Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache. sozialrechtliches Kindergeld. Kindergeld für sich selbst. Kindergeldberechtigung von Kindern mit Eltern im Ausland. Unmöglichkeit des Elternnachzugs nach Deutschland. Geltendmachung einer verfassungswahrenden Analogie. Gleichheitssatz. Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Darlegungsanforderungen
Orientierungssatz
1. Hält der Beschwerdeführer einer Nichtzulassungsbeschwerde die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob Kinder von im Ausland lebenden Eltern vom Kindergeldbezug ausgeschlossen sind, wenn die Eltern nicht durch Einreise in die Bundesrepublik die Voraussetzungen für die Zahlung von Kindergeld nach dem BKGG 1996 oder EStG erfüllen können, so muss er die Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der Frage im Einzelnen darlegen.
2. Im Hinblick auf eine vermeintlich gebotene verfassungswahrende Analogie ist es insoweit erforderlich, darzutun, dass eine wortlautgetreue Auslegung des § 1 Abs 2 S 1 Nr 2 BKGG 1996 zu verfassungswidrigen Ergebnissen führte. Hierzu ist unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG und des BSG insbesondere aufzuzeigen, dass der Gesetzgeber bei einer solchen Auslegung die gesetzlichen Grenzen seines Gestaltungsspielraums überschritten und in unzulässiger Weise verletzt hat (vgl BSG vom 18.11.2021 - B 9 V 17/21 B).
Normenkette
BKGG § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2; BKGG 1996 § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2; SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. August 2022 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. In dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit hat das LSG mit Urteil vom 26.8.2022 einen Anspruch des 1999 in Syrien geborenen und 2015 als minderjährigen unbegleiteten Flüchtling nach Deutschland eingereisten Klägers auf Kindergeld für sich selbst (§ 1 Abs 2 Bundeskindergeldgesetz ≪BKGG≫) verneint. Zur Begründung hat sich das LSG die Gründe des vorausgegangenen Gerichtsbescheids zu eigen gemacht. Darin hat das SG die Klage abgewiesen, weil der Kläger entgegen § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG weder Vollwaise sei noch den Aufenthalt seiner Eltern nicht kenne. Er habe sie an ihrem Wohnort in der Türkei besucht und habe regelmäßigen Kontakt zu ihnen (Gerichtsbescheid vom 15.2.2022). Zudem nahm das LSG Bezug auf die Gründe seines Beschlusses vom 23.9.2021 über die Beschwerde des Klägers gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz. Dort hat es eine auf Art 3 Abs 1 GG gestützte erweiternde Auslegung des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG abgelehnt, weil die in dieser Norm genannten Gruppen "Vollwaisen" und "Kinder, die den Aufenthalt ihrer Eltern nicht kennen" einerseits und die Gruppe der "Kinder, deren Eltern oder Elternteile im Ausland leben" andererseits, Gruppen mit erheblichen Unterschieden im Hinblick auf die Familienkonstellation seien.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt und mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Der Kläger hat den von ihm allein geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht in der danach vorgeschriebenen Weise dargelegt.
Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 8.3.2021 - B 9 BL 3/20 B - juris RdNr 14; BSG Beschluss vom 2.5.2017 - B 5 R 401/16 B - juris RdNr 6).
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Der Kläger misst der Frage grundsätzliche Bedeutung zu, |
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"ob § 1 (…) Abs. 2 BKGG Kinder von im Ausland lebenden Eltern vom Bezug des Kindergeldes ausschließt, wenn bei diesen Eltern von vorne herein ausgeschlossen ist, dass sie durch einen Wohnsitzwechsel nach Einreise die Voraussetzungen für die Zahlung von Kindergeld nach dem BKGG oder EStG erfüllen können." |
Hierzu führt er aus, die Frage sei klärungsbedürftig, denn sie sei durch das BSG noch nicht entschieden. Die Antwort ergebe sich nicht zweifelsfrei aus dem Gesetz. Vielmehr werfe die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, aber auch die partiell für andere Regelungsbereiche ergangene Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit und des BVerfG Auslegungszweifel auf. So habe das BSG bereits mit Urteil vom 5.5.2015 (B 10 KG 1/14 R - BSGE 119, 33 = SozR 4-5870 § 1 Nr 4) festgehalten, dass nach den Motiven des Gesetzgebers das sozialrechtliche Kindergeld nach § 1 Abs 2 BKGG dazu diene, die Belastungen, die mit einem Status als Vollwaise oder alleinlebendes Kind einhergingen, anzuerkennen. Hätte der damals zuständige Bundestagsausschuss auch nur annähernd die Situation von größtenteils minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen antizipiert wie sie 2015 aufgetreten sei, wären auch Kinder, denen die im Ausland lebenden Eltern keine Unterstützung gäben und die die Elternstelle nie wieder einnehmen könnten, in den Kreis der Berechtigten aufgenommen worden. Dies sei auch aus Gleichbehandlungsgesichtspunkten von Verfassungs wegen und aufgrund internationaler Abkommen geboten. Die Frage sei in einem anschließenden Revisionsverfahren auch klärungsfähig. Denn das BSG sei in der Lage, über die Rechtsfrage sachlich zu entscheiden, weil sie im konkreten Rechtsstreit entscheidungserheblich sei.
Es kann dahinstehen, ob der Kläger damit eine hinreichend konkrete Rechtsfrage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht aufgeworfen und in den weiteren Ausführungen den vom Revisionsgericht erwarteten klärenden Schritt ausreichend konkret dargelegt hat. Jedenfalls hat er - die Qualität als Rechtsfrage unterstellt - die Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit dieser Frage nicht den nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG diesbezüglich geltenden Anforderungen genügend dargelegt.
Hinsichtlich der Klärungsbedürftigkeit versäumt es der Kläger, im Einzelnen auf die Voraussetzungen der von ihm angestrebten verfassungskonform erweiternden Auslegung oder aus Gründen des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsanspruchs gebotenen analogen Anwendung (vgl zur Methodik BSG Urteil vom 19.2.2009 - B 10 KG 2/07 R - SozR 4-5870 § 1 Nr 2 RdNr 19 ff) des § 1 Abs 2 BKGG einzugehen (vgl zu diesem Erfordernis BSG Beschluss vom 16.11.2020 - B 10 EG 7/20 B - juris RdNr 9). So räumt der Kläger selbst ein, dass der Wortlaut des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG einem Kindergeldanspruch für Kinder von Eltern, deren Aufenthaltsort im Ausland bekannt ist, entgegensteht. Zu den Voraussetzungen einer deshalb allein in Frage kommenden Analogie deutet er zwar an, der Gesetzgeber habe die 2015 aufgetretene Situation einer erheblichen Zahl von minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen nicht antizipiert. Jedoch fehlen Ausführungen dazu, dass dem Gesetzgeber das Phänomen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nicht bereits früher bekannt war (vgl zum Fall eines 1989 eingereisten minderjährigen Asylbewerbers BSG Urteil vom 25.7.1995 - 10 RKg 13/93 - juris), ohne dies zum Anlass für eine von der Kenntnis um den Aufenthaltsort der Eltern unabhängige Einbeziehung in den Kreis der Anspruchsberechtigten zu nehmen.
Darüber hinaus versäumt es der Kläger, wie zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit in Hinblick auf eine vermeintlich gebotene verfassungswahrende Analogie erforderlich, darzutun, dass eine wortlautgetreue Auslegung des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG zu verfassungswidrigen Ergebnissen führte. Hierzu ist unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG und des BSG insbesondere aufzuzeigen, dass der Gesetzgeber bei einer solchen Auslegung die gesetzlichen Grenzen seines Gestaltungsspielraums überschritten und in unzulässiger Weise verletzt hat (vgl BSG Beschluss vom 18.11.2021 - B 9 V 17/21 B - juris RdNr 9 mwN). Eine solche substantiierte Erörterung bezogen auf die vom Kläger als potentiell verletzt angesehene verfassungsrechtliche Norm (Art 3 Abs 1 GG) lässt die Beschwerdebegründung vermissen.
Schließlich hat der Kläger auch die Klärungsfähigkeit der formulierten Frage nicht dargelegt. Die Beschwerdebegründung lässt durchgängig offen, welche der darin mitgeteilten Tatsachen vom LSG im angegriffenen Urteil festgestellt worden sind. Nur solche Tatsachen können aber einer Entscheidung des BSG in der angestrebten Revision zugrunde gelegt werden. Insbesondere wird nicht mitgeteilt, welche Feststellungen das LSG in Bezug (Un-)Möglichkeit der Eltern des Klägers getroffen hat, durch einen Wohnsitzwechsel und eine Einreise nach Deutschland die Voraussetzungen für die Zahlung von Kindergeld nach dem BKGG oder dem Einkommensteuergesetz (EStG) zu erfüllen. Die Unmöglichkeit eines solchen Verhaltens hat der Kläger jedoch zum Ausgangspunkt der von ihm formulierten Frage gemacht. Ohne die Angabe der vom LSG festgestellten Tatsachen ist der Senat nicht in der Lage, wie erforderlich, allein aufgrund der Beschwerdebegründung die Entscheidungserheblichkeit einer Rechtsfrage zu beurteilen (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 5.11.2020 - B 10 EG 5/20 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 29.7.2019 - B 13 R 250/18 B - juris RdNr 13, jeweils mwN).
Dass der Kläger die Entscheidung des LSG inhaltlich für unrichtig hält, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 6.7.2022 - B 10 EG 2/22 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).
Die Bitte des Klägers um einen richterlichen Hinweis für den Fall, dass "der Senat an der einen oder anderen Stelle Ergänzungen oder Erläuterungen für notwendig“ erachte, kann nicht dazu führen, dass von einer Entscheidung über die nicht formgerecht begründete Beschwerde zunächst abzusehen wäre. Denn es besteht keine Verpflichtung des Senats, den anwaltlich vertretenen Kläger vor einer Entscheidung über seine Beschwerde auf Mängel der Beschwerdebegründung hinzuweisen. Das Gesetz unterstellt, dass ein Rechtsanwalt in der Lage ist, die Formerfordernisse einzuhalten; gerade dies ist ein Grund für den Vertretungszwang des § 73 Abs 4 SGG(vgl BSG Beschluss vom 20.5.2022 - B 10 ÜG 1/22 B - juris RdNr 19; BSG Beschluss vom 17.6.2019 - B 5 R 92/19 B - juris RdNr 12) .
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. |
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Kaltenstein |
Othmer |
Mecke |
Fundstellen
Dokument-Index HI16155078 |