Leitsatz (amtlich)
1. Sind die Voraussetzungen des SGG § 126 erfüllt und entschließt sich das Gericht, nach Lage der Akten zu entscheiden, so unterbleibt die in SGG § 112 vorgesehene Darstellung des Sachverhalts; das Urteil wird nicht verkündet, sondern nach SGG § 133 zugestellt.
2. Wird das Urteil trotzdem in dem für die mündliche Verhandlung anberaumten Termin auch verkündet, so wird dadurch das vorangegangene ordnungsmäßige Verfahren nicht mehr berührt; die Verkündung macht weder nachträglich die Darstellung des Sachverhalts notwendig noch ist sie ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, in dem die Entscheidung nach Lage der Akten ergeht.
Normenkette
SGG § 112 Abs. 1 S. 2, §§ 126, 133
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. November 1966 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Altersruhegeldes, das die Klägerin seit dem 1. Juli 1961 bezieht. Sie begehrt noch die Berücksichtigung ihrer Ausbildungszeit von 1911 bis 1926 als Ausfallzeit sowie die rentensteigernde Anrechnung von weiteren 60 Beiträgen der Klasse II zu 4,50 DM, die in der nach ihrer Darstellung am 6. Oktober 1958 ausgestellten und später verlorengegangenen Angestelltenversicherungskarte Nr. 9 enthalten gewesen und zwischen dem 18. Oktober und 15. November 1958 für die Zeit von 1949 bis 1956 nachentrichtet und entwertet worden sein sollen. Das Sozialgericht (SG) Frankfurt hat ihre dahingehende Klage nach Vernehmung mehrerer Zeugen, nämlich der Verwaltungsangestellten W. F., E. V. und J. S. und der Stadtobersekretärin E. G. vom Versicherungsamt der Stadt Frankfurt/Main sowie der Schwestern der Klägerin, der Studienrätin M. S. und der Hausfrau F. M. geb. S. (Protokolle vom 18. Oktober 1963 und 16. Dezember 1964) und nach Beiziehung zweier Postauskünfte abgewiesen (Urteil vom 16. Dezember 1964). Es sei nicht erwiesen, daß eine weitere Versicherungskarte Nr. 9 mit 60 Beiträgen der Klasse II zu 4,50 DM bestanden habe und bei der Beklagten in Verlust geraten sei. Die geltend gemachte Ausfallzeit könne nicht rentensteigernd angerechnet werden, weil die Versichertenzeit der Klägerin nicht mindestens zur Hälfte mit Pflichtbeiträgen belegt sei. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Das Berufungsgericht hat sich der Auffassung des SG angeschlossen.
Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil vom 15. November 1966 die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Die Klägerin hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des SG Frankfurt vom 16. Dezember 1964 und des Bescheides vom 1. Juni 1961 die Beklagte zu verurteilen, bei der Berechnung des Altersruhegeldes weitere 60 Beiträge der Klasse II zu 4,50 DM und eine Ausfallzeit von Juli 1911 bis November 1926 zugrunde zu legen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Hessische LSG zurückzuverweisen.
Sie macht wesentliche Verfahrensmängel geltend, die ihre Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft machen sollen (Schriftsatz vom 13. März 1967). Als verletzt bezeichnet sie die Vorschriften der §§ 112 Abs. 1 Satz 2, 134, 136, 128 und 118 Abs. 2 SGG.
Die Klägerin meint, § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG sei dadurch verletzt, daß weder der Vorsitzende noch der Berichterstatter im Termin von 15. November 1966 den Sachverhalt dargestellt habe. Der Vertreter der Beklagten habe zwar in diesem Termin Entscheidung nach Lage der Akten beantragt, es habe aber doch eine mündliche Verhandlung stattgefunden, wie sich daraus ergebe, daß das Urteil im Termin verkündet und nicht etwa nur danach zugestellt worden sei. Deswegen habe das Gericht die Darstellung des Sachverhalts nicht unterlassen dürfen, wie das Bundessozialgericht (BSG) in dem Urteil vom 23. November 1966 - 11 RA 368/65 - entschieden habe.
Diese Angaben der Klägerin bezeichnen aber keinen wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts. Das Gericht konnte, da die Voraussetzungen der §§ 110, 126 SGG gegeben waren, nach Lage der Akten entscheiden. In dem für die mündliche Verhandlung anberaumten Termin kann der erschienene Beteiligte den Antrag auf Entscheidung nach Lage der Akten stellen, ehe der Vorsitzende oder der Berichterstatter den Sachverhalt darstellt; das Gericht kann auch vor dieser Darstellung sich zur Entscheidung nach Lage der Akten entschließen. Es genügt, wenn in dem für die mündliche Verhandlung anberaumten Termin nach Aufruf der Sache festgestellt wird, daß die Beteiligten ordnungsgemäß mit dem in § 110 SGG vorgeschriebenen Hinweis geladen worden sind, und daß die weiteren Voraussetzungen des § 126 SGG gegeben sind. Entschließt sich das Gericht, daraufhin nach Lage der Akten zu entscheiden, so unterbleibt die mündliche Verhandlung, und die Verkündung des Urteils wird durch die Zustellung ersetzt. § 126 SGG bestimmt gerade "etwas anderes" gegenüber § 124 Abs. 1 SGG, wonach das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung entscheidet. Von dieser Auffassung geht auch der überwiegende Teil des Schrifttums aus (vgl. Brackmann, Handbuch, der Soz Vers 6. Aufl. Bd. I S. 248 t bis 248 u II; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der SGb, Randziff. 8 bis 9 zu § 126 SGG; Hofmann-Schroeter, Anm. III zu § 126 SGG; Schur in ZfS 1958, 147; Baltruweit in ZfS 1962, 341; Cnyrims in ZfS 1962, 423). Die Revision beruft sich demgegenüber zu Unrecht auf das Urteil des ESG vom 25. November 1966 - 11 RA 368/65 = SGb 1967, 13 - DRV 1967, 174. In diesem Falle handelt es sich ebenso wie in den in SozR unter Nr. 5, 6 und 8 zu § 112 SGG wiedergegebenen Urteilen um solche, die gerade nicht nach Lage der Akten ergangen sind, so daß eine mündliche Verhandlung stattfinden und darin der Sachverhalt dargestellt werden mußte. Wenn in dem vorliegenden Berufungsverfahren in dem für die mündliche Verhandlung anberaumten Termin das Urteil auch verkündet worden ist, so besagt das nicht, daß entgegen den Angaben in der Niederschrift über den Termin und den Angaben im Urteil doch mündlich verhandelt worden sei. Die Verkündung eines nach Aktenlage ergangenen Urteils kann das vorangegangene ordnungsgemäße Verfahren nicht mehr beeinflussen; diese - zusätzliche - Verkündung ist weder ein wesentlicher Mangel des Verfahrens noch tritt sie an die Stelle der in jedem Falle notwendigen Zustellung des Urteils.
Zur Begründung ihrer weiteren Rüge, das LSG habe die §§ 134, 136 und 128 Abs. 1 SGG verletzt, gibt die Klägerin an, aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils sei nicht eindeutig zu entnehmen, welche Tatsachen nach Meinung des Berufungsgerichts hätten vorliegen müssen, um die von ihr begehrte Anrechnung weiterer Versicherungsbeiträge zu ermöglichen. Der eigene Vortrag der Klägerin ergibt aber, daß das Gericht sich mit allen ihren Behauptungen auseinandergesetzt hat, mit denen sie nachweisen wollte, daß sie weitere, von der Beklagten nicht angerechnete Versicherungsbeiträge entrichtet und die Karte mit den entsprechenden Beitragsmarken vorgelegt habe. Das Vorbringen der Klägerin bezeichnet daher keinen Verstoß gegen die von ihr als verletzt angesehenen Verfahrensvorschriften, es richtet sich allenfalls gegen den äußeren Aufbau und die sprachliche Fassung der Entscheidungsgründe.
