Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufrechterhaltung eines Beweisantrags im Verfahren nach § 153 Abs 4 SGG. Verletzung der Aufklärungspflicht
Leitsatz (amtlich)
Ein nach der ersten Anhörungsmitteilung gemäß § 153 Abs 4 SGG gestellter oder aufrechterhaltener Beweisantrag ist nicht als erledigt zu behandeln, wenn er nach einer weiteren nicht näher begründeten Anhörungsmitteilung nicht nochmals wiederholt wird, es sei denn besondere Umstände des Einzelfalls – wie etwa eine zwischenzeitliche Änderung des Sach- und Streitstandes – sprechen dagegen (Weiterentwicklung von BSG, Beschluss vom 18.12.2000 – B 2 U 336/00 B = SozR 3-1500 § 160 Nr 31; BSG, Beschluss vom 18.2.2003 – B 11 AL 273/02 B).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 153 Abs. 4, § 103 S. 1
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 09.08.2005; Aktenzeichen L 6 SB 139/03) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 23.06.2003; Aktenzeichen S 8 SB 134/00) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. August 2005 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “G…” (erhebliche Gehbehinderung) streitig.
Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen und Einholung medizinischer Sachverständigengutachten erkannte der Beklagte durch Schriftsatz vom 11. Juni 2004 während des Berufungsverfahrens vor dem Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) bei dem Kläger das Vorliegen eines Grades der Behinderung (GdB) von 80 an. Im Hinblick auf das weiterhin streitige Merkzeichen “G…” hat der beratende Arzt des Beklagten am 15. September 2004 eine erneute medizinische Begutachtung angeregt. Dementsprechend hat das LSG am 24. September 2004 die Einholung eines Sachverständigengutachtens bei dem Orthopäden Dr. F… angeordnet. Einen Untersuchungstermin hat der Kläger mit der Begründung abgesagt, seine Ehefrau sei erkrankt. Das LSG hat daraufhin die Akten von Dr. F… zurück gefordert, der Kläger hat sein generelles Misstrauen gegen Ärzte in Rheinland-Pfalz zum Ausdruck gebracht und um eine Begutachtung in Nordrhein-Westfalen oder Hessen gebeten. Nachdem der Kläger schließlich doch seine Bereitschaft erklärt hatte, sich durch Dr. F… untersuchen zu lassen, ist diesem vom LSG erneut ein Gutachtensauftrag erteilt worden, den das Gericht auf Vorschlag des Klägers am 11. März 2005 durch Bestellung von Dr. S… (W… ) sowie durch Genehmigung einer neurologischen Zusatzbegutachtung abgeändert hat. Dr. S… hat die Erstellung des Sachverständigengutachtens später mit der Begründung abgelehnt, er fühle sich gegenüber dem Kläger befangen. Dazu hat der Kläger erklärt, er habe insbesondere auf einer Untersuchung durch Dr. S… persönlich bestanden. Daraufhin hat das LSG durch Beschluss vom 8. Juli 2005 die Beweisbeschlüsse aufgehoben und mit Schreiben vom selben Tag den Kläger – ohne Angabe von Gründen zum Abbruch der Beweisaufnahme – auf die Absicht des Senats hingewiesen, die Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückzuweisen. Nachdem der Kläger am 25. Juli 2005 “Beschwerde bzw Gegenvorstellung” gegen den Beschluss des LSG vom 8. Juli 2005 erhoben und um weitere Sachaufklärung gebeten hatte, ist ihm vom LSG erneut eine nicht näher begründete Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 SGG übersandt worden (Schreiben vom 29. Juli 2005). Durch Beschluss vom 9. August 2005 hat das LSG alsdann die Berufung zurückgewiesen und damit den vom Kläger geltend gemachten Anspruch verneint.
