Orientierungssatz
Parallelentscheidung zu dem Urteil des LSG München vom 24.3.2005 - L 9 EG 56/04, das vollständig dokumentiert ist.
Tenor
I. Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 16.08.2004 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des zweiten Rechtszuges zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen des § 44 SGB X ein Anspruch der Klägerin auf Landeserziehungsgeld (LErzg) für den 25. mit 36. Lebensmonat (15.03.2000 mit 14.03.2001) ihres Sohnes E. (E.) streitig.
I. Die 1950 geborene Klägerin, eine verheiratete türkische Staatsangehörige, welche seit 17.10.1996 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist und seit 1986 ihren Aufenthalt in Bayern hat, ist die Mutter des 1998 in M. geborenen E. Sie lebte seither mit diesem, zwei weiteren Kindern und ihrem Ehemann in einem gemeinsamen Haushalt, betreute und erzog E. und übte daneben keine Erwerbstätigkeit aus. Sie war bei der AOK Bayern familienversichert. Durch Bescheide des Amts für Versorgung und Familienförderung München I vom 20.04.1998 und 16.03.1999 wurde ihr Bundeserziehungsgeld (BErzg) gewährt, zuletzt für das zweite Lebensjahr des Kindes in Höhe von 600,00 DM monatlich (15.03.1999 mit 14.03.2000).
Die vom Beklagten den in Frage kommenden Eltern u.a. bereits bei der Geburt eines Kindes zur Verfügung gestellten Antragsgebinde für BErzg, LErzg und Familienbeihilfe (Stand 2/97, 2/98, 2/99, 2/00) enthalten auf S.7 jeweils folgende Hinweise: "Das LErzg erhält die Mutter/der Vater, wenn sie/er ... e) Deutscher ist oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (EU) oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) besitzt.
Derselbe Wortlaut findet sich in der vom Beklagten herausgegebenen Broschüre "Bayerisches Landeserziehungsgeld" (Stand 2001) für die Anspruchsberechtigung bei Geburten vor dem 01.01.2001. Im Übrigen wird auf den Inhalt der vorgenannten Unterlagen vollinhaltlich verwiesen.
Am 29.01.2002 (Datum der BSG-Entscheidung, B 10 EG 2/01 R, SozR 3-6940 Art.3 Nr.2) hat das Bayerische Sozialministerium bekanntgegeben, "dass die Entscheidung des BSG vom selben Tage (welche türkischen Staatsangehörigen einen Anspruch auf LErzg zubilligt hat) von den Ämtern für Versorgung und Familienförderung so rasch wie möglich vollzogen werde."
"Seither haben die Ämter tausenden türkischen Familien Anträge auf LErzg ausgehändigt, sie beraten und tausende Anträge entgegengenommen" (vgl. Leserbrief der Bayerischen Sozialministerin in der Süddeutschen Zeitung vom 18.02.2002, S.54).
Am 31.01.2002 und 05.02.2002 berichtete die Deutschland-Ausgabe des Hürriyet erstmals über das oben angeführte höchstrichterliche Urteil.
Der daraufhin am 07.02.2002 von der Klägerin gestellte Antrag auf Bewilligung von LErzg wurde durch Bescheid vom 29.10.2002 bestandskräftig mit der Begründung abgelehnt, der Antrag wirke höchstens sechs Monate vor der Antragstellung zurück, rage also nicht in den möglichen Anspruchszeitraum (15.03.2000 mit 14.03. 2001) hinein. Der am 18.02.2003 erhobene als Antrag gem. § 44 SGB X ausgelegt Widerspruch wurde durch Bescheid vom 20.03.2003 abgelehnt, der hiergegen eingelegte Rechtsbehelf blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28.04.2003).
II. Mit der am 09.05.2003 zum Sozialgericht (SG) München erhobenen Klage machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, der Beklagte habe bisher im außergerichtlichen Verfahren LErzg versagt. Die zeitliche Begrenzung des EuGH in der "Sürül"-Entscheidung sei willkürlich und vom BSG (Urteil vom 29.01.2002, B 10 EG 3/01 R) nicht bestätigt worden. Art.3 Abs.1 des ARB Nr.3/80 vom 19.09. 1980 gewähre vielmehr türkischen Staatsangehörigen, für die dieser Beschluss gelte, die gleichen Rechte und Pflichten wie Inländern. Außerdem sei das Recht der Klägerin auf Antragstellung seinerzeit durch einen mündlichen Verwaltungsakt verhindert worden. Es sei ihr verweigert worden, Antragsformulare auszuhändigen bzw. ausgefüllte Anträge anzunehmen.
Der Beklagte verwies auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.
Die Beteiligten wurden zum Erlass eines Gerichtsbescheids angehört.
Die 29. Kammer hob die streitgegenständlichen Bescheide durch Gerichtsbescheid vom 16.08.2004 auf und verurteilte den Beklagten zur Gewährung von LErzg für den am 15.03.1998 geborenen E. Die Klägerin unterfalle dem persönlichen Anwendungsbereich des Art.2 i.V.m. Art.1 b i ARB Nr.3/80, sie sei familienversichert. Auch stehe Art.3 Abs.2 Satz 1 BayLErzGG nicht entgegen, vielmehr sei Wiedereinsetzung zu gewähren, welche fristgemäß beantragt worden sei. Der Hinderungsgrund sei frühestens mit dem 29.01.2002 weggefallen. Die maximale Jahresfrist im Sinne des § 27 SGB X sei lediglich hinsichtlich des Zeitraums 15.03. mit 06.08.2000 abgelaufen, jedoch nicht hinsichtlich des möglichen weiteren Zeitraums 07.08.2000 mit 06.03.2001. Die Klägerin sei auch aufgrund höherer Gewalt...