Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung. Hinweis auf Beweiswürdigung
Orientierungssatz
1. Eine in verfahrensfehlerhafter Weise getroffene Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, wenn das LSG das vorhandene Beweisergebnis anders als das SG würdigt und im einzelnen darlegt, weshalb es sich von der Glaubwürdigkeit dieser Zeugen nicht zu überzeugen vermochte.
2. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor eine Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern.
Normenkette
SGG § 160 Abs 2 Nr 3, § 160a Abs 2 S 3, § 128 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 27.09.1988; Aktenzeichen L 5 U 58/88) |
Gründe
Die Klägerin ist mit ihrem Begehren, sie wegen der Folgen eines Unfalls vom 30. Juni 1977 aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigen, ohne Erfolg geblieben (Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 1981; zusprechendes Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 5. Februar 1988; klageabweisendes Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 27. September 1988). Das LSG vermochte nach dem Ergebnis einer nochmals durchgeführten Beweisaufnahme keine hinreichend sicheren Feststellungen darüber zu treffen, ob ein innerer Zusammenhang zwischen den Verletzungen der Klägerin (komplette Unterschenkelfraktur links) und ihrer versicherten Tätigkeit als Unternehmerin bestehe, weil offengeblieben sei, auf welche Weise sich die Klägerin die Verletzungen zugezogen habe. Nach dem nunmehr vorliegenden Beweisergebnis müsse sogar offenbleiben, ob der Hund der Klägerin an dem Unfallgeschehen überhaupt beteiligt gewesen sei.
Mit ihrer hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin als wesentlichen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör unter dem Gesichtspunkt einer Überraschungsentscheidung. Ferner habe das Gericht die Grenzen der Beweiswürdigung überschritten. Schließlich sei das LSG von einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen.
Die Beschwerde ist unzulässig. Sie entspricht nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 SGG festgelegten Form. Die Klägerin hat die Zulassungsgründe nicht schlüssig dargelegt (s BSG SozR 1500 § 160a Nr 24; BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 44).
Der Vorwurf der Klägerin, das LSG habe in verfahrensfehlerhafter Weise eine Überraschungsentscheidung getroffen, ist als Rüge iS von §§ 62, 112 Abs 2 Satz 2, 128 Abs 2 SGG (Verletzung rechtlichen Gehörs) aufzufassen. Die genannten Vorschriften sollen verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der die Beteiligten keine Veranlassung hatten, sich zu äußern. Dies gilt insbesondere, wenn ein Rechtsmittelgericht dem Rechtsstreit eine neue Wendung geben will, mit der die Beteiligten nicht zu rechnen brauchten (Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, § 62 RdNr 8). Der sich daraus ergebende Anspruch auf rechtliches Gehör und die dem entsprechenden Hinweispflichten des Gerichts beziehen sich jedoch nur auf erhebliche Tatsachen, die dem Betroffenen bislang unbekannt waren, und auf neue rechtliche Gesichtspunkte. Solche hat das LSG im vorliegenden Fall aber nicht in das Verfahren eingebracht. Die hier zunächst entscheidende Frage, auf welche Weise sich die Klägerin die Verletzungen zugezogen hatte, war bereits Gegenstand des Verwaltungs- und des erstinstanzlichen Verfahrens. Das LSG hat im Berufungsverfahren nochmals sowohl die Klägerin angehört als auch ihre Söhne und den geschiedenen Ehemann vernommen; es hat ferner noch einen weiteren Zeugen (den Unfallsachbearbeiter der Beklagten) vernommen. Beweisthema war der "Unfall der Klägerin vom 30. Juni 1977". Dabei war, wie sich aus der Niederschrift vom 27. September 1988 ergibt, Gegenstand der Vernehmung der Zeugen der Unfallhergang insgesamt, damit also auch die Frage, wie sich der Unfall ereignet hatte. Auf der Grundlage dieser Vernehmung hat sich dem LSG - im Gegensatz zum SG - ein anderes Bild geboten; es hatte durchgreifende Zweifel an der Glaubwürdigkeit der als Zeugen vernommenen Angehörigen der Klägerin. Dementsprechend hat es das vorhandene Beweisergebnis anders als das SG gewürdigt und im einzelnen dargelegt, weshalb es sich von der Glaubwürdigkeit dieser Zeugen nicht zu überzeugen vermochte.
Es gibt ferner keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor eine Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Angesichts des in § 128 Abs 1 Satz 1 SGG verankerten Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung müssen die Beteiligten deshalb damit rechnen, daß das Berufungsgericht eine von der ersten Instanz abweichende Überzeugung gewinnt (s Beschluß des Senats vom 31. Januar 1989 - 2 BU 127/88 -). Dies gilt hier um so mehr, als der Zeuge U. S. vor dem LSG von seiner früheren Aussage vor dem SG abgerückt war und aufgrund der zum Teil sich gegenseitig widersprechenden Aussagen der Angehörigen bereits der nur auf den Angaben der Klägerin beruhende Unfallhergang als solcher offen blieb.
Soweit die Klägerin die Beweiswürdigung angreift, ist dies von der Verfahrensrüge ausdrücklich ausgenommen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Ebensowenig ist die sachliche Unrichtigkeit eines Urteils Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7). Die in § 160 Abs 2 Nrn 1 bis 3 SGG genannten Zulassungsgründe sind erschöpfend aufgeführt und begrenzt.
Eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nur dann ausreichend begründet, wenn erklärt wird, mit welcher genau bestimmten, entscheidungserheblichen Aussage das angegriffene Urteil von welcher genau bestimmten Aussage des BSG oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160a Nrn 21, 29, 54). Eine Abweichung von der Entscheidung des Senats vom 27. Oktober 1987 - 2 RU 31/87 - ist schon deshalb nicht ausreichend dargetan, weil es bereits an der Herausstellung eines abweichenden Rechtssatzes des LSG fehlt. Die bloße Erklärung, das LSG habe sich von dem genannten Urteil "entfernt" und weiche "damit von diesem Urteil entscheidend" ab, reicht hierfür nicht aus.
Hiernach war die Beschwerde nicht geeignet, die Revision zu eröffnen; das Rechtsmittel ist zu verwerfen (§ 169 SGG). Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen