Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattungsstreit zwischen Leistungsträgern der Sozialhilfe: Eingliederungshilfe durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzelwohnen. Abgrenzung von Leistungen der häuslichen Betreuung als Pflegeleistungen zu den Leistungen der Eingliederungshilfe. Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers in Bayern. Sozialgerichtliches Verfahren. Zulässigkeit eines Grundurteils. Sozialhilfe. Erstattungsanspruch des örtlichen Sozialhilfeträgers gegen den überörtlichen Sozialhilfeträger. sachliche Zuständigkeit. Landesrecht. Bayern. stationäre oder teilstationäre Leistungen. Einrichtungsbegriff. Erbringung von Eingliederungshilfe durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft. Abgrenzung der Eingliederungshilfe von der Hilfe zur Pflege

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zu den Voraussetzungen eines Grundurteils im Erstattungsstreit zwischen Leistungsträgern der Sozialhilfe.

2. Eingliederungshilfe durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzelwohnen erfordert eine Ausrichtung auf die Förderung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei der Erledigung der alltäglichen Angelegenheiten im eigenen Wohn- und Lebensbereich.

3. Die Ausnahmeregelung des Art. 82 Abs. 2 BayAGSG (Allzuständigkeit des überörtlichen Trägers, Leistungen aus einer Hand) ist einschränkend auszulegen.

4. Zur Abgrenzung von Leistungen zur Pflege und solchen der Eingliederungshilfe bei Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz bzw. erweiterten Leistungen nach dem Pflegeneuausrichtungsgesetz (§§ 45a c, 124 SGB XI).

 

Orientierungssatz

1. Für eine Entscheidung im Wege eines Grundurteils ist ein Antrag nicht erforderlich.

2. Diejenigen teilhaberelevanten Leistungen, die vom Gesetzgeber ausdrücklich der Pflege zugewiesen sind, gehören nicht zur Eingliederungshilfe. Für die Eingliederungshilfe kommen dagegen Leistungen und Angebote in Frage, die über den in §§ 45b, 124 SGB XI umschriebenen Leistungskatalog hinausgehen. Es bleiben danach - auch in Fällen der ambulanten Pflege - noch vielfältige Anlässe für Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn sie nur über die Zielsetzung der (häuslichen) pflegerischen Betreuung hinausreichen.

3. Es ist nicht zielführend, die in den Leistungen der zusätzlichen (§ 45b SGB XI) und häuslichen Betreuung (§ 124 SGB XI) zweifellos enthalten teilhabebezogenen Aspekte isoliert zu betrachten und allein deshalb unter Bezugnahme auf Art 82 AGSG die Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers zu reklamieren. Dies würde die Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflege endgültig ununterscheidbar machen und auch eine mit der Einführung des Art 82 Abs. 2 AGSG nicht beabsichtigte Zuständigkeitsausweitung für den überörtlichen Sozialhilfeträger zur Folge haben.

 

Normenkette

SGB XII § 97 Abs. 1, 2 S. 1, Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4, § 98 Abs. 1, 5, §§ 65, 61, 13 Abs. 1, § 9 Abs. 1, § 53 Abs. 1-2, § 58; SGB XI §§ 45a, 45b, 45c Abs. 3, §§ 45e, 134, 43, 36, 54 Abs. 1, §§ 38, 13 Abs. 3 S. 3, Abs. 3a; BayAGSG Art. 80, 82 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2; SGG § 130 Abs. 1 S. 1, § 54 Abs. 5; Alt § 75 Abs. 1 1. Alt; SGB X §§ 111, 102, 105; SGB IX § 14 Abs. 4, § 55 Abs. 2 Nr. 6; BGB § 535; WBVG § 1; PflWoqG Art. 2 Abs. 3-4

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 12. August 2014, S 15 SO 33/14, aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist im Erstattungsweg die sachliche Zuständigkeit für die Leistungsgewährung an den leistungsberechtigte Sozialhilfeempfängerin A. (Lb) nach dem 7. Kapitel des Sozialgesetzbuches XII (SGB XII) gemäß Art. 82 Abs. 2 BayAGSG i.V.m. § 97 Abs. 4 SGB XII.

Die Parteien streiten konkret über die Erstattung von Leistungen, welche der Kläger als örtlicher Sozialhilfeträger der Lb für die Zeit ab 01.07.2012 mit Bewilligungsbescheiden vom 04.07.2013, 07.08.2013, 12.02.2014, 26.02.2014, 27.08.2014, 16.10.2014, 14.11.2014, 12.12.2014 und 13.03.2015 gewährt hat.

Die 1955 geborene, verheiratete Lb leidet an Demenz und bezieht seit 01.10.2010 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Deutschen Rentenversicherung Bund (Zahlbetrag 2012: 957,89 €). Für sie wurde 2011 eine gesetzliche Betreuung angeordnet, die seit Oktober 2014 durch ihren Ehemann ausgeübt wird. Bei ihr wurden ein Grad der Behinderung von zunächst 60, ab Februar 2012 von 70 und die Merkzeichen G und B festgestellt. Nach den Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen vom 12.01.2011, 19.04.2012 und 08.02.2013 lag bei ihr seit September 2009 eine eingeschränkte Alltagskompetenz nach § 45 a SGB XI, aber keine erhebliche Pflegebedürftigkeit vor. Mit Bescheid der Pflegekasse vom 14.01.2011 wurden der Lb wegen der eingeschränkten Alltagskompetenz zusätzliche Betreuungsleistungen ab 01.09.2010 in Höhe von 200,00 € monatlich bewilligt. Seit Juni 2014 liegen die Voraussetzungen für die Pflegestufe 1 vor (MDK Gutachten vom 16.07.2014).

Die damalige Betreuerin der Lb beantrag...

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