Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankheitsbegriff. Verfahrensmangel. Beweisantrag. Schluss der mündlichen Verhandlung
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs. 1 S. 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
2. Ist ein Prozessbeteiligter rechtskundig vertreten, gilt sein schriftsätzlich während des Verfahrens gestellter Beweisantrag nur dann als bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten, wenn er als solcher zur Niederschrift der mündlichen Verhandlung wiederholt oder im Urteil des LSG erwähnt wird.
Normenkette
SGG §§ 103, 109, 116 S. 2, § 118 Abs. 1 S. 1, § 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 160a Abs. 2 S. 3, § 169 S. 3; SGB V § 27 Abs. 1 S. 1, § 27a Abs. 3 S. 1, § 28 Abs. 1 S. 1; ZPO §§ 397, 402, 411 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. März 2018 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte, 1953 geborene Kläger ist bei Adipositas und vorausgegangener penisverkürzender Operation zur Behandlung einer Induratio penis plastica mit seinem Begehren, ihn mit einer operativen Haut-Pexie der symphysären Fettschürze mit Lösung des Penisschaft-Ligaments mit zusätzlichem "Mons-Pubis-Lift" bei der Beklagten und in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das LSG hat zur Begründung ua ausgeführt, eine funktionelle Störung des Penis unter den Gesichtspunkten Größe, Rigidität, Tumeszenz und Ejakulation liege nicht vor. Die Adipositas sei durch eine Gewichtsreduktion zu behandeln, psychische Beeinträchtigungen mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie. Die Voraussetzungen einer Entstellung seien auch nicht erfüllt. Die vom Kläger geltend gemachte Unfähigkeit, Geschlechtsverkehr mit seiner Frau ausüben zu können, begründe auch keinen Anspruch, denn die Voraussetzungen des § 27a SGB V seien schon in Ansehung seines Lebensalters nicht erfüllt (Urteil vom 21.3.2018).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG; dazu 1.) und des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG; dazu 2.).
1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Der Kläger richtet sein Vorbringen hieran nicht aus.
Der Kläger formuliert als Rechtsfrage,
"ob die Einschränkung oder der Ausschluss der Nutzbarkeit einer sonst funktionstüchtigen Körperfunktion unter der Berücksichtigung ihrer Gesamtwürdigung doch unter den Begriff des krankhaften Zustandes nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung fällt"?
Der erkennende Senat lässt offen, ob der Kläger damit eine Rechtsfrage klar formuliert hat. Der Kläger zeigt jedenfalls die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage auch dann nicht auf, wenn er geklärt wissen will, ob die Aufhebung oder Einschränkung der Fähigkeit eines Mannes zum Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit einer Frau trotz ausreichender Erektionsfähigkeit eine behandlungsbedürftige Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung darstellt, wenn diese Beeinträchtigung auf besonderen morphologischen Umständen beruht - hier kurzer Penis bei sehr ausgeprägtem Fettgewebe im Bereich des Schambeins (concealed penis) - und durch eine Operation beseitigt werden kann. Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage fehlt, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rspr keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt" ist (vgl zB BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - Juris RdNr 7 mwN). Der Kläger hätte sich deshalb in der Beschwerdebegründung damit auseinandersetzen müssen, wieso unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rspr zum krankenversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff (§ 27 Abs 1 S 1, § 28 Abs 1 S 1 SGB V) noch Klärungsbedarf verblieben ist. Die Beschwerdebegründung genügt diesen Anforderungen nicht. Der Kläger setzt sich nicht ansatzweise mit der Rspr des BSG zum krankenversicherungsrechtlichen Begriff der Krankheit auseinander. Er zitiert nur höchstrichterliche Rspr zum Beginn der Behandlungsbedürftigkeit.
Soweit der Kläger meint, § 27a Abs 3 S 1 SGB V sei verfassungswidrig, legt er schon nicht dar, wieso eine insoweit formulierte Rechtsfrage entscheidungserheblich sein könnte, obwohl sein Klagebegehren nicht die Versorgung mit einer künstlichen Befruchtung zum Gegenstand hat.
2. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36). Daran fehlt es.
Der Kläger rügt, das LSG hätte von Amts wegen den (nach § 109 SGG bestellten) Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung laden müssen, weil die Angaben des Gutachters dazu, ob der sozialrechtliche Krankheitsbegriff erfüllt sei, ungenügend seien. Dieses Vorbringen genügt nicht den dargestellten gesetzlichen Voraussetzungen. Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss insbesondere einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen (stRspr, vgl zB BSG Beschluss vom 20.7.2010 - B 1 KR 29/10 B - RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 1.3.2011 - B 1 KR 112/10 B - Juris RdNr 3 mwN; BSG Beschluss vom 14.10.2016 - B 1 KR 59/16 B - Juris RdNr 5). Hierzu gehört die Darlegung, dass ein - wie hier - anwaltlich vertretener Beteiligter im Verfahren formelle Beweisanträge gestellt hat, die er vor der abschließenden Entscheidung des LSG bei den Schlussanträgen zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat (vgl zB BSG Beschluss vom 14.6.2005 - B 1 KR 38/04 B - Juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 25.10.2017 - B 1 KR 18/17 B - Juris RdNr 7). Ist ein Prozessbeteiligter rechtskundig vertreten, gilt sein schriftsätzlich während des Verfahrens gestellter Beweisantrag nur dann als bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten, wenn er als solcher zur Niederschrift der mündlichen Verhandlung wiederholt oder im Urteil des LSG erwähnt wird (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Der Tatsacheninstanz soll dadurch nämlich vor Augen geführt werden, dass der Betroffene die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 67; BSG Beschluss vom 10.4.2006 - B 1 KR 47/05 B - Juris RdNr 9 mwN; BSG Beschluss vom 1.2.2013 - B 1 KR 111/12 B - RdNr 8). Daran fehlt es. Der Kläger benennt bereits keinen Beweisantrag, den er bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt oder aufrechterhalten hätte. Er selbst verweist nur auf die Amtsermittlungspflicht. Er greift letztlich in rechtlich unbeachtlicher Weise (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nur die Beweiswürdigung des LSG an, indem er ausführt, das LSG habe - ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung zum Krankheitsbegriff - die durch das Gutachten von Dr. S. bestätigte Funktionseinschränkung nicht beachtet.
Soweit dem Vorbringen des Klägers sinngemäß (auch) die Rüge einer Gehörsverletzung in Form der Verletzung seines Fragerechts nach § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO zu dem schriftlichen Gutachten des nach § 109 SGG bestellten Sachverständigen Dr. S. zu entnehmen sein sollte (zu dieser Form der Ausprägung des rechtlichen Gehörs vgl zB BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 2 RdNr 4; BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - SGb 2000, 269; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand Oktober 2018, § 116 Anm 1c), bezeichnet der Kläger keine Umstände, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen. Der Kläger legt schon nicht dar, dass er überhaupt einen entsprechenden Antrag iS von § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO beim LSG gestellt hat.
3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13041585 |