Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Überraschungsentscheidung. kein absoluter Revisionsgrund. Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung
Orientierungssatz
1. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör iS einer Überraschungsentscheidung liegt dann vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrenslauf nicht zu rechnen braucht (vgl BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 = BVerfGK 19, 377 und BSG vom 27.9.2011 - B 4 AS 42/11 B).
2. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt (vgl § 202 SGG iVm § 547 ZPO), sodass die Möglichkeit einer Beeinflussung der ergangenen Gerichtsentscheidung durch den Gehörsverstoß gegeben sein muss (vgl BSG vom 27.9.2011 - B 4 AS 42/11 B aaO).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 62 Hs. 1, § 202 S. 1; ZPO § 547; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 07.05.2015; Aktenzeichen L 9 AS 304/12) |
SG Hannover (Urteil vom 22.12.2011; Aktenzeichen S 5 AS 4319/10) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 7. Mai 2015 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der Kläger beantragte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit ab Mai 2010. Nach einer erfolglosen Aufforderung, den Antragsvordruck vollständig auszufüllen und keine Streichungen vorzunehmen (Schreiben vom 26.4.2010), lehnte der Beklagte den Antrag wegen fehlender bzw nicht nachgewiesener Hilfebedürftigkeit ab (Bescheid vom 10.11.2010; Widerspruchsbescheid vom 27.1.2011). Die auf Zahlung von Leistungen nach dem SGB II gerichtete Klage blieb erfolglos (Urteil des SG Hannover vom 22.12.2011). Zur Begründung der Berufung hat der Kläger zunächst auf seinen Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren, auf ein durchgeführtes einstweiliges Rechtsschutzverfahren und auf die Amtsermittlungspflicht des Gerichts hingewiesen. Der Berichterstatter des LSG hat den Kläger zu einer Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung gemäß § 153 Abs 4 S 1 SGG angehört (Schreiben vom 6.1.2015). Im Anhörungsschreiben wird ausgeführt, das Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren sei nicht geeignet, Zweifel an der Rechtmäßigkeit des ausführlichen und detaillierten Urteils des SG aufkommen zu lassen. Der Kläger hat daraufhin die Bewilligung von PKH unter Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt, die Berufung weiter begründet und zudem auf einen Beweisantrag aus dem erstinstanzlichen Verfahren verwiesen, der ausdrücklich aufrechterhalten werde (Schreiben vom 12.2.2015).
Ohne Weiteres zu veranlassen hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen und gleichzeitig den Antrag auf Bewilligung von PKH für das Berufungsverfahren abgelehnt (Beschluss vom 7.5.2015). Zur Begründung hat es ausgeführt, das SG habe den Beklagten im Ergebnis zu Recht nicht zur Gewährung von Leistungen verurteilt, weil es sich bei dem angefochtenen Bescheid vom 10.11.2010 um einen Versagensbescheid iS von § 66 Abs 1 S 1 SGB I gehandelt habe. Es liege lediglich der äußeren Form nach eine Sachentscheidung vor. Die Voraussetzungen für eine Versagung seien gegeben, weil der Kläger den ihn treffenden Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen sei. Es werde hinreichend deutlich, dass die Beklagte die "Ablehnung" auf eine fehlende Mitwirkung des Klägers gestützt habe. Über den Antrag auf Bewilligung von PKH, der mangels Erfolgsaussichten abzuweisen sei, habe nicht vor der Entscheidung über die Berufung entschieden werden müssen, weil der Antrag erst im Anschluss an die Anhörung zur Entscheidung durch Beschluss gestellt worden sei.
Gegen die Nichtzulassung der Revision durch das LSG wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde und macht Verfahrensfehler geltend. Er rügt eine Verletzung des § 153 Abs 4 SGG und in der Folge eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts ohne ehrenamtliche Richter, weil das LSG die von ihm beabsichtigte Auslegung des angefochtenen Bescheides als Versagensbescheid verschwiegen und über den PKH-Antrag nicht vor dem angefochtenen Beschluss entschieden habe. Zudem hätte das LSG die Anhörungsmitteilung erneuern und - ausgehend von seiner rechtlichen Auffassung - die Leistungsklage als unzulässig zurückweisen müssen, also ohne eine sachliche Entscheidung hierüber zu treffen. Verletzt sei auch sein Anspruch auf rechtliches Gehör, denn er sei verfahrensfehlerhaft zu keinem Zeitpunkt vom LSG auf den neuen rechtlichen Gesichtspunkt hingewiesen worden. Bei Gewährung rechtlichen Gehörs hätte er ausgeführt, dass ein Versagensbescheid nachweislich von der Beklagten nicht gewollt gewesen sei und auch rechtswidrig gewesen wäre. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass bei Berücksichtigung seines Vorbringens das LSG zu einer anderen für ihn günstigeren Beurteilung des streitgegenständlichen Bescheides gekommen wäre.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg (§ 160a Abs 5 SGG).
Die Beschwerde ist zulässig, denn der Kläger hat Verfahrensmängel, insbesondere eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG), hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 S 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
Die Beschwerde ist auch begründet, denn die Entscheidung des LSG hat als Überraschungsentscheidung den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) verletzt und kann auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Eine Überraschungsentscheidung in diesem Sinne liegt dann vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen braucht (vgl nur BVerfG ≪Kammer≫ vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - BVerfGK 19, 377 RdNr 18 mwN; BSG vom 27.9.2011 - B 4 AS 42/11 B - RdNr 9; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 62 RdNr 8b).
So liegt der Fall hier. Das LSG hat in seiner Anhörungsmittteilung vom 6.1.2015 zunächst ausgeführt, es habe keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des ausführlichen und detaillierten Urteils des SG, was darauf hindeutet, dass es auch die rechtliche Argumentation des SG für zutreffend hält und sich dieser anzuschließen gedenkt. Tatsächlich hat das LSG dann aber - abweichend von der Rechtsauffassung des SG - den angefochtenen Bescheid als Versagensbescheid angesehen, der zulässig nur mit einer Anfechtungsklage angegriffen werden könne. Dies stellt einen bisher nicht erörterten, überraschenden rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt dar, mit dem der Kläger - zudem dieser zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht fachkundig vertreten war - nicht zu rechnen brauchte, und mit dem er auch nicht gerechnet hat, wie seinem Hinweis im Schreiben von 12.2.2015 auf einen nicht vorliegenden Versagensbescheid zu entnehmen ist. Überraschend ist die Rechtsauffassung des LSG auch deshalb, weil sie keine Entscheidung über die vom Kläger gleichzeitig mit der Anfechtungsklage erhobenen Leistungsklage, die das SG ebenfalls abgewiesen hatte, zulässt, sodass zweifelhaft erscheint, ob der Streitgegenstand vom LSG vollständig erfasst wurde.
Die Rechtmäßigkeit eines Versagensbescheids hängt - wie die Beschwerde zutreffend dargelegt hat - von anderen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen ab, sodass deshalb die fehlende Möglichkeit des Klägers, sich hierzu äußern zu können, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
Auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs kann die Entscheidung des LSG beruhen. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt (vgl § 202 SGG iVm § 547 ZPO), sodass die Möglichkeit einer Beeinflussung der ergangenen Gerichtsentscheidung durch den Gehörsverstoß gegeben sein muss (vgl BSG vom 27.9.2011 - B 4 AS 42/11 B - RdNr 12; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 RdNr 23). Diese Möglichkeit besteht vorliegend, denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG aufgrund des differenzierten klägerischen Vortrags den angefochtenen Bescheid als Ablehnungs- statt Versagensbescheid wertet, die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen zur Hilfebedürftigkeit des Klägers sieht und in der Folge zu einer dem Kläger günstigeren Entscheidung gelangt.
War die Revision damit bereits wegen der Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör durch die Entscheidung des LSG zuzulassen, bedürfen die weiteren vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen keiner Erörterung.
Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen