Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Beweisantrag im Rahmen eines Rentenverfahrens. zusammenfassendes Gutachten
Orientierungssatz
1. Der Beweisantrag im Rahmen eines Rentenverfahrens muss sich möglichst präzise mit dem Einfluss dauerhafter Gesundheitsbeeinträchtigungen auf das verbliebene Leistungsvermögen befassen.
2. Je mehr Aussagen von Sachverständigen oder sachverständigen Zeugen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen eingehen. Liegen bereits mehrere Gutachten zum Gesundheitszustand und - daraus herleitend - zum verbliebenen Leistungsvermögen vor und hat sich dadurch schon ein gewisses Leistungsbild manifestiert, bedarf es besonderer Angaben, weshalb die Einholung eines weiteren Gutachtens erforderlich ist.
Normenkette
SGB 6 § 43 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2; SGG §§ 103, 118 Abs. 1 S. 1, § 124 Abs. 2, § 160 Abs. 2 Nrn. 2-3, § 160a Abs. 2 S. 3, § 163; ZPO § 403
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.09.2014; Aktenzeichen L 2 R 4242/12) |
SG Konstanz (Gerichtsbescheid vom 01.10.2012; Aktenzeichen S 8 R 3093/10) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. September 2014 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Das LSG Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 17.9.2014 einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung verneint.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin beim BSG Beschwerde eingelegt. Sie macht eine Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend.
Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Beschwerdebegründung vom 23.12.2014 genügt den gesetzlichen Anforderungen nicht, weil sie die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht ordnungsgemäß dargetan hat (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Divergenz nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung des LSG nicht den Kriterien entspricht, die eines der vorgenannten Gerichte aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass die angefochtene Entscheidung auf der Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet das vorstehend Gesagte: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher in der Entscheidung des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die oberstgerichtliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, vgl zum Ganzen: BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 17; Nr 10 RdNr 4; SozR 1500 § 160a Nr 67 S 89 f; Nr 14 S 22).
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Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin trägt vor, das LSG weiche von der Entscheidung des BSG vom 10.12.2003 (B 5 RJ 24/03 R - SozR 4-1500 § 128 Nr 3) ab. In diesem Urteil heiße es: |
"1. |
Werden Gutachten verschiedener medizinischer Fachrichtungen eingeholt, ist ein Gutachter mit fachübergreifenden zusammenfassenden Einschätzung der quantitativen und qualitativen Leistungsfähigkeit, auch mit Blick auf die ins Auge gefassten Verweisungstätigkeiten, zu beauftragen, falls nicht auszuschließen ist, dass sich die festgestellten Leistungseinschränkungen aus Sicht der jeweiligen Fachgebiete überschneiden und ggf. potenzieren können. |
2. |
Das Gericht überschreitet die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung, wenn es - ohne Darlegung der eigenen Sachkompetenz - diese Gesamtbeurteilung selbst vornimmt." |
Hiervon weiche das LSG ab, indem es lediglich separat die orthopädischen Beschwerden und im Anschluss an die neurologisch-psychiatrischen aufführe und diese letztlich unabhängig voneinander dahingehend würdige, dass eine Erwerbsunfähigkeit oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht bestünden.
Mit diesem Vorbringen hat die Klägerin eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG nicht dargelegt. Es fehlt bereits an der Bezeichnung eines divergierenden abstrakten Rechtssatzes aus dem Urteil des LSG. Auch legt die Klägerin keine Abweichung des Berufungsgerichts im Grundsätzlichen von einem in Frage gestellten Rechtssatz des BSG dar. Vielmehr rügt sie im Kern die - vermeintliche - Unrichtigkeit der Rechtsanwendung durch Verkennung höchstrichterlich entwickelter Maßstäbe in ihrem konkreten Einzelfall. Ihr Beschwerdevortrag geht daher über eine unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus.
2. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
a) Wird - wie vorliegend - ein Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) gerügt, muss die Beschwerdebegründung hierzu folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen und zur weiteren Sachaufklärung drängen müssen, (3) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (4) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf einer angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme von seinem Standpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (zum Ganzen s BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 18 RdNr 8).