Es hat zur Begründung ausgeführt: Der Kläger erfülle die gesetzlichen Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens “G…” nach § 146 Abs 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) iVm § 9 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht. Er sei nach Auswertung der im Verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren beigezogenen medizinischen Unterlagen noch in der Lage, die von der Rechtsprechung als Maßstab entwickelte und in die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) übernommene ortsübliche Gehstrecke von 2000 m in 30 Minuten zurück zu legen. In den AHP, die als antizipierte Sachverständigengutachten auch vorgäben, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorhanden sein müssten, bevor angenommen werden könne, ein behinderter Mensch sei erheblich gehbehindert, seien Regelfälle angeführt, die nach allgemeinem medizinischem Erkenntnisstand zur Zuerkennung des Merkzeichens “G…” führten. Bei dem Kläger läge keiner dieser Regelfälle vor. Weder Dr. K… oder Dr. Z… (beide Orthopäden) noch Dr. Z… (Internist) beschreibe Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von 50 bedingten. Gleiches gelte für eine sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirkende Behinderung der unteren Gliedmaßen. Eine Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach der Gruppe 3 sei weder nach dem medizinischen Befund des Dr. Z… noch des Dr. L… nachgewiesen. Auch der Befundbericht des Dr. B… (Internist und Diabetologe) vom 8. September 2004 enthalte keine Hinweise auf das Vorhandensein eines derartigen Herzschadens. Alle drei Ärzte hätten ebenfalls keine Atembehinderung mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades feststellen können. Weitere innere Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit lägen ebenso wenig vor. Hypoglykämische Schocks auf Grund des bei dem Kläger diagnostizierten Diabetes mellitus – vergleichbar hirnorganischen Anfällen ab mittlerer Anfallshäufigkeit, mit überwiegendem Auftreten am Tag – seien den aktenkundigen internistischen Unterlagen der Dres. Z…, B… und L… nicht zu entnehmen. Störungen der Orientierungsfähigkeit oder eine entsprechende geistige Behinderung lägen nicht vor. Sei keiner der Regelfälle erfüllt, komme es nicht darauf an, ob ein einzelner Sachverständiger eine durch eine oder mehrere Behinderungen bedingte erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bejaht habe; dieses entspreche dann nicht den in den AHP niedergelegten medizinischen Kriterien. Im Übrigen habe keine Veranlassung für weitere Ermittlungen bestanden, insbesondere für die Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Mit seiner gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Beschluss eingelegten Beschwerde rügt der Kläger ua, entgegen seinen Beweisanträgen habe das LSG den medizinischen Sachverhalt unter Verstoß gegen § 103 SGG nicht genügend aufgeklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg.
Der gerügte Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) liegt vor. Das LSG hat seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verletzt, indem es keine weiteren medizinischen Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Klägers angestellt hat. Es hat eine bereits angeordnete Beweiserhebung abgebrochen und die von dem Kläger in den Schriftsätzen vom 19. Juli 2004 sowie 13. Januar 2005 gestellten Beweisanträge ohne Begründung nicht weiter verfolgt. Auf diesem Verfahrensfehler kann die angegriffene Entscheidung auch beruhen.
Dem Erfolg der Beschwerde steht nicht entgegen, dass der bereits im Berufungsverfahren anwaltlich vertretene Kläger die zuvor benannten Beweisanträge nach der zweiten Anhörungsmitteilung des LSG vom 29. Juli 2005 nicht nochmals gestellt hat. Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG ein Beweisantrag, der nach Erhalt einer solchen Anhörungsmitteilung nicht wiederholt wird, grundsätzlich so zu behandeln, als habe er sich erledigt (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 31; Beschluss vom 18. Februar 2003 – B 11 AL 273/02 B, JURIS). Hieraus folgt jedoch nicht, dass auch der nach einer ersten Anhörungsmitteilung gestellte bzw ausdrücklich aufrechterhaltene Beweisantrag, wird er nach einer weiteren, nicht näher begründeten Anhörungsmitteilung nicht nochmals wiederholt, als erledigt anzusehen ist, es sei denn, besondere Umstände des Einzelfalls – wie etwa eine zwischenzeitliche Änderung des Sach- und Streitstandes – sprechen dafür. Derartige Umstände liegen hier nicht vor.
