Entscheidungsstichwort (Thema)
Kassenärztliche Vereinigung. Psychotherapeutische Leistung. Mindestpunktwert. Grenzziehung. 90%-Grenze. Berufsfreiheit. Gleichbehandlung
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Kassenärztliche Vereinigung war nur bis Ende 1998 verpflichtet, die zeitgebundenen genehmigungsbedürftigen psychotherapeutischen Leistungen solcher Ärzte grundsätzlich mit einem Mindestpunktwert von 10 Pfennig zu vergüten, bei denen sie einen Anteil von mindestens 90 % des vertragsärztlichen Gesamtumsatzes ausmachen.
2. Jede Grenzziehung hat zur Folge, dass Sachverhalte unterschiedlich beurteilt werden müssen, je nach dem, ob der maßgebliche Grenzwert erreicht wird oder nicht.
3. Ein Grenzwert könnte seine Funktion nicht erfüllen, wenn Sachverhalte, die “knapp” darunter liegen, aus übergeordneten, insbesondere verfassungsrechtlichen Gründen so behandelt werden müssten, als wäre der Wert doch erreicht.
4. Notwendigerweise werden diejenigen, die die Grenze gerade erreichen, und die, die sie knapp nicht erreichen, unterschiedlich behandelt, was zu Härten führen kann.
5. Diese müssen aber hingenommen werden, wenn eine Grenzziehung notwendig und die gewählte Grenze, orientiert am gegebenen Sachverhalt, vertretbar ist.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1; SGB V § 87 Abs. 1-2; EBM-Ä Kap. G Abschn. III; EBM-Ä Kap. G Abschn. IV; EBM-Ä Kap. G Nrn. 855, 890; GG Art. 3, 12 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. April 2002 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat der Beklagten die außergerichtlichen Kosten auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin ist seit 1993 als Ärztin und seit Ende 1997 als Ärztin für Psychotherapeutische Medizin zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Sie begehrt höheres Honorar für ihre psychotherapeutischen Leistungen; umstritten sind noch die Quartale I/1996 bis III/1998.
Während das Sozialgericht insoweit die Honorarbescheide der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) aufgehoben und diese zur Neubescheidung verpflichtet hat, hat das Landessozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat diese Entscheidung damit begründet, dass die Klägerin in den noch streitigen Quartalen keinen Anspruch auf Vergütung ihrer psychotherapeutischen Leistungen mit einem Punktwert von mindestens 10 Pf habe, weil sie in diesen Quartalen weniger als 90 % ihres vertragsärztlichen Honorarumsatzes aus Leistungen nach Abschnitt G IV des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für ärztliche Leistungen (EBM-Ä) erzielt habe. Das Erreichen dieses Grenzwertes sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) Voraussetzung für eine Stützungsverpflichtung der KÄV (Urteil vom 23. April 2002).
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der von der Klägerin in zulässiger Weise angeführte Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung liegt nicht vor. Die von ihr aufgeworfenen Rechtsfragen sind nicht (mehr) klärungsbedürftig. Zu ihrer Klärung bedarf es keines Revisionsverfahrens; ihre Beantwortung unterliegt vielmehr nach den maßgeblichen Rechtsvorschriften bzw auf der Grundlage der dazu bereits vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem Zweifel (vgl zu diesem eine Grundsatzrevision ausschließenden Umstand allgemein zB BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6 und § 160a Nr 21 S 38).
Die von der Klägerin als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage, ob im Hinblick auf die Wertentscheidung in Art 12 Abs 1 Grundgesetz (GG) sowie auf das in Art 3 Abs 1 GG enthaltene Gleichbehandlungsgebot eine Ärztin dann eine Stützung ihrer psychotherapeutischen Leistungen nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des erkennenden Senats beanspruchen kann, wenn sie den Anteil von 90 % spezifisch psychotherapeutischer Leistungen an ihrem vertragsärztlichen Gesamtumsatz „nur knapp” verfehlt, ist nicht klärungsbedürftig.
Der Senat hat in zahlreichen Entscheidungen ausgeführt, weshalb die KÄV bis Ende 1998 nur verpflichtet ist, die zeitgebundenen genehmigungsbedürftigen psychotherapeutischen Leistungen solcher Ärzte grundsätzlich mit einem Mindestpunktwert von 10 Pf zu vergüten, bei denen sie einen Anteil von mindestens 90 % des vertragsärztlichen Gesamtumsatzes ausmachen (s insbesondere Urteil vom 20. Januar 1999, BSGE 83, 205, 215 = SozR 3-2500 § 85 Nr 29 S 222; vom 25. August 1999, BSGE 84, 235, 244 f = SozR aaO Nr 33 S 260 f; vom 26. Januar 2000, SozR aaO Nr 35 S 277, 280 f; vom 12. September 2001, BSGE 89, 1, 6 = SozR aaO Nr 41 S 332 f; vom 12. September 2001 – B 6 KA 8/01 R –, in Juris dokumentiert, dort S 3). Eine gegen diese Rechtsprechung gerichtete Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung angenommen worden (BVerfG – Kammer –, Beschluss vom 11. Februar 2002 – 1 BvR 3/02 R –, betr Verfahren B 6 KA 8/01 R). Der Senat hat lediglich insofern eine Ausnahme zugelassen, dass Leistungen, die im Rahmen des organisierten Notfalldienstes erbracht worden sind, bei der Berechnung der 90 % nicht schaden dürfen, also herauszurechnen sind, weil sich der – ansonsten psychotherapeutisch spezialisierte Arzt – diesen Leistungspflichten nicht entziehen kann (s BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 35 S 283 f).
Jede Grenzziehung hat zur Folge, dass Sachverhalte unterschiedlich beurteilt werden müssen, je nach dem, ob der maßgebliche Grenzwert erreicht wird oder nicht. Ein Grenzwert könnte seine Funktion nicht erfüllen, wenn Sachverhalte, die „knapp” darunter liegen, aus übergeordneten, insbesondere verfassungsrechtlichen Gründen so behandelt werden müssten, als wäre der Wert doch erreicht. Notwendigerweise werden diejenigen, die die Grenze gerade erreichen, und die, die sie knapp nicht erreichen, unterschiedlich behandelt, was zu Härten führen kann. Diese müssen aber hingenommen werden, wenn eine Grenzziehung notwendig und die gewählte Grenze, orientiert am gegebenen Sachverhalt, vertretbar ist (vgl – betr Mindestbeitragszeiten und Stichtagsregelungen – zB BVerfGE 66, 234, 244; 87, 1, 43, 47; 101, 239, 270). Dies ist hier der Fall, wie sich aus der Senats-Rechtsprechung ergibt (s insbesondere BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 35 S 277, 280 f).
Eine grundsätzliche Bedeutung ergibt sich auch nicht daraus, dass einzelne Sozialgerichte Unterschreitungen der 90 %-Grenze dann als unschädlich angesehen haben, wenn diese sich daraus ergaben, dass der Psychotherapeut auch Entspannungs- und Testverfahren (Nr 855 ff und 890 ff EBM-Ä) erbrachte. Dabei bedarf hier keiner Erörterung, ob die Wertung, in solchen Fällen das Unterschreiten als unschädlich anzusehen, mit den vom BSG entwickelten Grundsätzen vereinbar ist. Denn der vorliegende Sachverhalt ist mit jenen Fallgestaltungen ohnehin nicht vergleichbar. Entspannungs- und Testverfahren mögen, selbst wenn sie nicht direkt zum Bereich der Psychotherapie gehören (so BSG SozR 3-2500 § 85 S 281 f betr Nr 850, 851 EBM-Ä), deutliche Bezugspunkte zu ihr haben (so BSGE 89, 1, 6 = SozR aaO Nr 41 S 332 f und BSG SozR 3-2500 § 95 Nr 30 S 151 f betr Nr 855 ff EBM-Ä). Die Leistungen nach Nr 820 bis 827 EBM-Ä stehen diesem Bereich indessen nicht so nah; sie sind ausdrücklich und ausschließlich einem anderen Fachgebiet zugeordnet, nämlich dem der Psychiatrie (so BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 35 S 281 betr Abschnitt G II EBM-Ä, s auch die Abschnittsüberschrift „Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie”, im Gegensatz zu den nicht bestimmte Fachgebiete benennenden Überschriften G III und G V „Psychosomatik” und „Testverfahren”).
