Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesamtvergütung. Umstellung der Gesamtvergütungsvereinbarungen auf das Wohnortprinzip bei Krankenkassen mit überregionaler Versichertenzusammensetzung. Bestimmung des Ausgangsbetrags zur Vereinbarung der Gesamtvergütungen für das Jahr 2002. Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde. Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtsfrage
Orientierungssatz
1. Die Rechenvorgabe in Art 2 § 1 Abs 1 Nr 1 WOrtPrG (juris: ArztWohnortG) erfasst in wörtlicher Anwendung ersichtlich nur den typischen Fall, dass die "für das Jahr 2001" geltende Gesamtvergütung entsprechend § 85 Abs 2 S 2 SGB 5 tatsächlich auch das Ausgabenvolumen für die Gesamtheit der vertragsärztlichen Leistungen im gesamten Jahr 2001 zugunsten der davon betroffenen Mitglieder der Krankenkasse abdeckt. Ist dies nicht der Fall, weil eine Krankenkasse erst zum 1.4.2001 gegründet wurde, muss die für die künftige - ganzjährige - Versorgung ihrer Versicherten ab 2002 maßgebliche Ausgangsbasis durch ergänzende Regelungen sinngemäß auf einen Jahresausgabenbetrag hochgerechnet werden.
2. Die Rechtsfrage, ob eine Krankenkasse berechtigt ist, die Nichtigkeit einer Regelung des für sie maßgeblichen Gesamtvertrags geltend zu machen, weil diese gegen zwingende - einer vertraglichen Gestaltung nicht zugängliche - Rechtsnormen verstoße, hat keine grundsätzliche Bedeutung.
Normenkette
SGB 5 § 83 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2001-12-11, § 85 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2001-12-11, Abs. 2 S. 1 Fassung: 2001-12-11, S. 2 Fassung: 2001-12-11; ArztWohnortG Art. 2 § 1 Abs. 1 Nr. 1; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist die Höhe der von einer Krankenkasse an eine Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) zu entrichtenden Gesamtvergütung.
Die klagende KÄV ist seit 1.1.2005 Rechtsnachfolgerin der KÄV Nordwürttemberg. Diese machte gegenüber der Beklagten, einer zum 1.4.2001 neu gegründeten Betriebskrankenkasse (BKK) mit Sitz in Hannover, für die Quartale I/2002 bis III/2003 zusätzliche Gesamtvergütungsbeträge geltend. Der Streit über die Höhe der von der Beklagten zu zahlenden Gesamtvergütungen beruht auf unterschiedlichen Auffassungen zur Umsetzung des Gesetzes zur Einführung des Wohnortprinzips bei Honorarvereinbarungen für Ärzte und Zahnärzte (WOrtPrG -vom 11.12.2001, BGBl I 3526) . Die Klägerin beruft sich auf die Regelung in § 3 Abs 3 der Anlage 14 zum Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä). Dort ist eine quartalsweise Berechnung der für eine Krankenkasse im Jahr 2001 maßgeblichen "Gesamtvergütung je Mitglied" vorgesehen. Dieser Wert ist gemäß Art 2 § 1 Abs 1 Nr 1 WOrtPrG zur Ermittlung des Ausgangsbetrags für die Vereinbarung der Gesamtvergütung im Jahr 2002 heranzuziehen. In Nr 2 der Protokollnotiz zu Anlage 14 BMV-Ä ist speziell für den Sonderfall der Klägerin ergänzend geregelt, dass für das Quartal I/2002 als "Gesamtvergütung je Mitglied" der Durchschnitt der Werte der Quartale II bis IV/2001 zugrunde zu legen ist. Die Beklagte ist hingegen der Ansicht, die Anordnung einer quartalsweisen Berechnung der für sie maßgeblichen "Gesamtvergütung je Mitglied" verstoße gegen den Wortlaut von Art 2 § 1 Abs 1 Nr 1 WOrtPrG und sei deshalb nichtig; der Ausgangsbetrag für sie sei nur auf der Grundlage der von ihr tatsächlich in den Quartalen II bis IV/2001 gezahlten Gesamtvergütungen zu ermitteln.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von 5.912,31 Euro verurteilt (Urteil des SG Stuttgart vom 30.8.2006) . Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihre Forderung unter Berücksichtigung korrekter - niedrigerer - Ausgangsbeträge um 1.655,02 Euro reduziert und die Klage insoweit zurückgenommen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 19.9.2007, in juris dokumentiert) . Es hat die Bestimmung in § 3 Abs 3 der Anlage 14 zum BMV-Ä und in der zugehörigen Protokollnotiz Nr 2 als im Einklang mit den Vorgaben des WOrtPrG stehend und somit als wirksam erachtet. Die Rechtsansicht der Beklagten führe zu Ergebnissen, die der Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt habe. Denn bei Zugrundelegung der Ist-Ausgaben von nur drei Quartalen als Basis der künftigen Ausgaben für jeweils ganze Jahre bliebe ein erheblicher Teil der von den Mitgliedern der Klägerin für Versicherte der Beklagten zu erbringenden Leistungen unvergütet. Im Übrigen sei - die Rechtswidrigkeit der genannten Regelung des BMV-Ä unterstellt - die Beklagte als Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht befugt, sich gerichtlich gegen diese normativen Bestimmungen des BMV-Ä zu wenden.
