Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. gesetzlicher Richter. Verbot der Übertragung der Entscheidung auf den Berichterstatter bei rechtlich schwierigen Fällen. keine zwingende Ausdehnung auf tatsächlich schwierige Fälle. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Beweiswürdigung. rechtliches Gehör. Abweichung der Entscheidung von zuvor geäußerter Tendenz. keine Überraschungsentscheidung
Orientierungssatz
1. Die ausnahmsweise mögliche Verlagerung der Entscheidungskompetenz vom Kollegium auf den Vorsitzenden bzw Berichterstatter nach § 155 Abs 3 und 4 SGG ist auf die Vielzahl der Verfahren zugeschnitten, die insbesondere aus dem Grunde keine rechtlichen Schwierigkeiten aufweisen, weil einer ständigen Rechtsprechung gefolgt werden soll (vgl BSG vom 8.11.2007 - B 9/9a SB 3/06 R = BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2 und vom 29.6.2015 - B 9 V 45/14 B).
2. Soweit der Beschwerdeführer einer Nichtzulassungsbeschwerde das Verbot der Übertragung der Entscheidung auf den Vorsitzenden bzw Berichterstatter auf allein tatsächlich nicht einfach gelagerte Fälle ausdehnen will, genügt es vor dem Hintergrund des Rügeausschlusses mach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nicht, wenn er sich zur Begründung allein auf Angriffe gegen die Beweiswürdigung des LSG beschränkt.
3. Es liegt nicht deshalb eine Überraschungsentscheidung vor, weil der Berichterstatter anstelle seiner zunächst geäußerten Tendenz letztlich eine andere Bewertung des Gesamt-GdB vorgenommen hat.
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. Dezember 2019 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt in der Hauptsache die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 ab dem 14.4.2014 anstelle des zuerkannten GdB von 40. Mit Urteil vom 23.12.2019 hat das LSG im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter anstelle des Senats ebenso wie vor ihm das SG einen Anspruch auf Anerkennung eines GdB von mehr als 40 verneint. Im Ergebnis der Beweisaufnahme in beiden Instanzen stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass bei der Klägerin Funktionsbeeinträchtigungen im Wesentlichen in Bezug auf den Fettstoffwechsel, in psychischer Hinsicht, im Herz-/Kreislaufsystem und im Bewegungs- und Halteapparat beständen. Die jeweils mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewertenden Funktionsbeeinträchtigungen auf dem Gebiet des Stoffwechsels und der Psyche führten zu einer Anhebung des GdB auf einen Wert von 40. Hingegen führe das Rheumaleiden mit einem Einzel-GdB von 20 nicht zu einer weiteren Anhebung, denn die damit einhergehende Schmerzhaftigkeit der Gelenke weise Überschneidungen mit dem Schmerzsyndrom auf.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt, mit der sie einen Verfahrensfehler rügt. Trotz des erteilten Einverständnisses der Beteiligten zur Entscheidung durch den Berichterstatter im schriftlichen Verfahren im Erörterungstermin vom 12.8.2019 habe dieser nicht anstelle des Senats entscheiden dürfen. Die Tatsache, dass der Berichterstatter im Erörterungstermin noch mitgeteilt habe, dass er dazu tendiere, von einem Gesamt-GdB in Höhe von 50 auszugehen, dann aber entschieden habe, die Berufung zurückzuweisen, zeige, dass die Rechtssache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht einfach gelagert sei.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der allein geltend gemachte Verfahrensmangel der "Besetzungsrüge" nicht ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diese Voraussetzungen erfüllt die Beschwerde nicht.
Anders als geboten hat die Klägerin bereits den Sachverhalt, der dem angefochtenen Urteil des LSG zugrunde liegt, nicht hinreichend mitgeteilt und sich lediglich auf die Darstellung der Umstände des von ihr gerügten Verfahrensfehlers beschränkt. Die gerügte Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter hat die Klägerin jedoch gleichfalls nicht hinreichend dargetan. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde muss das BSG allein anhand der Begründung darüber entscheiden können, ob ein Verfahrensmangel in Betracht kommt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Dies gilt auch für Verfahrensmängel, die im Revisionsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen wären, wie die Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Senatsbeschluss vom 29.6.2015 - B 9 V 45/14 B - juris RdNr 7 mwN). Die Begründung der Klägerin, mit der diese die Entscheidung durch den Berichterstatter rügt, lässt keine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter in seiner einfachgesetzlichen Ausprägung durch § 155 Abs 3 und 4 SGG erkennen. Nach der Leitentscheidung des Senats im Urteil vom 8.11.2007 (B 9/9a SB 3/06 R - BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2 = SozR 4-3250 § 69 Nr 7, RdNr 20 ff) soll der bestellte Berichterstatter nach pflichtgemäßem Ermessen darüber entscheiden, ob er von der durch § 155 Abs 3 und 4 SGG eingeräumten Befugnis Gebrauch macht, oder ob es aus sachlichen Gründen bei der Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat verbleibt (vgl auch BSG Urteil vom 12.12.2018 - B 6 KA 50/17 R - BSGE ≪vorgesehen≫ = SozR 4-2500 § 95 Nr 35, RdNr 19 mwN; BSG Urteil vom 7.8.2014 - B 13 R 37/13 R - juris RdNr 13 mwN; differenzierend BSG Urteil vom 2.5.2012 - B 11 AL 18/11 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 24 RdNr 14 mwN). Bei einer Rechtssache von grundsätzlicher rechtlicher Bedeutung bzw beim Vorliegen einer Divergenz hat der Senat eine Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle des LSG-Senats in der Vergangenheit regelmäßig trotz Einverständnis der Beteiligten als ermessens- und verfahrensfehlerhaft angesehen. Zur Begründung hat er angeführt, die ausnahmsweise mögliche Verlagerung der Entscheidungskompetenz vom Kollegium auf den Vorsitzenden bzw Berichterstatter sei auf die Vielzahl der Verfahren zugeschnitten, die insbesondere aus dem Grunde keine rechtlichen Schwierigkeiten aufwiesen, weil einer ständigen Rechtsprechung gefolgt werden solle. Diese Senatsentscheidung ist damit ersichtlich allein im Kontext von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung ergangen (vgl Senatsbeschluss vom 29.6.2015 - B 9 V 45/14 B - juris RdNr 8 mwN unter Hinweis auf BVerfG Kammerbeschluss vom 5.5.1998 - 1 BvL 23/97 - juris; BSG Urteil vom 12.12.2018 - B 6 KA 50/17 R - BSGE ≪vorgesehen≫ = SozR 4-2500 § 95 Nr 35, RdNr 19 mwN; BSG Urteil vom 29.8.2012 - B 10 EG 8/11 R - juris RdNr 15). Die Beschwerde legt nicht dar, dass und warum dem Fall der Klägerin eine solche grundsätzliche rechtliche Bedeutung zukäme.
Soweit sie die genannte Senatsrechtsprechung auf allein tatsächlich nicht einfach gelagerte Fälle ausdehnen will, hat sie sich zur Begründung auf Angriffe gegen die Beweiswürdigung des LSG beschränkt. Eine solche Rüge scheitert aber bereits daran, dass nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann. Dieser Rügeausschluss könnte auch durch eine insoweit eventuell sinngemäß gerügte Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör aus § 62 SGG iVm Art 103 Abs 1 GG nicht umgangen werden.
Sofern die Beschwerde eine Überraschungsentscheidung rügen sollte, weil der Berichterstatter anstelle seiner zunächst geäußerten Tendenz letztlich eine andere Bewertung des Gesamt-GdB vorgenommen hat, legt sie nicht dar, wieso die Klägerin mit dieser Sachentscheidung angesichts der Beweisaufnahme und der vorangegangenen Vergleichsentscheidungen unter keinen Umständen habe rechnen können. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richtige Überzeugungsbildung leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl stRspr, Senatsbeschluss vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - juris RdNr 22 und vom 24.8.2017 - B 9 SB 44/17 B - juris RdNr 8). Die Beschwerde legt zudem nicht dar, welches Vorbringen durch das vermeintlich fehlerhafte Verhalten des LSG verhindert worden sein sollte. Sofern die Klägerin sich in diesem Zusammenhang gegen die Festsetzung des GdB durch das LSG und die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung wendet, ist diese nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (Senatsbeschluss vom 25.10.2019 - B 9 SB 40/19 B - juris RdNr 8 mwN).
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13909498 |