Das LSG hat mit Beschluss vom 8. Juli 2005 die bereits angeordneten Beweiserhebungen ohne Begründung aufgehoben und den Kläger mit Schreiben vom selben Tag lediglich formal zu dem beabsichtigten Vorgehen nach § 153 Abs 4 SGG angehört. In seiner Beschwerde und Gegenvorstellung vom 25. Juli 2005 hat der Kläger die aus seiner Sicht bestehende Notwendigkeit weiterer Ermittlungen näher dargelegt. Hierauf ist vom LSG am 29. Juli 2005 lediglich ausgeführt worden, eine Beschwerde gegen den die Beweisanordnung aufhebenden Beschluss sei nicht möglich (§ 177 SGG) und der Senat werde die entscheidungsreife Berufung durch Beschluss zurückweisen (§ 153 Abs 4 SGG). Weder ist es dabei auf die Beschwerdebegründung des Klägers eingegangen, noch hat es die Gründe für den Abbruch der medizinischen Sachaufklärung mitgeteilt. Unter diesen Umständen brauchte der Kläger nach Erhalt des Schreibens vom 29. Juli 2005 nicht nochmals die Fortführung der Beweiserhebung zu beantragen. Eine derartige Verpflichtung würde im Übrigen auch praktisch ins Leere laufen; denn das LSG wäre unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG (vgl SozR 3-1500 § 153 Nr 4; Nr 8; SozR 4-1500 § 153 Nr 1) sodann erneut zur Anhörung nach § 153 Abs 4 SGG verpflichtet; es entstünde – jedenfalls ohne zwischenzeitliche Änderung des Sach- und Streitstandes – ein der Prozessökonomie zuwiderlaufendes Wechselspiel.
Es kann im vorliegenden Fall auch dahingestellt bleiben, ob die von dem Kläger formulierten Beweisanträge den gesetzlichen Anforderungen genügten (vgl § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 402 ff Zivilprozessordnung ≪ZPO≫). Das LSG hat durch seine Beweisanordnungen zum Ausdruck gebracht, selbst von der Notwendigkeit weiterer Ermittlungen überzeugt zu sein, insbesondere zu dem vom Kläger angeführten Aspekt der Funktionseinschränkungen an den unteren Gliedmaßen, also bezüglich des nach der Rechtsauffassung des LSG relevanten ersten Regelfalls der Ziff 30 Abs 3 AHP, durch Anordnung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens sowie antragsgemäße Genehmigung einer neurologischen Zusatzbegutachtung. Der Kläger konnte daher in seiner Beschwerdebegründung auch auf weitere Ausführungen dazu verzichten, inwieweit das LSG sich zu den betreffenden Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen.
Die eingeleitete Beweiserhebung hat das LSG ohne hinreichende Begründung nicht weitergeführt. Zwar mag aus den mehrfachen Verschiebungen von Untersuchungsterminen durch den Kläger sowie seinen Initiativen im Hinblick auf die Person des zu beauftragenden Sachverständigen und dessen Pflichten im Hinblick auf § 407a ZPO der Schluss gezogen werden können, der Kläger habe entweder an der weiteren Aufklärung nicht mitwirken oder im Grunde eine Begutachtung vereiteln wollen. Abgesehen davon, dass sich das LSG auf solche Gesichtspunkte nicht gestützt hat, war es nach den Umständen des vorliegenden Falles jedoch gehalten, die eingeleitete Beweiserhebung zu einem Ende zu bringen.
