Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensmangel. Bezeichnung. Substantiierung. Verletzung der Amtsermittlungspflicht. Beweisantrag. Rechtliches Gehör. Beweiswürdigung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Verfahrensmangel ist im Sinne des § 160a Abs. 2 S. 3 SGG nur dann „bezeichnet”, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird.

2. Ein mit einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht geltend gemachter Verfahrensmangel kann hierauf nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

3. Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das Prozessgericht grundsätzlich nicht, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern.

4. Das Sichwenden gegen die Bewertung der aktenkundigen ärztlichen Zeugenaussagen, Befundberichte und Sachverständigengutachten und damit gegen die Beweiswürdigung durch das LSG kann nicht zulässiger Gegenstand der Rüge eines Verfahrensmangels sein.

 

Normenkette

SGG §§ 62, 103, 109, 124 Abs. 2, § 128 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 26.08.2020; Aktenzeichen S 1 SB 1918/17)

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.11.2021; Aktenzeichen L 8 SB 3067/20)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. November 2021 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger begehrt in der Hauptsache noch die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) für den Zeitraum vom 6.6.2013 bis 11.12.2019. Diesen Anspruch hat das LSG verneint. Es hat weitere Ermittlungen von Amts wegen in Übereinstimmung mit dem Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht für erforderlich gehalten, weil die vorliegenden ärztlichen Unterlagen zusammen mit den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten sachverständigen Zeugenaussagen die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelten (Urteil vom 17.11.2021).

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde und rügt Verfahrensmängel.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Der Kläger hat den von ihm allein geltend gemachten Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht ordnungsgemäß bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde wie im Fall des Klägers darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, das also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungspflicht) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung des Klägers nicht gerecht.

a) Es fehlt bereits an der erforderlichen zusammenhängenden und aus sich heraus verständlichen Darstellung der Verfahrens- und Prozessgeschichte sowie des vom LSG festgestellten Sachverhalts. Die Vorlage einer Kopie des angefochtenen Urteils reicht insoweit nicht aus (BSG Beschluss vom 26.5.2021 - B 13 R 219/20 B - juris RdNr 5 mwN). Denn "bezeichnet" iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG ist ein Verfahrensmangel nur dann, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird (BSG Beschluss vom 27.8.2018 - B 9 SB 1/18 B - juris RdNr 9 mwN).

b) Soweit der Kläger eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) rügt, erfüllt sein Vorbringen nicht die Darlegungsanforderungen an eine Sachaufklärungsrüge (vgl hierzu allgemein BSG Beschluss vom 29.9.2021 - B 9 SB 40/21 B - juris Nr 6). Der Kläger hat weder nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG Beweisanträge benannt noch aufgezeigt, dass er diese bis zuletzt aufrechterhalten hat. Wird ein Rechtsstreit - wie vorliegend - ohne mündliche Verhandlung entschieden, so tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt der Zustimmung zu einer Entscheidung nach § 124 Abs 2 SGG(vgl BSG, aaO, RdNr 8 mwN) . Der Kläger hat offensichtlich einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt, ohne Beweisanträge aufrechtzuerhalten. Vielmehr führt er in seiner Beschwerdebegründung selbst aus, dass für den vorherigen Prozessbevollmächtigten die Sach- und Rechtslage so klar gewesen sei, dass er es nicht für erforderlich gehalten habe, weitere Anträge zu stellen.

c) Soweit der Kläger schließlich rügt, das LSG habe wegen der fehlenden Auseinandersetzung mit dem Bericht des Orthopäden F vom 29.11.2018 und der Berücksichtigung von beratungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten den Grundsatz des fairen Verfahrens und den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt, so hat er auch hierzu die Darlegungsvoraussetzungen nicht erfüllt.

Eine Verletzung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, §§ 62 und 128 Abs 2 SGG) ist anzunehmen, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen mit einzubeziehen, nicht nachgekommen ist oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG Beschluss vom 1.4.2021 - B 9 V 45/20 B - juris RdNr 7 mwN). Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das Prozessgericht grundsätzlich nicht, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG Beschluss vom 21.3.2016 - B 9 SB 81/15 B - juris RdNr 6 mwN).

Der Kläger zeigt in seiner Beschwerdebegründung nicht auf, weshalb er angesichts der vorliegenden Sachverständigengutachten, Befundberichte und Zeugenaussagen und des Verfahrensverlaufs sowie seines eigenen Vortrags in der Berufungsinstanz keinesfalls damit rechnen musste, dass das LSG seinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G für die noch streitbefangene Zeit vom 6.6.2013 bis 11.12.2019 nicht antragsgemäß würdigen würde. Im Kern rügt der Kläger vielmehr, dass das LSG seiner Ansicht hinsichtlich der Bewertung der bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G im verbliebenen streitigen Zeitraum nicht gefolgt ist. Tatsächlich wendet sich der Kläger gegen die Bewertung der aktenkundigen ärztlichen Zeugenaussagen, Befundberichte und Sachverständigengutachten und damit gegen die Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) durch das LSG, die nicht zulässiger Gegenstand der Rüge eines Verfahrensmangels ist. § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG entzieht die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts vollständig der Überprüfung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (stRspr; zB BSG Beschluss vom 1.4.2021 - B 9 V 45/20 B - juris RdNr 6 mwN). Diese Beschränkung kann auch nicht durch die Berufung auf die Vorschriften zum rechtlichen Gehör oder fairen Verfahren umgangen werden (vgl BSG Beschluss vom 26.1.2022 - B 6 KA 9/21 B - juris RdNr 16 mwN). Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet im Übrigen nur, dass der Kläger "gehört", nicht jedoch "erhört" wird (vgl BSG Beschluss vom 18.5.2016 - B 5 RS 10/16 B - juris RdNr 7 mwN). Ob der Kläger zudem die Entscheidung des LSG in der Sache für falsch hält, kann ebenfalls nicht Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde sein (vgl BSG Beschluss vom 15.11.2021 - B 9 SB 50/21 B - juris RdNr 18 mwN).

2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

3. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Ch. Mecke                                       Röhl                                            Othmer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15148891

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge