Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträglich bekanntgewordene Tatsachen im Falle der Schätzung
Leitsatz (NV)
1. Nachträglich bekanntgewordene Tatsachen, die zu einer Steuerminderung führen, liegen nach einer vorangegangenen Gewinnschätzung dann vor, wenn sich aus der Gesamtwürdigung der Tatsachen eine niedrigere Steuer ergibt.
2. Ein Steuerpflichtiger handelt in der Regel grob schuldhaft i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, wenn er seiner Steuererklärungspflicht nicht nachkommt.
3. Eine Ermittlung der abziehbaren Vorsteuern (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1973) durch Schätzung kommt nicht in Betracht. Im Falle der Schätzung des Umsatzes sind Umsatzsteuer und Vorsteuerbetrag keine einheitliche Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO 1977.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1; UStG 1973 § 15 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) unterhielt im Streitjahr 1979 ein Unternehmen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erließ gegen sie Schätzungsbescheide über Einkommensteuer und Umsatzsteuer 1979. Nach Bestandskraft der Bescheide legte die Klägerin Steuererklärungen vor. Eine Änderung der Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) lehnte das FA jedoch mit der Begründung ab, die Klägerin treffe hinsichtlich des nachträglichen Bekanntwerdens der Besteuerungsgrundlagen ein grobes Verschulden.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verpflichete das FA zur Änderung der Bescheide, weil nachträglich weitere Einnahmen und damit steuererhöhende Tatsachen, gleichzeitig aber auch steuermindernde Tatsachen (Mehrbeträge an Betriebsausgaben und Vorsteuern) bekanntgeworden seien, die miteinander im Zusammenhang stünden. Die Klägerin habe zwar die ihr günstigen Tatsachen grob schuldhaft erst nachträglich vorgebracht; darauf komme es jedoch nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 nicht an. Denn zwischen den durch die Steuererklärungen bekanntgewordenen steuererhöhenden Tatsachen (höhere Betriebseinnahmen, höhere Umsatzsteuer) und steuermindernden Tatsachen (höhere Betriebsausgaben, höhere Vorsteuerbeträge) habe ein Zusammenhang bestanden.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung von § 173 Abs. 1 AO 1977.
Es beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist teilweise begründet. Sie führt hinsichtlich der Einkommensteuer zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage; die Voraussetzungen für eine Änderung der Schätzungsbescheide zugunsten der Klägerin nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 liegen insoweit nicht vor. Im übrigen ist die Revision unbegründet.
1. Steuerbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen erst nachträglich bekanntwerden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit steuererhöhenden neuen Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 stehen.
Das Begehren der Klägerin auf Änderung der Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide 1979 ist nicht schon - wie das FA meint - deshalb unbegründet, weil es letztlich zu einer niedrigeren Einkommensteuer und Umsatzsteuer führen würde, bei einer Änderung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 steuermindernde Tatsachen aber nur bis zur steuerlichen Auswirkung der steuererhöhenden Tatsachen zu berücksichtigen seien. Letzteres trifft nicht zu. Vielmehr wirken sich die steuermindernden Tatsachen auch im Rahmen der genannten Vorschrift ohne Rücksicht auf das Unterschreiten bisher festgesetzter Steuerbeträge aus (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 2. August 1983 VIII R 190/80, BFHE 139, 123, BStBl II 1984, 4).
2. Den Anträgen der Klägerin kann aber in der Einkommensteuersache aus anderen Gründen nicht stattgegeben werden. Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Ob eine nachträglich bekanntgewordene Tatsache zu einer niedrigeren Steuer führt, hängt davon ab, von welchen Tatsachen bisher bei der Besteuerung ausgegangen worden ist. Dabei ergeben sich Besonderheiten, wenn die Steuerfestsetzung auf der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen beruht. Da der Besteuerung in einem solchen Fall kein bestimmter Tatsachenstoff zugrunde liegt, läßt sich nicht sagen, daß ein neu bekanntgewordener Vorgang zu den bisher berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen hinzutrete und das steuerliche Ergebnis in bestimmter Weise verändere. Vielmehr kann erst nach Kenntnis aller den Veranlagungszeitraum berührenden Vorgänge und ihrer steuerlichen Auswirkungen gesagt werden, ob die bisher festgesetzte Steuer zu erhöhen oder zu ermäßigen ist. Deshalb liegen nach einer vorangegangenen Gewinnschätzung nachträglich bekanntgewordene Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, nur dann vor, wenn sich aus der Gesamtwürdigung der Tatsachen eine niedrigere Steuer ergibt (BFH-Urteil vom 28. März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120).
