGG eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme darstellt.
3. Im Rahmen der Ermessensausübung, ob der Rechtsstreit zurückzuverweisen ist, ist maßgeblich zu berücksichtigen, wenn einer oder beide Beteiligte selbst die Zurückverweisung beantragen. Denn damit wird deutlich, dass das Interesse an einer möglichst schnellen rechtskräftigen Sachentscheidung hinter das Interesse am Erhalt der gesetzlich garantierten zwei Tatsacheninstanzen zurücktritt.
4. Ermessensfehlerhaft wäre eine Zurückverweisung dann, wenn von einer zwischenzeitlich eingetretenen Entbehrlichkeit des ursprünglich beantragten, aber verfahrensfehlerhaft im Verfahren der ersten Instanz nicht eingeholten Gutachtens gem § 109 SGG auszugehen wäre.
Tenor
I. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 26. April 2012 wird aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht München zurückverwiesen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 1932 geborene Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG.
Mit Bescheid vom 23.02.2000 war ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 und das Merkzeichen RF festgestellt worden.
Im Juli 2011 beantragte der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG.
Nach Auswertung der vorgelegten ärztlichen Unterlagen durch den versorgungsärztlichen Dienst stellte der Beklagte mit Bescheid vom 12.09.2011 einen GdB von 80 sowie weiterhin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF fest. Dem lagen folgende Gesundheitsstörungen zu Grunde:
1. Sehminderung beidseits, eingepflanzte Kunstlinse rechts - Einzel-GdB 60
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenschäden, degenerative Veränderungen, Polyneuropathie - Einzel-GdB 30
3. Funktionsbehinderung des Hüftgelenks rechts - Einzel-GdB 20.
Das Merkzeichen aG stehe dem Kläger nicht zu, da er nach Art und Ausmaß der Behinderung die geforderten gesundheitlichen Voraussetzungen nicht erfülle.
Soweit die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG abgelehnt worden war, erhob der Kläger am 16.09.2011 Widerspruch. Angesichts der gesundheitlichen Verfassung der Beine und Füße sei die Erteilung des Merkzeichens angemessen und notwendig.
Nach Auswertung weiterer ärztlicher Unterlagen durch den versorgungsärztlichen Dienst half der Beklagte dem Widerspruch des Klägers insofern ab, als ein GdB von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und RF mit Teilabhilfebescheid vom 19.10.2011 festgestellt wurden. Im Übrigen wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 09.11.2011 zurückgewiesen. Die Feststellung des Merkzeichens aG sei nicht möglich, da die gesundheitlichen Voraussetzungen dafür nicht vorlägen.
Am 16.11.2011 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht München erhoben. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien - so der Kläger in seiner Klagebegründung vom 16.01.2012 - gegeben, da er sich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen könne.
Aus den eingeholten Befundberichten ergibt sich, dass beim Kläger nicht nur orthopädische Beschwerden vorhanden sind, sondern auch Erkrankungen auf internistischem Fachgebiet (massive Einschränkung der Lungenfunktion nach Lungenteilresektion links, Atemfunktionsstörung, Bluthochdruck, venöse Insuffizienz).
Im Auftrag des Gerichts hat der Orthopäde Dr. K. am 02.03.2012 ein Gutachten erstellt. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger sicherlich zahlreiche Behinderungsleiden aufweise, die jedoch ausreichend und vollständig im angefochtenen Bescheid vom 19.10.2011 festgehalten und bewertet worden seien. Keinesfalls ergebe sich auch in der Zusammenschau der verschiedenen Fachgebiete eine Beurteilung, die das Merkzeichen aG rechtfertige, da dafür doch sehr restriktive Voraussetzungen erfüllt werden müssten. Aus seiner Sicht sei die Einholung von Gutachten auf anderen Fachgebieten nicht erforderlich.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 09.03.2012 ist dem Kläger das Gutachten "zur Kenntnis und Stellungnahme binnen vier Wochen" übersandt worden. Es ist angefragt worden, ob die Klage zurückgenommen werde; weiter ist mitgeteilt worden, dass derzeit ein weiteres Gutachten von Amts wegen nicht eingeholt werde.
Mit Schreiben vom 05.04.2012, beim Sozialgericht eingegangen am selben Tag, hat der Kläger seine Ansicht m...