Die Beklagte macht mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg. Diese hat zwar den Zulassungsgrund grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) in einer den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG entsprechenden Weise dargelegt; mithin ist die Beschwerde zulässig. Es liegen aber nicht alle Voraussetzungen für eine Revisionszulassung tatsächlich vor.
Eine grundsätzliche Bedeutung setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 mwN; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 5 RdNr 3) . Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, falls sich die Antwort auf die Rechtsfrage ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften und/oder der bisherigen Rechtsprechung ergibt (zur Verneinung der Klärungsbedürftigkeit im Falle klarer Antwort siehe zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; vgl auch BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f) . Diese Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (s die BVerfG-Angaben in BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 sowie BVerfG ≪Kammer≫, SozR 4-1500 § 160a Nr 16 RdNr 4 f) .
Nach diesen Maßstäben fehlt es an der grundsätzlichen Bedeutung der von der Beklagten aufgeworfenen Rechtsfrage, ob die Bestimmung des Art 2 § 1 Abs 1 WOrtPrG den Vertragsparteien der Gesamtverträge einen Gestaltungsspielraum dahingehend gebe, dass die Ausgangsbeträge für das Jahr 2002 quartalsweise bestimmt werden dürften, oder ob nicht vielmehr von einem einheitlichen Jahresbetrag auszugehen sei. Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig, denn die zutreffende Antwort ergibt sich ohne Weiteres aus der Vorschrift des Art 2 § 1 Abs 1 WOrtPrG in dem vom LSG entschiedenen Sinne.
Die genannte Vorschrift regelt die Vorgehensweise zur Umstellung der Gesamtvergütungsvereinbarungen auf das Wohnortprinzip bei Krankenkassen mit überregionaler Versichertenzusammensetzung. Während bis dahin jede Krankenkasse einen Gesamtvertrag mit der für ihren Sitz zuständigen KÄV schloss und die dort vereinbarten Vergütungen im Falle einer Behandlung ihrer Versicherten in anderen KÄVen - auch bei bundesweit geöffneten Betriebs- und Innungskrankenkassen - im Wege des Fremdkassenzahlungsausgleichs dorthin exportiert wurden, ist seit 1.1.2002 in jeder Versorgungsregion (KÄV-Bezirk) für alle Versicherten einer Kassenart derselbe regional abgeschlossene Gesamtvertrag maßgeblich (§ 83 Abs 1 Satz 1, § 85 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 SGB V idF von Art 1 WOrtPrG) . Zur erstmaligen Bestimmung der auf diese Weise in ihrem räumlichen Geltungsbereich neu abgegrenzten Gesamtvergütungen für das Jahr 2002 ordnet Art 2 § 1 Abs 1 WOrtPrG - insoweit inhaltsgleich mit § 85c Abs 2 SGB V, welcher die Umstellung der Gesamtvergütungen für die bis dahin noch nicht vom Wohnortprinzip erfassten Krankenkassen im Jahr 2006 regelt - die Bildung einer neuen Ausgangsbasis an; diese ist durch rechnerische Aufteilung der im Jahr 2001 gezahlten Honorarvolumina einer überregional wirksamen Krankenkasse entsprechend der Zahl der in den verschiedenen Versorgungsregionen wohnenden Versicherten zu ermitteln (Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucks 14/5960, S 5 - A. Allgemeiner Teil bzw S 6 - Zu Art 2, Zu § 1) . Dabei ist ein Ausgangsbetrag zur Vereinbarung der Gesamtvergütungen "für das Jahr 2002" zu bestimmen, dh das Ausgabenvolumen für die Gesamtheit der zu vergütenden vertragsärztlichen Leistungen dieses Jahres (vgl § 85 Abs 2 Satz 2 SGB V) . Hieraus folgt zwingend, dass es nicht zutreffend wäre, im Falle einer erst im Verlauf des Jahres 2001 neu gegründeten Krankenkasse nur deren tatsächliches Ausgabenvolumen für einen Teil des Jahres 2001 zur Grundlage der Honorierung einer ganzjährigen Versorgung ihrer Versicherten im Jahr 2002 und in künftigen Jahren zu machen. Die Rechenvorgabe in Art 2 § 1 Abs 1 Nr 1 WOrtPrG erfasst in wörtlicher Anwendung ersichtlich nur den typischen Fall, dass die "für das Jahr 2001" geltende Gesamtvergütung entsprechend § 85 Abs 2 Satz 2 SGB V tatsächlich auch das Ausgabenvolumen für die Gesamtheit der vertragsärztlichen Leistungen im gesamten Jahr 2001 zugunsten der davon betroffenen Mitglieder der Krankenkasse abdeckt. Ist dies nicht der Fall, weil - wie hier - eine Krankenkasse erst zum 1.4.2001 gegründet wurde, muss die für die künftige - ganzjährige - Versorgung ihrer Versicherten ab 2002 maßgebliche Ausgangsbasis durch ergänzende Regelungen sinngemäß auf einen Jahresausgabenbetrag hochgerechnet werden. Es ist damit nach dem Sinn und Zweck der Regelung des Art 2 § 1 Abs 1 WOrtPrG und ihrem systematischen Zusammenhang mit § 85 Abs 2 Satz 2 SGB V nicht rechtmäßig, im Sinne der Beklagten als Ausgangsbetrag für 2002 nur den für einen Bruchteil des Jahres 2001 gezahlten "Jahresteilbetrag" heranzuziehen. Dem trägt die von der Beklagten angegriffene Regelung in § 3 Abs 3 sowie in Protokollnotiz Nr 2 Satz 2 der Anlage 14 zum BMV-Ä in nicht zu beanstandender Weise Rechnung.
Auch die ergänzend formulierte Frage nach dem Gestaltungsspielraum der "Partner der Gesamtverträge" ist in diesem Zusammenhang nicht weiter klärungsbedürftig. Denn die konkreten Vorgaben zur technischen Umsetzung des Wohnortprinzips bei Vereinbarung der Gesamtvergütungen finden sich in den Anlagen 14 und 16 zum BMV-Ä. Diese Regelungen haben die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Spitzenverbände der Krankenkassen auf Bundesebene vereinbart; sie sind für die Partner der Gesamtverträge auf regionaler Ebene kraft Gesetzes bindend (§ 82 Abs 1 Satz 2 SGB V iVm § 83 SGB V) .
Eine grundsätzliche Bedeutung ist auch nicht in Bezug auf die zweite von der Beklagten benannte Rechtsfrage gegeben, ob eine Krankenkasse berechtigt ist, die Nichtigkeit einer Regelung des für sie maßgeblichen Gesamtvertrags geltend zu machen, weil diese gegen zwingende - einer vertraglichen Gestaltung nicht zugängliche - Rechtsnormen verstoße. Allerdings trifft zu, dass der Senat diese Rechtsfrage bislang nicht abschließend entschieden hat (vgl BSGE 95, 114 RdNr 16 = SozR 4-2500 § 83 Nr 2 RdNr 24; BSG SozR 4-2500 § 83 Nr 4 RdNr 19; zuletzt Senatsurteil vom 5.11.2008 - B 6 KA 55/07 R - SozR 4-2500 § 83 Nr 5 RdNr 13) . Diese Rechtsfrage ist jedoch auch im vorliegenden Falle nicht entscheidungserheblich und somit in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht weiter klärungsfähig. Denn die von der Beklagten beanstandeten Regelungen § 3 Abs 3 der Anlage 14 zum BMV-Ä sowie in der Protokollnotiz Nr 2 hierzu sind - wie bereits ausgeführt und auch vom LSG so bewertet - rechtmäßig; die Frage nach den Folgen einer rechtswidrigen Bestimmung des BMV-Ä im Gesamtvergütungsstreit zwischen KÄV und Krankenkasse stellt sich mithin hier nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung von § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 47 Abs 1 und 3, § 40, § 52 Abs 3 Gerichtskostengesetz.
Fundstellen