Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Anfechtungsklage gegen einen Versagungsbescheid wegen fehlender Mitwirkung. Rechtsschutzbedürfnis bei rückwirkender Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger. Nahtlosigkeitsregelung des § 44a Abs 1 S 7 SGB 2. Unzulässigkeit einer Versagung von Leistungen auf Dauer. Ermessensüberschreitung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die rückwirkende Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger lässt das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage gegen die Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zumindest hinsichtlich der Versagung von Leistungen bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Rentenversicherungsträgers im Hinblick auf § 44a Abs 1 S 2 SGB II idF vom 26.7.2016 unberührt.

2. Die Versagung von Leistungen auf Dauer ist nicht von § 66 Abs 1 S 1 SGB I gedeckt (vgl bereits BSG vom 5.4.2000 - B 5 RJ 38/99 R = BSGE 86, 107 = SozR 3-1200 § 2 Nr 1) und als Ermessensüberschreitung im Rahmen der gerichtlichen Rechtskontrolle zu beanstanden.

 

Normenkette

SGB I § 66 Abs. 1 S. 1, Abs. 3; SGB II § 44a Abs. 1 Sätze 2, 7; SGB III § 125; SGB XII § 41 Abs. 1; SGG § 193 Abs. 4

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16. September 2021 abgeändert und der Bescheid vom 22. Mai 2019 idG des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2019 aufgehoben.

II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in der ersten Instanz zur Hälfte und in der Berufungsinstanz ganz.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 1.2.2019 bis 5.3.2020.

Der 1959 geborene Kläger und Berufungskläger (in der Folge: Kläger) beantragte im Februar 2019 beim Beklagten und Berufungsbeklagten (in der Folge: Beklagter) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Der Beklagte forderte den Kläger unter dem 3.4.2019 auf, bis zum 30.4.2019 verschiedene Unterlagen vorzulegen. Sollte der Kläger der Aufforderung innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkommen, werde die beantragte Hilfeleistung wegen fehlender Mitwirkung des Klägers versagt. Mit Schreiben vom 2.5.2019 forderte der Beklagte bis zum 19.5.2019 weitere Unterlagen bzw Angaben vom Kläger, um über den Leistungsantrag entscheiden zu können. Wer Sozialleistungen beantrage oder erhalte, habe alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind und Änderungen in den Verhältnissen unverzüglich mitzuteilen (§ 60 SGB I). Habe der Kläger bis zum genannten Termin nicht reagiert oder die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht, könnten die Geldleistungen ganz versagt werden, bis der Kläger die Mitwirkung nachholt (§§ 60, 66, 67 SGB I). Dies bedeute, dass der Kläger keine Leistungen erhalte.

Unter dem 22.5.2019 versagte der Beklagte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab Antragstellung (Februar 2019) für den Kläger ganz. Der Kläger sei am 3.4. und 3.5.2019 aufgefordert worden, fehlende Unterlagen einzureichen und bestimmte Auskünfte zu erteilen. Trotz dieser Aufforderung habe der Kläger die Lohnabrechnungen ab Februar 2019, Nachweise über die tatsächliche Ausübung seiner Tätigkeit als Ausbilder für Ladensicherung (wohl Ladungssicherung) und Gefahrgut, den Grundsteuerbescheid 2018 und die Nebenkostenabrechnung aus 2017 nicht vorgelegt. Der Kläger habe nicht dargelegt, auf welches Konto das Krankengeld überwiesen worden sei und wie er das Krankengeld erhalten habe. Ausweislich der vorliegenden Unterlagen sei der Kläger als Geschäftsführer der Fa. G angestellt. Nun tauche auch die Fa. F in den Unterlagen des Klägers auf. Die Angaben zu seiner Tätigkeit als Geschäftsführer, Arbeitnehmer und Teilhaber der Firma seien nicht nachvollziehbar und würden vom Kläger nicht ausreichend dargelegt. Die schriftliche Aussage, dass der Kläger keine Mitarbeiter habe, decke sich nicht mit seiner vorherigen persönlichen Angabe. Auch die Angabe des Klägers, kein Firmenkonto zu haben, decke sich nicht mit seiner vorherigen persönlichen Aussage. Es sei nicht klar, wo genau der Firmensitz sei und wo der Kläger als Geschäftsführer und/oder Ausbilder tatsächlich tätig sei. Aus den vorgelegten Nachweisen zu den Vermögenswerten sei nicht eindeutig ersichtlich, welche Wohnung dem Kläger, der Firma oder anderen Personen gehöre. Der Kläger habe nicht nur ein Miteigentumsrecht, sondern auch ein sogenanntes Sondereigentumsrecht. Vom Grundbuchauszug fehlten die Blätter 820 und 821. Die vorgelegten Unterlagen und die persönlichen Angaben des Klägers seien sehr undurchsichtig und teilweise, gerade in Bezug auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht nachvollziehbar. Der Kläger sei seinen Mitwirkungspflichten nach § 60 SGB I nicht nachgekommen, so dass der Leistungsanspruch nicht abschließend geprüft werden könne. E...

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