Zudem kann ein - wie hier - in der Berufungsinstanz rechtsanwaltlich vertretener Beteiligter nur dann mit der Rüge des Übergehens eines Beweisantrags gehört werden, wenn er diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung durch entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten hat oder das Gericht den Beweisantrag in seinem Urteil wiedergibt (stRspr, vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Denn nur dann hätte nach Sinn und Zweck des § 160 Abs 2 Nr 3 letzter Teils SGG ein Beweisantrag die Warnfunktion dahingehend erfüllt, dass ein Beteiligter die Sachaufklärungspflicht des Gerichts (§ 103 SGG) noch nicht als erfüllt ansieht (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21; Nr 31 S 52). Wird ein Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entschieden, tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt der Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG (BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 3 S 4 f).
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Die Klägerin trägt vor, sie habe folgenden Antrag auf Einholung eines "Zusammenhangsgutachtens" im Schriftsatz vom 12.4.2013 bis zuletzt aufrechterhalten. Konkret heiße es dort wie folgt: |
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"Insgesamt scheint die Tendenz sämtlicher ärztlicher Gutachten und Berichte zu sein, dass eine Erwerbsfähigkeit jedenfalls fraglich ist, allerdings nicht ausreichend erklärt werden kann. |
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Für die Erwerbsunfähigkeit ist aber nicht die medizinische Erklärung der jeweiligen Beschwerden, sondern das reine Vorliegen, relevant. |
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Es wird daher beantragt, ein zusammenfassendes Gutachten über sämtliche Berichte und Gutachten, die bisher vorliegen, einzuholen. Eine medizinische Auseinandersetzung mit sämtlichen vorliegenden Erkenntnissen scheint im vorliegenden Fall unbedingt nötig zu sein." |
Hiermit hat sie jedoch keinen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag (iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG iVm § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 403 ZPO) bezeichnet. Der Sachverständigenbeweis wird nach § 403 ZPO durch die Bezeichnung der zu begutachtenden Punkte angetreten. Die Klägerin verkennt, dass sich der Beweisantrag im Rahmen eines Rentenverfahrens möglichst präzise mit dem Einfluss dauerhafter Gesundheitsbeeinträchtigungen auf das verbliebene Leistungsvermögen befassen muss. Je mehr Aussagen von Sachverständigen oder sachverständigen Zeugen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen eingehen (Fichte, SGb 2000, 653, 656). Liegen bereits mehrere Gutachten zum Gesundheitszustand und - daraus herleitend - zum verbliebenen Leistungsvermögen vor und hat sich dadurch schon ein gewisses Leistungsbild manifestiert, bedarf es besonderer Angaben, weshalb die Einholung eines weiteren Gutachtens erforderlich ist (vgl Fichte, aaO). Hierfür muss der Beschwerdeführer gezielt zusätzliche Einschränkungen auf das verbliebene (quantitative und/oder qualitative) Leistungsvermögen durch weitere - oder (ggf auch in ihrem Zusammenwirken) anders zu beurteilende - dauerhafte Gesundheitsbeeinträchtigungen "behaupten" und möglichst genau bezeichnen ("dartun"). Daran fehlt es. Die schlichte Behauptung der Klägerin, eine zusätzliche medizinische Auseinandersetzung mit "sämtlichen" vorliegenden Erkenntnissen aus "sämtlichen" ärztlichen Berichten und Gutachten erscheine "im vorliegenden Fall unbedingt nötig", reicht nicht aus.