Von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung ist auch nicht die Frage, ob die Klägerin als Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin anders als eine „Ärztin” zu behandeln ist, die lediglich schwerpunktmäßig psychotherapeutische Leistungen erbracht hat, wie dies in dem mehrfach erwähnten Senatsurteil vom 12. September 2001 – B 6 KA 8/01 R – der Fall gewesen ist. Zum einen betrifft dies lediglich die drei letzten Quartale des Jahres 1998. In der vorangegangenen Zeit war die Klägerin als „Ärztin” ohne Gebietsbezeichnung tätig. Zum anderen hat die Frage, wie eine Ärztin für Psychotherapeutische Medizin, die kraft ihrer Zulassung grundsätzlich nur psychotherapeutische Leistungen erbringen durfte, unter dem Gesichtspunkt des Stützungsanspruchs für ihre zeitgebundenen genehmigungsbedürftigen Leistungen der sog großen Psychotherapie im Jahre 1998 zu behandeln war, keine über den Einzelfall der Klägerin hinausgehende Bedeutung mehr.
Zutreffend weist die Klägerin darauf hin, dass nach jetzt geltendem Bedarfsplanungsrecht „ausschließlich psychotherapeutisch tätige Ärzte” ua Fachärzte für psychotherapeutische Medizin sind, ohne dass es für ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe darauf ankommt, ob ihre psychotherapeutischen Leistungen den Anteil von 90 % an ihren Gesamtleistungen erreichen (Nr 8 Buchst d Ziff 1 Satz 3 der Bedarfsplanungs-Richtlinien≪RL≫-Ärzte, s auch Satz 5). An die geänderten Bedarfsplanungs-RL-Ärzte knüpft die Änderung des EBM-Ä (Abschnitt A I Teil B Nr 1.5 ≪Tabelle≫, geändert durch Beschluss des Bewertungsausschusses vom 16. Februar 2000, DÄ 2000, C-453) an. Auch dort werden die Ärzte für psychotherapeutische Medizin den ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Vertragsärzten mit mindestens 90 % ihres Gesamtleistungsbedarfs aus Abschnitt G IV EBM-Ä und zwei anderen Leistungsbereichen gleichgestellt. Ob eine solche Gleichstellung auch schon im Jahre 1998 geboten gewesen wäre, bedarf indessen im Jahre 2002 keiner Entscheidung in einem Revisionsverfahren mehr. Die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise die Auslegung und Anwendung von inzwischen außer Kraft getretenem Recht in einem Revisionsverfahren klärungsbedürftig sein könnte, liegen nicht vor. Erforderlich wäre, dass noch eine erhebliche Anzahl streitiger Fälle zu entscheiden oder dass aus anderen Gründen noch eine fortwirkende allgemeine Bedeutung gegeben ist (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 19 und zB Beschluss vom 27. September 2001 – B 6 KA 27/01 B – mwN). Die Klägerin hat jedoch nichts dergleichen substantiiert dargelegt, insbesondere nicht, dass noch in größerem Umfang Honorarbescheide von Ärzten für psychotherapeutische Medizin aus dem Jahre 1998 bzw der Zeit davor in gerichtlichen Verfahren anhängig sind.
Im Übrigen hat die Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen als Ärztin für psychotherapeutische Medizin die Grenze von 90 % der G IV-Leistungen am Gesamtumsatz nur deshalb unterschritten, weil sie mit Genehmigung der beklagten KÄV zusätzlich psychiatrische Leistungen nach Abschnitt G II EBM-Ä erbracht hat. Bei ausschließlich psychotherapeutischer Tätigkeit einer Ärztin ist ebenso wenig wie bei Psychologischen Psychotherapeuten ersichtlich, wie es zu einer Unterschreitung der Grenze von 90 % G IV-Leistungen kommen kann. Deshalb würde sich die von der Klägerin für den früheren Rechtszustand aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht allgemein, sondern nur mit der Maßgabe stellen, dass zu klären wäre, wie eine Ärztin für psychotherapeutische Medizin zu behandeln ist, der von der KÄV gestattet worden ist, zusätzlich psychiatrische Leistungen nach Abschnitt G II EBM-Ä zu erbringen, und die wegen dieses Umstands die maßgebliche Grenze von 90 % der psychotherapeutischen Leistungen nicht erreicht hat. Insoweit handelt es sich ausschließlich um die Entscheidung eines Einzelfalls, dem keine darüber hinausgehende rechtsgrundsätzliche Bedeutung zukommt.
Sonstige Gesichtspunkte, die Anlass geben könnten, die Berechtigung der Grenzziehung bei 90 % erneut in einem Revisionsverfahren zu überprüfen, liegen nicht vor (zum Fall erneuter Klärungsbedürftigkeit allgemein s zB BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN; vgl auch BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f und – mit Qualifizierung als bereits unzulässig – BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38).
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung.
Fundstellen