Entscheidungsstichwort (Thema)
Bezeichnung eines Verfahrensmangels. Nichtberücksichtigung beigezogener Akten
Orientierungssatz
Die Feststellung, daß der Inhalt beigezogener Akten zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden ist, gehört nicht zu den für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, deren Einhaltung und Nichteinhaltung nur durch die Sitzungsniederschrift bewiesen werden kann (§ 122 SGG iVm § 165 ZPO). Deshalb muß zur Bezeichnung eines Verstoßes gegen § 62 SGG iVm § 124 Abs 1, § 128 Abs 2 SGG dargetan werden, daß entweder die Beiziehung der im Urteil berücksichtigten Akten überhaupt nicht bekanntgegeben worden oder jedenfalls deren Inhalt in der mündlichen Verhandlung nicht erwähnt worden ist.
Normenkette
SGG § 122; ZPO § 165; SGG §§ 62, 124 Abs 1, § 128 Abs 2, § 160a Abs 2 S 3
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 20.09.1988; Aktenzeichen L 2 An 72/86) |
Gründe
Die allein auf Verfahrensmängel gestützte Beschwerde der Klägerin ist unzulässig. Sie genügt nicht den gesetzlichen Formerfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die 1912 geborene, aus Hamburg stammende Klägerin, die als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt ist, war 1937 nach Südafrika ausgewandert. Nach Aufenthalt in der Bundesrepublik zwischen 1963 bis 1968 hat sie ihren Wohnsitz in Australien genommen und hat von dort aus im Jahre 1977 - erfolglos - die Auszahlung ihres Altersruhegeldes nach Australien gemäß § 99 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in der bis 31. Mai 1979 geltenden Fassung des 20. RAG vom 27. Juni 1977 (BGBl I 1040 - aF) betrieben (rechtskräftiges Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 7. Mai 1980). Das seit 1982 betriebene Verfahren, mit dem die Klägerin ua Überprüfung und Korrektur des früheren Ruhensbescheides begehrt, ist in den Vorinstanzen ebenfalls ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat die begehrte Neufeststellung und Rentenzahlung in das Ausland aufgrund des § 99 Abs 1 AVG aF mit der Begründung abgelehnt, daß sich die Klägerin von 1963 bis 1968 nicht nur vorübergehend wieder im Geltungsbereich des AVG aufgehalten und dadurch ihr verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt geendet habe. Dabei hat sich das LSG hinsichtlich der Frage des gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin im Bundesgebiet ua auf verschiedene Angaben der Klägerin und ihres Ehemannes gestützt, die in den beigezogenen Wiedergutmachungsakten und Ausländerakten beider Ehegatten sowie den Einbürgerungsakten der Klägerin enthalten sind.
Die Klägerin stützt ihre Beschwerde vornehmlich auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Sie behauptet zunächst, die vorgenannten Akten seien nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlungen vom 1. Dezember 1987 und 20. September 1988 gewesen, und beruft sich zur Begründung dafür auf die beiden Verhandlungsprotokolle, in denen diese Akten weder aufgeführt noch als Gegenstand der mündlichen Verhandlung bezeichnet worden seien. Damit ist den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG hinsichtlich der "Bezeichnung" eines Verfahrensmangels nicht genügt. Die Feststellung, daß der Inhalt beigezogener Akten zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden ist, gehört nicht zu den für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, deren Einhaltung und Nichteinhaltung nur durch die Sitzungsniederschrift bewiesen werden kann (§ 122 SGG iVm § 165 der Zivilprozeßordnung -ZPO-). Deshalb hätte zur Bezeichnung eines Verstoßes gegen § 62 SGG iVm § 124 Abs 1, § 128 Abs 2 SGG dargetan werden müssen, daß entweder die Beiziehung der im Urteil berücksichtigten Akten überhaupt nicht bekanntgegeben worden oder jedenfalls deren Inhalt in der mündlichen Verhandlung nicht erwähnt worden sei. Daran fehlt es. Die Klägerin räumt selbst ein, daß ihr die Beiziehung der streitigen Akten bereits vor der mündlichen Verhandlung mitgeteilt worden ist, und bestreitet auch nicht, daß sich die mündliche Verhandlung überhaupt auf diese Akten bezogen hat. Das könnte sie auch nicht mit Erfolg bestreiten, weil jedenfalls im Tatbestand des Urteils des LSG die streitigen Akten namentlich mit dem ausdrücklichen Bemerken aufgeführt worden sind, daß sie Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen seien.
Aber auch soweit die Klägerin eine Verletzung des § 62 SGG damit begründet, es sei während der mündlichen Verhandlung unbekannt geblieben, welche einzelnen Erkenntnisse und Tatsachen das LSG aus den beigezogenen Akten für oder gegen die Klägerin entnehmen wollte, genügt dies nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Eine Verletzung des § 62 SGG hätte nach Lage der Sache nur darauf gestützt werden können, daß ihr keine Möglichkeit gegeben worden ist, von der Beiziehung und dem Inhalt der beigezogenen Akten Kenntnis zu nehmen. Hatte die Klägerin - wie sie selbst einräumt - die Möglichkeit der Akteneinsichtnahme, und ist ihrem Bevollmächtigten (bzw dessen Unterbevollmächtigtem) die Akteneinsicht sogar tatsächlich gewährt worden, begründet es jedenfalls keinen Verstoß gegen § 62 SGG, wenn das Gericht in der mündlichen Verhandlung nicht erörtert, welche einzelnen Tatsachen und Erkenntnisse es aus den beigezogenen Akten für oder gegen die Klägerin zu entnehmen gedenkt. Dazu ist das Gericht ohnehin nicht verpflichtet; denn es würde bei einem solchen Vorgehen in eine - unzulässige - vorgezogene Beweiswürdigung eintreten, die es erst nach mündlicher Verhandlung in geheimer Beratung durchführen darf. Aber auch soweit mit dem genannten Vorbringen sinngemäß gerügt wird, daß die Darstellung des Sachverhalts oder die Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten hinsichtlich bestimmter Einzelheiten in den Akten jedenfalls unzureichend gewesen sei (§ 112 Abs 1 Satz 2 und Abs 2 Satz 2 SGG) oder daß die Klägerin über rechtserhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht unterrichtet worden sei (§ 128 Abs 2, § 107 SGG), ist der Bezeichnungspflicht des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht genügt. Es hätte dargelegt werden müssen, daß derartige Fehler nicht gemäß § 202 SGG iVm § 295 ZPO geheilt worden sind (vgl BSGE 4, 60, 64/65). Eine Verletzung von Verfahrensvorschriften wie der vorgenannten kann jedenfalls insoweit, als ihre Nichtbefolgung - wie im vorliegenden Fall - nach Lage der Sache nicht zugleich eine Verletzung des § 62 SGG bedeutet, nicht mehr gerügt werden, wenn der Beteiligte in der mündlichen Verhandlung auf ihre Einhaltung verzichtet oder ihre Verletzung nicht gerügt hat, obwohl er erschienen war und ihm die mangelhafte Anwendung bekannt war oder bekannt sein mußte. Auch dazu enthält die Beschwerdebegründung nichts. Zu entsprechenden Darlegungen hätte schon deshalb Anlaß bestanden, weil die Klägerin schon im Berufungsverfahren sachkundig - durch ihren jetzigen Prozeßbevollmächtigten - vertreten und diesem aufgrund der vorinstanzlichen Entscheidung bekannt war, daß es für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts auf die gesamten Umstände des Falles und damit auch auf den Inhalt der beigezogenen Akten ankommen werde. Deshalb hätte der Bevollmächtigte der Klägerin die (angeblich) fehlende oder jedenfalls unzureichende Erörterung des Akteninhalts rügen oder von sich aus darlegen können, welche der darin enthaltenen Angaben seiner Ansicht nach für die Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt werden dürften. Im übrigen begründet es keinen Verstoß gegen § 62 SGG, wenn das Gericht bei der Darstellung des Sachverhalts bzw der Erörterung der Sach- und Rechtslage nicht auf jeglichen entscheidungserheblichen Umstand hinweist, der sich aus den beigezogenen Akten ergibt, insbesondere wenn der Beteiligte - wie hier - in diese Akten Einsicht genommen hatte und damit rechnen mußte, daß deren Inhalt für die Entscheidung erheblich sein könnte.
Auch soweit die Klägerin einen angeblichen Verstoß gegen Denkgesetze rügt, ist ihre Beschwerde unzulässig. Die Verletzung von Erfahrungssätzen oder von Denkgesetzen bei der Ermittlung des Sachverhalts bedeutet nach ständiger Rechtsprechung ein Überschreiten der Grenzen, die der freien richterlichen Beweiswürdigung gezogen sind. Daraus kann kein Zulassungsgrund iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG hergeleitet werden. Nach dieser Vorschrift ist zwar die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die Entscheidung beruhen kann; nach dem 2. Halbsatz dieser Bestimmung kann jedoch der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden. In dieser Regelung ist bestimmt, daß das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet. Ist dieser Regelung auch der Verstoß gegen Denkgesetze zuzuordnen, kann hierauf eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden (BSG SozR 1500 § 160 Nr 26). Aber selbst dann, wenn dem nicht gefolgt würde, könnte die Beschwerde nicht zum Erfolg führen. Denn ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt nicht schon dann vor, wenn das Gericht - wie in der Beschwerdebegründung behauptet - unzutreffende bzw "nicht nachvollziehbare" Folgerungen in der Weise gezogen hat, daß es von mehreren möglichen Folgerungen eine für richtig gehalten hat. Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt vielmehr nur dann vor, wenn aus dem festgestellten Sachverhalt nur eine Schlußfolgerung gezogen werden kann, mithin jede andere - also auch die, welche das Gericht tatsächlich gezogen hat - nicht denkbar ist (vgl Meyer-Ladewig, SGG, § 128 Anm 12 mwN). Die Beschwerdebegründung hat insoweit weder behauptet noch näher dargelegt, daß das LSG schlechthin unmögliche Schlußfolgerungen gezogen hat.
Nach allem war die Beschwerde der Klägerin als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen