Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzweigung des Kindergeldes zu Gunsten des Sozialhilfeträgers
Leitsatz (NV)
- Übernimmt ein Sozialhilfeträger im Rahmen der Eingliederungshilfe die gesamten Kosten für die vollstationäre Unterbringung eines behinderten volljährigen Kindes, kann er die Abzweigung des Kindergeldes in voller Höhe für sich beanspruchen, wenn der Kindergeldberechtigte keinerlei Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes oder die Kontaktpflege mit dem Kind trägt.
- Die Höhe des abzuzweigendes Kindergeldes wird durch die in § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG in der ab 2002 geltenden Fassung getroffenen Regelung über den Übergang des Unterhaltsanspruchs gegen die Eltern nicht auf nur monatlich 26 € beschränkt.
- Das der Familienkasse bei der Entscheidung über die Abzweigung grundsätzlich zustehende Ermessen ist angesichts der besonderen Umstände dieses Sachverhalts auf Null reduziert.
Normenkette
EStG 2002 § 74 Abs. 1; BSHG § 91 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) gewährt der im Jahre 1964 geborenen, zu 100 v.H. schwerbehinderten und seit dem Jahre 1987 in einer Einrichtung für Behinderte vollstationär untergebrachten M Eingliederungshilfe in Höhe von ca. 2 600 € monatlich. Die Eltern der M, die zu ihrer Tochter keinen Kontakt unterhalten, leisteten keinen Unterhaltsbeitrag.
Der zum Verfahren beigeladene Vater der M (im Folgenden auch: der Beigeladene) bezieht eine Altersrente, die im Jahr 2002 monatlich 803,48 € betrug und nach Abzug der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 736,79 € ausbezahlt wurde.
Mit Bescheid vom 4. März 2002 setzte der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) auf Antrag des Beigeladenen Kindergeld fest und verfügte, dass ab Januar 2002 das Kindergeld in Höhe von 154 € an den Kläger auszuzahlen sei, da der Beigeladene seiner Unterhaltspflicht gegenüber seiner Tochter nicht nachkomme. Mit Bescheid vom 23. Mai 2002 reduzierte der Beklagte den an den Kläger abzuführenden Betrag auf 26 € monatlich. Er begründete dies mit der Änderung des § 91 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), wonach vom Unterhaltspflichtigen nur noch Unterhalt in Höhe von monatlich 26 € verlangt werden könne. Das restliche Kindergeld in Höhe von 128 € wird seitdem an den Beigeladenen ausbezahlt. Der Beigeladene wird ab dem 1. Januar 2002 zu einem Kostenbeitrag von 26 € herangezogen.
Nach erfolglosem Einspruch beantragte der Kläger, den Beklagten zu verpflichten, das Kindergeld für M ab dem 1. Mai 2002 in voller Höhe an ihn abzuzweigen. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es entschied, die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für eine Abzweigung gemäß § 74 des Einkommensteuergesetzes (EStG) seien im Streitfall erfüllt, da der Beigeladene mangels Leistungsfähigkeit seiner Tochter M gegenüber nicht zum Unterhalt verpflichtet sei.
