Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. Kind mit cerebraler Bewegungsstörung. Verweigerung des Gehens in unbekannter Umgebung. Dauerhaftigkeit. Feststellung der Voraussetzungen für Parkerleichterung aG light. Zuständigkeit der Straßenverkehrsbehörden. Situativ wechselndes Verhalten
Leitsatz (amtlich)
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für eine weite Auslegung im Rahmen der Prüfung der gesundheitlichen Verhältnisse für das Merkzeichen aG kein Raum (Bestätigung von LSG München vom 28.2.2013 - L 15 SB 113/11).
Bedingt die geistige Erkrankung des kindlichen Klägers, dass dieser vor allem in fremder Umgebung immer wieder jegliches Gehen verweigert, in bekannter Umgebung sich jedoch regelmäßig auch eigenständig fortbewegt, liegt keine dauerhafte außergewöhnliche Gehbehinderung vor, die die Zuerkennung des Merkzeichens aG ermöglicht.
Die Entscheidung über die Ausnahmeregelung nach dem Straßenverkehrsrecht (sogenanntes kleines oder Bayern aG) obliegt im Freistaat Bayern den Straßenverkehrsbehörden und nicht der im Wege der Amtshilfe eingebundenen Versorgungsverwaltung.
Normenkette
StVG § 6 Abs. 1 Nr. 14; StVO § 46 Abs. 1 Nr. 11, Abs. 2 S. 3; SGB IX § 69 Abs. 1; BVG § 30 Abs. 1, 16
Tenor
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 20.12.2012 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 12.09.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2012 abgewiesen.
II. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 20.12.2012 wird zurückgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 2003 geborene Kläger ist schwerbehindert im Sinne von §§ 2 Abs. 2, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichen "aG" (= außergewöhnlich gehbehindert) vorliegen, hilfsweise ob das sog. "kleine oder bayerischen aG" zuzuerkennen ist.
Auf den Erstantrag vom 01.06.2006 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 12.10.2006 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "B", "G" und "H" fest. Berücksichtigt wurden nachstehende Gesundheitsstörungen: Spastische infantile Cerebralparese, kombinierte, sprachbetonte Entwicklungsstörung, rezeptive und expressive Sprachstörung, Entwicklungsstörung der Mundmotorik, geistige Behinderung mit autistischem Verhalten.
Der Antrag auf Feststellung des Merkzeichens "aG" vom 01.08.2011 wurde mit Bescheid vom 12.09.2011 abgelehnt. Der Kläger gehöre nicht zum Kreis der außergewöhnlich Gehbehinderten, da die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden dürfe. Auch eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Straßenverkehrsbehörde über die gesundheitlichen Voraussetzungen für Parkerleichterungen (= sog. "kleines oder bayerisches aG") könne nicht ausgestellt werden, da bei dem Kläger keine der folgenden Einschränkungen bestünden: Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirkten) mit GdB 80 und Merkzeichen "G" und "B"; Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirkten) mit GdB 70 und Herz- oder Lungenleiden mit GdB 50 und Merkzeichen "G" und "B"; Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa mit Einzel-GdB 60; künstlicher Darmausgang und künstliche Harnableitung nach außen mit Einzel-GdB 70; Conterganschädigung (Fehlen oder starke Verkürzung beider oberer Gliedmaßen) oder vergleichbare Einschränkung (Verlust oder Gebrauchsunfähigkeit beider oberer Gliedmaßen.
Der hiergegen gerichtete Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2012 zurückgewiesen. Wenngleich bei dem Kläger als Gesundheitsstörungen eine geistige Behinderung mit autistischem Verhalten mit schwerer Sprachentwicklungsstörung (Einzel-GdB 100) und eine spastische infantile Cerebralparese (Einzel-GdB 50) bestünden, sei dieser nicht außergewöhnlich gehbehindert. Es könne auch nicht empfohlen werden, bei der Straßenverkehrsbehörde eine Ausnahmegenehmigung für Parkerleichterungen zu beantragen.
Mit Klage zum Sozialgericht München (SG) vom 23.04.2012 haben die Bevollmächtigten des Klägers beantragt, ihm das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen. Auch wenn der Kläger grundsätzlich in der Lage wäre, eine längere Wegstrecke zurückzulegen, tue er dies aufgrund seiner geistigen Behinderung bzw. des Autismus nicht. Diese Störung sei mit einer neuronalen Störung gleichzusetzen.
Das SG hat Befundberichte des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin S. und der Orthopädin Dr. B. mit Fremdbefunden beigezogen. Herr S. hat mit Befundbericht vom 31.05.2012 dargelegt, der Kläger zeige das Vollbild eines frühkindlichen Autismus, ver...