Überdies legt die Beschwerdebegründung weder in nachvollziehbarer Weise den festgestellten Sachverhalt (§ 163 SGG) noch die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts (und dessen Feststellungen zum quantitativen und qualitativen Leistungsvermögen der Klägerin) dar, sodass auch nicht aufgezeigt ist, dass die angefochtene Entscheidung - ausgehend von der materiellen Rechtsansicht des LSG - auf der unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann. Eine Pflicht des Tatsachengerichts, bei der Einholung mehrerer Gutachten von Seiten verschiedener medizinischer Fachrichtungen immer einen - in der Regel den letzten - Sachverständigen zusätzlich mit der Gesamtbeurteilung aller bereits vorliegenden Gutachtensergebnisse zu beauftragen, besteht nämlich allenfalls dann, wenn sich die aus der Sicht der Fachgebiete jeweils festgestellten Defizite überschneiden und ggf potenzieren (BSG aaO - SozR 4-1500 § 128 Nr 3 RdNr 22; BSG Beschluss vom 12.2.2009 - B 5 R 48/08 B - Juris RdNr 9; Senatsbeschluss vom 5.9.2013 - B 13 R 203/13 B - Juris RdNr 12). Der Beschwerdebegründung lässt sich zwar entnehmen, dass vorliegend Sachverständigengutachten unterschiedlicher Fachgebiete eingeholt worden sind. Aus dem Vortrag erschließt sich jedoch nicht hinreichend, dass hier ein derartiger Grenzfall vorliegt, in dem eine Gesamtbeurteilung der in den gehörten Fachdisziplinen festgestellten Leistungseinschränkungen durch einen (weiteren) Sachverständigen geboten sei. Es wird nicht substantiiert dargetan, welche jeweils vom LSG festgestellten Defizite aus den jeweiligen Fachgebieten sich überschneiden oder ggf sich sogar potenzieren. Allein die bloße Behauptung der Klägerin, dass "im Zusammenspiel zwischen orthopädischen und neurologisch-psychiatrischen Beschwerden eine Minderung der Erwerbsfähigkeit" vorliege, reicht nicht.
Schließlich ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht, dass die Klägerin trotz Erklärung des Einverständnisses gemäß § 124 Abs 2 SGG auf einer Durchführung der beantragten Beweisaufnahme "beharrt" hätte. Denn nur dann gelten zuvor schriftsätzlich gestellte Beweisanträge als nicht erledigt. Jedenfalls einem in der Berufungsinstanz durch einen Rechtsanwalt vertretenen Beteiligten, der vorbehaltlos sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil erklärt, muss klar sein, dass das Gericht ohne weitere Sachaufklärung entscheiden kann (stRspr, zB BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 3 S 5). Sofern die Klägerin behauptet, der oben zitierte Antrag aus ihrem Schriftsatz vom 12.4.2013 sei auf S 5 des LSG-Urteils wiedergegeben, trifft dies nicht zu. Auf der von ihr in der Beschwerdebegründung ausdrücklich in Bezug genommenen Seite findet er sich nicht. Vielmehr erschöpfen sich die dortigen Ausführungen des LSG in der Darstellung des Berufungsvorbringens der Klägerin, ohne den behaupteten Antrag wiederzugeben.
b) Soweit die Klägerin eine Verletzung rechtlichen Gehörs darin sieht, dass das LSG trotz der Ausführungen und ihres Antrags im Schriftsatz vom 12.4.2013 kein "Zusammenhangsgutachten" eingeholt habe, liegt hierin keine Gehörs-, sondern eine Sachaufklärungsrüge. Deren Darlegungsanforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung - wie oben ausgeführt - nicht. Die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Sachaufklärungsrüge können nicht dadurch umgangen werden, dass der Vorhalt unzureichender Sachaufklärung in der Gestalt einer Gehörsrüge geltend gemacht wird (Senatsbeschluss vom 3.12.2012 - B 13 R 351/12 B - Juris RdNr 12; BSG Beschluss vom 28.9.2010 - B 5 R 202/10 B - BeckRS 2010, 74248 RdNr 11 mwN).
Dass die Klägerin mit dem Ergebnis der Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) des LSG nicht einverstanden ist, ist für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unerheblich. Denn nach der ausdrücklichen Regelung des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann hierauf eine Verfahrensrüge nicht gestützt werden.
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen