Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ersatzanspruch wegen sozialwidrigem Verhalten. Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Inhaftierung wegen Drogenhandels
Leitsatz (amtlich)
1. § 34 SGB 2 erfasst in der bis 31.3.2011 gültigen Fassung den Ersatz von rechtmäßig gewährten Leistungen und den Ersatz von rechtswidrig gewährten Leistungen.
2. Das Verhalten, das die existenzsichernden Leistungen verursachte, muss objektiv sozialwidrig sein und der Ersatzpflichtige muss sich dieser Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst oder grob fahrlässig nicht bewusst gewesen sein.
3. Das Verhalten des Klägers, der in erheblichem Umfang mit Betäubungsmitteln handelte, was zu seiner Inhaftierung und dem Leistungsbezug seiner Familie führte, war hier sozialwidrig.
Orientierungssatz
1. Die zum Zeitpunkt des vorwerfbaren Verhaltens bestehende Bedarfsgemeinschaft des Inhaftierten mit dem Ehegatten und den minderjährigen Kindern gem § 7 Abs 3 SGB 2 besteht - unabhängig vom Leistungsausschluss gem § 7 Abs 4 S 2 SGB 2 - fort, wenn trotz der räumlichen Trennung von der Familie kein Trennungswille der Ehegatten bestand.
2. Für die Prognoseentscheidung gem § 34 Abs 1 S 2 SGB 2 zur Frage, ob der Ersatzanspruch den Ersatzpflichtigen künftig von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB 2 abhängig machen würde, ist auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (Widerspruchsbescheid) abzustellen.
Normenkette
SGB II § 34 Abs. 1 S. 2 Fassung: 2003-12-24, § 7 Abs. 3, 4 S. 2; BSHG § 92a
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 23. April 2010 sowie der Bescheid vom 30.01.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.07.2009 aufgehoben, soweit ein Erstattungsbetrag von mehr als 23.538,43 Euro gefordert wird. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist der Ersatz von Leistungen nach § 34 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von rund 24.000,- Euro, die der Familie des Klägers infolge seiner Inhaftierung gezahlt wurden.
Der 1974 in Russland geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er studierte in Russland Biologie und Chemie, um Lehrer zu werden. 1995 siedelte er nach Deutschland über. Er wohnte in K. zusammen mit seiner 1974 in Kasachstan geborenen Ehefrau und den beiden gemeinsamen Kindern D. und A. (geborenen 1995 und 2006) in einer Mietwohnung. Für die Wohnung fielen monatlich 357,57 Euro Kaltmiete, 102,- Euro Heizkostenvorauszahlung (einschließlich Warmwasseranteil) und 80,- Euro Vorauszahlung für sonstige Nebenkosten an.
Der Kläger war bis Ende 2006 als Arbeitnehmer erwerbstätig bei einem regelmäßigen monatlichen Lohn von brutto 3.272,- Euro bzw. netto 2.457,- Euro. Im November und Dezember 2006 lag der Nettolohn jeweils über 3.000,- Euro.
Die Ehefrau des Klägers befand sich ab Februar 2006 in Erziehungsurlaub. Sie erzielte mit ihrer selbständigen Tätigkeit (Nagelstudio) im Jahr 2006 einen Jahresüberschuss von 221,72 Euro.
Der Kläger wurde am 03.01.2007 verhaftet wegen Handel mit, Herstellen, Abgeben oder Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Er verblieb bis Ende 2008 in Haft.
Mit Urteil des Landgerichts K. vom 26.06.2007 wurde der bis dahin nicht vorbestrafte Kläger zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach dem Urteil hatte der Kläger 500 Gramm Kokain in seiner Wohnung aufbewahrt, das zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt war, und in mindestens 24 Fällen jeweils mindestens 100 Gramm Haschisch, das zumindest teilweise zum gewinnbringenden Verkauf bestimmt war, in seiner Wohnung verwahrt und in mindestens 24 Fällen jeweils 20 Gramm Haschisch veräußert. Dies ergebe sich aus dem umfassenden Geständnis des Klägers und dem Ergebnis der Ermittlungen der Polizei. Für den Umgang mit Kokain wurde eine Einzelfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten ausgewiesen und für gewerbsmäßiges Handeltreiben mit Haschisch 24 Einzelfreiheitsstrafen zu jeweils 8 Monaten. Die Gesamtfreiheitsstrafe wurde ausgehend von der höchsten Einzelstrafe (Umgang mit Kokain) auf insgesamt drei Jahre festgesetzt.
Bereits am 19.02.2007 beantragte die Ehefrau des Klägers für sich und die beiden gemeinsamen Kinder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II. Im Antrag wurde, abgesehen von einem gebrauchten Pkw, keinerlei Vermögen angegeben. Das Kindergeld betrug 308,- Euro (zwei mal 154,- Euro). Aus der selbständigen Tätigkeit (Nagelstudio) wurden im Jahr 2007 Einnahmen i.H.v. monatlich 156,85 Euro erzielt.
Ausgehend von einem monatlichen Bedarf der Ehefrau und Kinder von etwa 1.405,- Euro (Regelleistungen, Mehrbedarf Alleinerziehen und ca. 520,- Euro für Unterkunft und Heizung) wurden ab 19.02.2007 unter Anrechung von Einkommen fortlaufend Leistungen bewilligt und für die Ehefrau Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung, sozia...