Auch die Meinung der Klägerin, das Berufungsgericht habe seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts dadurch verletzt, daß es den Widerspruch zwischen der Auskunft des Postamts vom 4. und 9. Dezember 1964 nicht beachtet und auch nicht aufgeklärt habe, ist unbegründet. Die Klägerin übersieht, daß zwischen den beiden von ihr in der Revisionsbegründung erwähnten Auskünften der Post gar kein Widerspruch besteht, sondern daß die zweite Auskunft die erste nur ergänzt, und zwar dadurch, daß in ihr alle Arten von Beitragsmarken aufgeführt sind, die im Jahre 1958 für die Beitragsklasse II ausgegeben und verwendet wurden. Diese Auskunft läßt erkennen, daß die in der ersten Auskunft nicht näher bezeichnete Beitragsmarke über 4,50 DM nur für die Höherversicherung (alt) galt, also weder für die freiwillige Weiterversicherung noch für die Pflichtversicherung verwendet werden konnte. Das Berufungsgericht brauchte sich daher nicht zu weiteren Ermittlungen darüber gedrängt zu fühlen, ob in den letzten drei Monaten des Jahres 1958 Beitragsmarken über 4,50 DM für die freiwillige Weiterversicherung in der Klasse II erhältlich waren. Die ausführliche Auskunft des Postamts vom 9. Dezember 1964 ist in der Sitzung vom 16. Dezember 1964 in Anwesenheit der Klägerin verlesen worden (Bl. 150 R der Akten des SG und des LSG); die Klägerin hatte danach ausreichend Gelegenheit, sich zu der Auskunft und den daraus zu ziehenden Folgerungen zu äußern, wie sich aus ihren in der Niederschrift über die Sitzung vom 16. Dezember 1964 wiedergegebenen Ausführungen ergibt. Das rechtliche Gehör ist der Klägerin zu diesem Fragenkomplex also nicht verweigert worden.
Die Ausführungen der Klägerin, aus denen sich ergeben soll, daß das Berufungsgericht die seiner freien Beweiswürdigung vom Gesetz gezogenen Grenzen verletzt habe, bezeichnet keinerlei Tatsachen, die diesen Mangel ergeben könnten.
Das Gericht hat auch einander widersprechende Zeugenaussagen nach seiner eigenen Überzeugung zu würdigen; es hält sich durchaus in dem ihm gezogenen Rahmen, wenn es dabei erwägt, welche der Aussagen am ehesten mit den objektiven tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten übereinstimmt. Das hat es auch im vorliegenden Fall getan, wenn es bei der Beweiswürdigung berücksichtigt hat, daß im Oktober 1958 keine für die freiwillige Weiterversicherung bestimmte Beitragsmarken der Klasse II mit dem Wert von 4,50 DM erhältlich waren und daß in einer im Oktober 1958 ausgestellten Versicherungskarte keine Marken für die Zeit von 1949 an wirksam nachentrichtet werden konnten.
Das Gericht hat auch entgegen der Meinung der Klägerin nicht gegen § 118 Abs. 2 SGG verstoßen, indem es die von der Klägerin benannten Zeugen nicht beeidigt hat. Die Beeidigung von Zeugen ist im sozialgerichtlichen Verfahren eine Ausnahme und steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Wenn das Gericht - wie hier - auf die Beeidigung der Zeugen verzichtet hat, deren Aussagen in Widerspruch zu den Aussagen anderer Zeugen und den objektiven tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten standen, so folgt es nur der vom Gesetz selbst normierten besonderen Zurückhaltung in der Abnahme von Eiden.
Da aus dem gesamten Vorbringen der Klägerin in der Revisionsbegründung sich keine wesentlichen Mängel im Verfahren des Berufungsgerichts ergeben, ist ihre Revision nicht statthaft. Sie muß als unzulässig verworfen werden.
Es besteht kein Anlaß, der Beklagten die außergerichtlichen Kosten der Klägerin ganz oder zum Teil aufzuerlegen.
Fundstellen
Haufe-Index 7589210 |
BSGE, 151 |
MDR 1968, 958 |