Im Streitfall können daher die nachträglich getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht in solche zerlegt werden, die eine höhere Einkommensteuer zur Folge haben, und andere, die zu einer niedrigeren Einkommensbesteuerung führen. Dies gilt auch, soweit die festgestellten Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben von den früher angenommenen abweichen. Ob § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zur Anwendung kommt, ergibt sich vielmehr erst aus dem gemeinsamen Ergebnis von Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben, das vorliegend zu einem geringeren als dem ursprünglich geschätzten Gewinn und damit zu einer geringeren Steuer führt (Urteil in BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120).
Aus der Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall folgt, daß die Änderung des Einkommensteuerbescheids 1979 vom FA zu Recht abgelehnt worden ist und die dagegen erhobene Klage abgewiesen werden muß. Der Gewinn der Klägerin aus dem Unternehmen wurde für das Streitjahr auf 28 831 DM geschätzt. Tatsächlich hat die Klägerin jedoch einen Verlust von 4 310 DM erwirtschaftet. Darin liegt unbeschadet der Abweichung bei den Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben lediglich eine rechtserhebliche neue Tatsache, die zu einer niedrigeren Einkommensteuer führt.
Der Einkommensteuerbescheid 1979 konnte jedoch nach § 179 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 nicht geändert werden, weil die Klägerin am nachträglichen Bekanntwerden des tatsächlich erzielten Gewinns (Verlusts) ein grobes Verschulden trifft. Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn er die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (Urteil des BFH vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Ein grobes Verschulden kann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige seine Erklärungspflicht schlecht erfüllt, indem er unzutreffende oder unvollständige Erklärungen abgibt (Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324; vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2, und vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693). Es besteht insbesondere auch dann, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht überhaupt nicht nachkommt (BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120).
Das FG ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Klägerin grob schuldhaft gehandelt hat, weil es ihr trotz der bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten möglich gewesen sei, wegen der ergangenen Aufforderung zur Abgabe einer Steuererklärung mit dem FA Verbindung aufzunehmen; statt dessen sei sie untätig geblieben und habe die Besteuerungsgrundlagen erst nach Ergehen von - bestandskräftigen - Schätzungsbescheiden erklärt. Dies stellt eine Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse des Streitfalls dar, die revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist und den Senat deshalb bindet (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Das grobe Verschulden der Klägerin ist im Streitfall auch nicht aufgrund der Regelung in § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift ist das grobe Verschulden des Steuerpflichtigen unschädlich, wenn die ihm günstigen Tatsachen in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit anderen Tatsachen stehen, die zu einer höheren Steuer führen. Ein solcher Zusammenhang zwischen Tatsachen, die zu einer höheren, und Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, liegt dann vor, wenn der steuererhöhende Vorgang nicht ohne den steuermindernden Vorgang denkbar ist (Urteil in BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall schon deshalb nicht erfüllt, weil - wie bereits ausgeführt - hinsichtlich des geschätzten Gewinns nur eine Tatsache im Sinne dieser Bestimmung gegeben ist. Danach liegt im Streitfall bei der Einkommensteuerfestsetzung keine Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Sätze 1 und 2 AO 1977 vor, die zu einer höheren Steuer führt.
3. Anders als bei der Schätzung in der Einkommensteuersache kann in der Umsatzsteuersache im Falle einer Schätzung die ermittelte Umsatzsteuer und die ermittelte Vorsteuer nicht als eine Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AO 1977 angesehen werden. Es handelt sich vielmehr insoweit um je eine Tatsache i. S. dieser Vorschrift. Der Vorsteuerbetrag ist eine unselbständige Besteuerungsgrundlage (BFH-Urteil vom 30. September 1976 V R 109/73, BFHE 120, 562, BStBl II 1977, 227) und einer Schätzung grundsätzlich nicht zugänglich (BFH-Urteil vom 12. Juni 1986 V R 75/78, BFHE 146, 569, BStBl II 1986, 721). Im Streitfall ist der in der Umsatzsteuererklärung enthaltene Vorsteuerbetrag höher als die im Umsatzsteuerbescheid angesetzte Vorsteuer. Er stellt eine steuermindernde Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 dar. Wenn auch die Klägerin an dem nachträglichen Bekanntwerden dieser Tatsache grobe Fahrlässigkeit trifft, so ist der Umsatzsteuerbescheid 1979 dennoch zu ändern. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 ist das Verschulden unbeachtlich, wenn die steuermindernde Tatsache in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit einer steuererhöhenden Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 steht. Diese Voraussetzungen hat das FG im Streitfall festgestellt. Es ist zutreffend davon ausgegangen, daß ein Zusammenhang i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 zwischen einer steuermindernden Tatsache (höhere Vorsteuerbeträge) und einer steuererhöhenden Tatsache (auf die höheren Umsätze der Klägerin entfallende höhere Umsatzsteuer) bestehe.
Fundstellen