Die vom Beklagten getroffene Entscheidung, nur Kindergeld in Höhe von monatlich 26 € abzuzweigen, sei ermessensfehlerhaft. Bei der Bemessung der Höhe des abzuzweigenden Kindergeldes sei nicht ausschließlich auf § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG in der ab dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung der Art. 15 Nr. 17, Art. 68 Abs. 7 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) vom 19. Juni 2001 (BGBl I 2002, 1046, 1112, 1139) und der Art. 27 Nr. 3, Art. 56 Abs. 2 des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze vom 27. April 2002 ―im Folgenden: BSHG n.F.― (BGBl I 2002, 1467, 1475, 1481) abzustellen. Denn diese Vorschrift diene ausschließlich der Verwaltungsvereinfachung und habe keine Auswirkungen auf bestehende Unterhaltsverpflichtungen der Eltern. Die Begrenzung des Übergangs des Unterhaltsanspruchs gegen die Eltern auf 26 € sei deshalb für die Frage, in welchem Umfang Kindergeld abzuzweigen sei, nicht ausschlaggebend. Aufgrund der besonderen Umstände des Streitfalles sei das Ermessen des Beklagten in der Weise auf Null reduziert, dass der Kläger einen Anspruch auf Abzweigung des Kindergeldes für M in voller Höhe habe. Der Beigeladene habe seit Jahren keinen Kontakt zu seiner Tochter und trage keine Aufwendungen für deren Versorgung und Betreuung. Die Aufwendungen für die vollstationäre Unterbringung würden, soweit die eigenen Einkünfte der Tochter nicht ausreichten, in vollem Umfang vom Kläger getragen. Soweit der Sozialleistungsträger wegen der Leistungsunfähigkeit des Kindergeldberechtigten allein für den Unterhalt eines behinderten Kindes aufkomme und eine Eltern-Kind-Beziehung nicht mehr bestehe, sei es angemessen, das Kindergeld an den Sozialleistungsträger auszuzahlen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2003, 1396 veröffentlicht.
Der Beklagte rügt mit seiner Revision die Verletzung des § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. i.V.m. § 74 Abs. 1 EStG.
Er beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass der Tatbestand des § 74 Abs. 1 EStG erfüllt und aufgrund einer sog. Ermessensreduktion auf Null allein die Entscheidung, das Kindergeld in einer weiteren Höhe von 128 € an den Kläger auszuzahlen, ermessensgerecht i.S. des § 5 der Abgabenordnung (AO 1977) ist.
1. Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung kann das für ein Kind nach § 66 Abs. 1 EStG festgesetzte Kindergeld u.a. an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG kann diese Auszahlung auch dann erfolgen, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.
a) Im Streitfall ist der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3, 1. Alternative EStG erfüllt, dass der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist. Denn der Kläger und der Beklagte haben die Entscheidung des FG, dass der kindergeldberechtigte Beigeladene wegen der geringen Höhe seiner Einkünfte nach zivilrechtlichen Grundsätzen nicht unterhaltspflichtig ist (vgl. § 1603 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ―BGB―), nicht beanstandet. Da der Beigeladene auch keinen Unterhalt für seine Tochter leistet, sondern für deren Unterhalt der Kläger aufgekommen ist, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG für die Ermessensentscheidung erfüllt, ob eine Auszahlung an die Stelle erfolgen kann, die den Unterhalt gewährt.
b) Die Vorinstanz hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass im Streitfall für das Rechtsfolgeermessen des Beklagten eine Ermessensreduktion auf Null dahin gehend eingetreten ist, dass allein die Auszahlung des festgesetzten Kindergeldes an den Kläger ermessensfehlerfrei ist. Nach § 5 AO 1977 hat die Finanzbehörde das ihr eingeräumte Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Der erkennbare Zweck des § 74 Abs. 1 EStG liegt darin, dass dann, wenn der Kindergeldberechtigte keine Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes trägt, das Kindergeld nicht ihm, sondern entweder dem Kind oder aber demjenigen zugute kommen soll, der dem Kind tatsächlich Unterhalt gewährt. Dieser Zweck kann im Streitfall nur dadurch erreicht werden, dass das Kindergeld an den Kläger ausgezahlt wird. Denn der Kläger kommt für den Unterhalt der Tochter auf, während der kindergeldberechtigte Beigeladene keine Aufwendungen trägt. Es ist unstreitig, dass der Beigeladene keinen Unterhaltsbeitrag leistet und seit Jahren auch keinen Kontakt mehr zu seiner Tochter unterhält, so dass ihm auch keine Kosten für die Kontaktpflege entstehen. Tatsächlich hat der Beigeladene auch keine Einwendungen gegen die ihm übersandte Abzweigungsverfügung vom 4. März 2002 und gegen die Auszahlung des Kindergeldes an den Kläger erhoben.
2. An dem Ergebnis, dass weitere 128 € an den Kläger auszuzahlen sind, ändert sich auch nichts dadurch, dass der Kläger den Beigeladenen gemäß § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. auf Zahlung eines Betrags in Höhe von 26 € monatlich in Anspruch genommen hat.
a) Nach dieser Vorschrift ist abweichend von den Sätzen 1 und 2 bei Kindern nach Vollendung des 18. Lebensjahres, die Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege in vollstationären Einrichtungen erhalten, davon auszugehen, dass der Unterhaltsanspruch gegen die Eltern in Höhe von monatlich 26 € übergeht. Diese Fiktion des Übergangs eines bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruchs soll eine Einkommens- und Vermögensprüfung bei unterhaltspflichtigen Eltern entbehrlich machen (vgl. BTDrucks 14/5800, S. 35; 14/5786, S. 2). In der Literatur wird zutreffend darauf hingewiesen, dass nach der Systematik des Gesetzes diese Pauschalabgeltung erst dann zum Tragen kommen könne, wenn ein Unterhaltsanspruch dem Grunde nach bestehe. Denn zuerst sei zu prüfen, ob nach § 91 Abs. 1 BSHG überhaupt ein zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch gegeben sei, der übergeleitet werden könne. Erst daran schließe sich die Frage an, ob eine Härte nach Abs. 2 vorliege (vgl. Schaefer/Wolf in Fichtner, Bundessozialhilfegesetz, Kommentar, 2. Aufl., 2003, § 91 Rz. 47; Günter, Nachrichtendienst des Vereins für öffentliche und private Fürsorge ―NDV― 2002, 363).
Letztlich kann diese Frage aber offen bleiben. Denn selbst wenn man unterstellt, dass die Inanspruchnahme des Beigeladenen in Höhe von 26 € gemäß § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. trotz des Fehlens einer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht rechtmäßig gewesen ist, wäre das Begehren des Klägers auf Auszahlung eines weiteren Betrages in Höhe von 128 € gerechtfertigt. Dies gilt unabhängig davon, ob der Beigeladene in Höhe von 26 € seine ―hier unterstellte― Unterhaltspflicht verletzt hat, weil er keine Zahlung geleistet hat, oder ob man annähme, dass der Beigeladene mit der Auszahlung des Betrages von 26 € monatlich an den Kläger denjenigen Unterhaltsanspruch erfüllt, dessen Übergang auf den Kläger gemäß § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. fingiert wird. Denn in beiden Fällen wäre die Auszahlung des im vorliegenden Verfahren allein umstrittenen Betrages von 128 € zulässig. Bei Verletzung der Unterhaltspflicht wäre der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 4 EStG erfüllt. Anderenfalls lägen die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Satz 3, 2. Alternative i.V.m. Satz 4 EStG vor. Danach kann das Kindergeld auch dann an eine andere Person oder Stelle als den Kindergeldberechtigten ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Dies träfe hier zu. Denn eine ―zivilrechtlich nicht bestehende― Unterhaltspflicht des Beigeladenen als Folge des § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. könnte allenfalls in Höhe des als übergegangen fingierten Betrages von 26 € unterstellt werden. Dann aber bräuchte der Beigeladene weniger Unterhalt zu leisten als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld von insgesamt 154 € monatlich (vgl. § 66 Abs. 1 EStG), so dass der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3, 2. Alternative i.V.m. Satz 4 EStG für die Ermessensentscheidung des Beklagten über die Auszahlung des Kindergeldes an den Kläger erfüllt wäre.
b) Wegen der tatsächlichen Besonderheiten des Streitfalles wäre unter Berücksichtigung des Zwecks des § 74 Abs. 1 EStG nur die Entscheidung des Beklagten ermessensgerecht, das Kindergeld in Höhe des weiteren Betrages von 128 € an den Kläger auszuzahlen. Insoweit gelten die Ausführungen oben unter 1.b) sinngemäß, weil dem Beigeladenen über den Betrag von 26 € hinaus keine Aufwendungen für seine Tochter entstanden wären.
Fundstellen
Haufe-Index 1167260 |
BFH/NV 2004, 1447 |
BStBl II 2006, 130 |
BFHE 2005, 1 |
BB 2004, 1950 |
DB 2004, 1919 |
DStRE 2004, 1343 |
HFR 2004, 1110 |