Selbst wenn man im Sozialgerichtsprozess den aus § 444 ZPO entwickelten allgemeinen Rechtsgedanken zum Tragen kommen lassen wollte, dass derjenige, der durch schuldhaftes Handeln oder Unterlassen eine an sich mögliche Beweisführung vereitelt, sich gegebenenfalls so behandeln lassen muss, als sei die Beweisführung gelungen (vgl BSG SozR 3-1750 § 444 Nr 1; BSG, Beschluss vom 13. September 2005 – B 2 U 365/04 B, JURIS), gilt hier: Der Kläger hat noch im Schriftsatz zur “Beschwerde bzw Gegenvorstellung” seine Bereitschaft zur Mitwirkung bekundet; daher durfte das LSG die eingeleitete Beweiserhebung zumindest nicht ohne Weiteres unterlassen. Im Übrigen verletzt ein Gericht seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) bereits dann, wenn es, ohne festzustellen, ob es für die Erstattung eines weiteren Gutachtens einer erneuten Untersuchung des Beteiligten bedarf, allein wegen dessen Weigerung, sich erneut untersuchen zu lassen, von der Einholung eines Gutachtens über medizinische Fragen absieht (vgl BSG, Urteil vom 5. April 2001 – B 13 RJ 61/00 R, JURIS; BSG SozR Nr 43 zu § 103 SGG). Darüber hinaus muss das Gericht im Falle der Verweigerung der Mitwirkung eines Beteiligten – vor dem Abbruch weiterer Ermittlungen und der daraus folgenden Beweiswürdigung zu Lasten des Beteiligten – diesen hinreichend über seine Mitwirkungspflicht und über die Auswirkungen einer unbegründeten Weigerung belehren (vgl BSG SozR 1500 § 103 Nr 23 mwN). Hieran mangelt es.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat sich das LSG dementsprechend auch nicht auf eine objektive Beweislosigkeit durch Beweisvereitelung auf Grund des klägerischen Verhaltens gestützt, sondern ältere medizinische Erkenntnisse herangezogen und hieraus den Schluss gezogen, der medizinische Sachverhalt sei ausermittelt. Dieser Einschätzung vermag der erkennende Senat nicht zu folgen. Die letzten vom LSG ausgewerteten Befunde waren im Zeitpunkt seiner Entscheidung etwa ein Jahr alt. Sie hatten dem beratenden Arzt des Beklagten, Dr. K…, Veranlassung gegeben, eine aktuelle Begutachtung anzuregen (Stellungnahme vom 15. September 2004). Darüber hinaus wird in den Befundunterlagen insbesondere auf eine Progredienz des Diabetes mellitus sowie von dessen Auswirkungen hingewiesen. Nach den vorhandenen Befundunterlagen könnte das Zusammenwirken von neurologischen, orthopädischen und internistischen Gesundheitsstörungen Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der unteren Gliedmaßen im Sinne des Gehens haben. Das LSG hat seiner Bewertung insoweit zwar die Befunde aus den einzelnen Fachgebieten (internistisch, neurologisch und orthopädisch) zu Grunde gelegt, nicht jedoch deren wechselseitige Wirkungen berücksichtigt.
Auf dem Unterlassen entsprechender weiteren Ermittlungen kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Hätte das LSG die beantragte und eingeleitete Beweiserhebung durch Einholung des geplanten Sachverständigengutachtens mit Zusatzgutachten durchgeführt, wäre es möglicherweise zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung gelangt. Es besteht die nicht nur geringe Möglichkeit, dass sich die Folgen des Diabetes mellitus in einem für das Merkzeichen “G…” relevanten Ausmaß auf die unteren Gliedmaßen und die Gehfähigkeit des Klägers auswirken.
Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG somit vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Gerichts, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren; insoweit ist der Senat nicht an die gestellten Anträge gebunden (Senatsbeschlüsse vom 12. Februar 2003 – B 9 SB 60/02 B – JURIS – und vom 12. Juni 2003 – B 9 SB 62/02 B). Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um Tatsachenfeststellungen zu den gesundheitlichen Voraussetzungen des streitigen Merkzeichens geht, sprechen prozessökonomische Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache, zumal auch ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren zu keinem anderen Ergebnis führen könnte.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
NZS 2007, 439 |
SGb 2006, 739 |
www.judicialis.de 2006 |