Beteiligte
Kläger und Revisionskläger, Prozeßbevollmächtigte |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Der 8. Senat hat dem Großen Senat durch Beschluß vom 7. August 1991 nach § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Werden sogenannte kleine Dauerrenten, welche nach § 604 RVO abgefunden sind, durch § 1278 RVO über den Zeitraum hinaus erfaßt, welcher dem Faktor entspricht, der dem Abfindungsbetrag zugrunde liegt?
Der Vorlage liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die beklagte Bundesknappschaft (BK) bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 24. September 1987 Knappschaftsruhegeld wegen Vollendung des 60. Lebensjahres und Arbeitslosigkeit ab 1. November 1987. Dabei stellte sie fest, die Versichertenrente in Höhe von jährlich 33.668, 60 DM ruhe gemäß § 75 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) in Höhe von 1.943, 95 DM wegen Zusammentreffens mit einer - abgefundenen - Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. aus der Unfallversicherung. Daraus ergab sich eine monatliche Minderung des Rentenzahlbetrages um rund 162,-- DM.
Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, seine Unfallrente für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 5. Januar 1948 sei durch Bescheid der Bergbau-Berufsgenossenschaft vom 19. Januar 1972 mit dem Betrag von 26.861, 40 DM abgefunden worden. Die Abfindungssumme sei auf der Basis von 16, 5 Jahresrenten seit Januar 1972 festgesetzt worden. Sie sei mithin nach Ablauf von 16, 5 Jahren seit Januar 1972 - also ab 1. Juli 1988 - verbraucht. Von diesem Zeitpunkt an könne daher § 75 RKG nicht mehr angewendet werden. Die BK wies den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 15. März 1988 mit folgender Begründung zurück: Wenn anstelle der Verletztenrente eine Abfindung gewährt worden sei, gelte die Rente nach § 75 Abs. 2 RKG für den Zeitraum als fortlaufend, für den die Abfindung bestimmt sei. Da die Abfindung nach § 604 RVO zum zeitlich unbegrenzten Wegfall der Unfallrente führe, sei die Abfindung für die restliche Lebenszeit des Versicherten bestimmt. Darauf erstrecke sich mithin das Ruhen nach § 75 Abs. 1 RKG. Der für die Berechnung des Kapitalwertes der Rente maßgebliche Multiplikator, der hier 16, 5 Jahre betragen habe, begrenze den Abfindungszeitraum nicht; er stelle lediglich eine Rechengröße zur Ermittlung des Abfindungsbetrages dar. Das teilweise Ruhen des Knappschaftsruhegeldes ende somit wegen der abgefundenen Unfallrente nicht am 1. Juli 1988.
Ein Rechtsmittel gegen den Bescheid vom 24. September 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 1988 legte der Kläger nicht ein. Er beantragte jedoch im Juli 1988 bei der BK, ihm spätestens ab 1. Juli 1988 das Knappschaftsruhegeld ohne Berücksichtigung der Unfallrentenabfindung zu zahlen. Die BK lehnte den Neufeststellungsantrag durch Bescheid vom 16. August 1988 unter Hinweis auf den bindend gewordenen Widerspruchsbescheid vom 15. März 1988 ab und wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 1988 zurück.
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 24. Mai 1989 abgewiesen; die Berufung des Klägers mit dem Antrag, ihm spätestens ab 1. Juli 1988 die ungekürzte Leistung zuzusprechen, hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 29. März 1990 zurückgewiesen. SG und LSG sind der Rechtsauffassung der BK gefolgt, wegen Abfindung der Unfallrente werde das teilweise Ruhen des Knappschaftsruhegeldes nicht durch die für die Bemessung der Unfallrentenabfindung maßgebende Zeit von 16, 5 Jahren begrenzt.
Der Kläger hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er begehrt, die BK unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen in Abänderung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, ihm ab 1. Juli 1988 Knappschaftsruhegeld ohne Anwendung der Ruhensbestimmung zu zahlen. Der Kläger rügt sinngemäß eine Verletzung des § 75 RKG und macht geltend, nach Abs. 2 dieser Bestimmung gelte eine anstelle der Verletztenrente gewährte Abfindung nur für den Zeitraum als fortlaufend, für den die Abfindung bestimmt sei. Da in § 604 RVO kein Zeitraum bestimmt sei, für den die Rente als abgefunden gelte, könne nach § 75 Abs. 2 RKG auf die Abfindung sogenannter kleiner Dauerrenten Abs. 1 dieser Vorschrift nicht angewendet werden. Selbst wenn man dieser Auffassung nicht folge, könne die Abfindung für eine kleine Dauerrente nur auf den Zeitraum bezogen werden, aus dem ihr Kapitalwert ermittelt worden sei. Die darüber hinausgehende Auslegung des § 75 RKG durch die BK bedeute eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung der Versicherten, deren kleine Unfalldauerrenten mit einem vom Lebensalter abhängigen Kapitalwert abgefunden worden seien. Keinesfalls habe der Gesetzgeber den Versicherten durch Anwendung der Ruhensbestimmung auf Lebenszeit weitaus höhere Beträge von ihrer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung abziehen wollen, als ihnen durch die Abfindung der kleinen Unfallrenten zugeflossen seien.
Der 8. Senat beabsichtigt, die Revision des Klägers zurückzuweisen und sich der Auffassung der BK zum Umfang des Ruhens des Knappschaftsruhegeldes wegen der für die kleine Unfallrente gezahlten Abfindung anzuschließen. Er sieht sich daran jedoch durch das Urteil des 5. Senats vom 25. April 1990 - 5 RJ 53/89 - (RV 1990, 173 = AmtlMittLVA Rheinpr 1991, 75) gehindert. Dort hat der 5. Senat den Rechtssatz aufgestellt, daß nach § 604 RVO abgefundene kleine Dauerrenten durch § 1278 RVO jedenfalls nicht über den Zeitraum hinaus erfaßt werden, welcher der Berechnung der Abfindung zugrunde gelegen hat.
Der 8. Senat ist demgegenüber der Auffassung, die Abfindung einer kleinen Dauerrente nach § 604 RVO sei keine Rentenkapitalisierung, sondern eine echte Kapitalabfindung. Die Verletztenrente werde nach § 604 RVO sowohl der Höhe nach als auch zeitlich in vollem Umfang abgefunden. Die Bemessung der Abfindung berücksichtige die zu erwartenden Rentenerhöhungen und die Kapitalverzinsung und sichere so eine dynamische Verletztenrente bis zum statistischen Lebensalter. Daher sei es nicht gerechtfertigt, von einem "Verzehr" der Abfindungssumme auszugehen. An die Stelle der Verletztenrente trete der Kapitalwert. Die Berechnung des Kapitalwertes habe der Gesetzgeber jedoch dem Verordnungsgeber überlassen und deshalb den in der später ergangenen Verordnung festgelegten Wert nicht kennen können. Der Abfindungsfaktor sei demnach kein Zeitfaktor. Insoweit habe auch keine Ermächtigung für den Verordnungsgeber vorgelegen. Mithin seien die Vorinstanzen zutreffend davon ausgegangen, daß die Unfallrente des Klägers für seine gesamte Lebenszeit als abgefunden und - mit der Ruhensfolge aus § 75 RKG - als fortlaufend gezahlt anzusehen sei. Dies entspreche auch der Regelung in § 584 Abs. 2 RVO.
Auf die Anfrage des 8. Senats hat der 5. Senat am 27. Februar 1991 beschlossen, an seiner im Urteil vom 25. April 1990 vertretenen Rechtsauffassung festzuhalten. Er ist der Auffassung, aus der Entstehungsgeschichte des § 1278 Abs. 2 Satz 3 RVO sei der Wille des Gesetzgebers klar ersichtlich. Dieser habe bis zur parlamentarischen Verabschiedung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) hinsichtlich abgefundener kleiner Dauerrenten an einer zeitlichen Begrenzung des Ruhens festgehalten. Dem würde es widersprechen, im Rahmen des § 1278 Abs. 2 Satz 3 RVO abgefundene kleine Dauerrenten lebenslänglich auf die Rente des Versicherten aus der Rentenversicherung anzurechnen. Der 5. Senat verweist hierzu auf das Urteil des 4. Senats vom 26. Oktober 1989 - 4 RLw 8/88 - (SozR 5850 § 4 Nr. 10), das sich auf das Urteil des 4b Senats vom 8. Oktober 1987 - 4b RV 25/86 - (Der Versorgungsbeamte 1988, 11) bezieht. Darin hat der 4b Senat die in der Ausgleichsrentenverordnung vorgesehene Anrechnung der Abfindung einer kleinen Unfallrente auf die versorgungsrechtliche Ausgleichsrente auf das Kapital begrenzt, das dem Berechtigten mit der Abfindung zufließt. Er hat in der auf der statistischen Lebenserwartung gründenden Berechnung des Kapitalwerts der kleinen Dauerrente den Maßstab für den Umfang der Anrechnung auf die Ausgleichsrente deshalb erblickt, weil nach seiner Auffassung nur solche Mittel, die für den Lebensunterhalt tatsächlich verbraucht werden können, geeignet sind, den durch die Ausgleichsrente abzudeckenden Bedarf zu mindern. In dem die Anrechnung einer abgefundenen kleinen Dauerrente aus der Unfallversicherung auf das vorzeitige Altersgeld aus der landwirtschaftlichen Alterssicherung betreffenden Urteil hat der 4. Senat - neben anderen Erwägungen - ausgeführt, die lebenslängliche Anrechnung abgefundener kleiner Dauerrenten würde unter Umständen über die Aufzehrung der Abfindung hinaus zur Anrechnung eines Mehrfachen der Abfindung führen und damit eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Benachteiligung der Empfänger abgefundener kleiner Dauerrenten nach sich ziehen.
Entscheidungsgründe
II.
Der Große Senat hat über die Vorlage gemäß Art 11 Abs. 1 des Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2847), das hinsichtlich der Bestimmungen über den Großen Senat (Art 4 Nrn 1 und 2) am 1. Januar 1992 in Kraft getreten ist, zu entscheiden. Die nach § 42 SGG i.d.F. vor dem 1. Januar 1992 erfolgte Vorlage ist nunmehr eine solche nach § 41 Abs. 2 SGG nF. Eine inhaltliche Änderung ist in der neuen Bestimmung nicht enthalten.
Geändert hat sich indes die Besetzung des Großen Senats. Sie richtet sich nunmehr nach § 41 Abs. 5 SGG nF. Bei Anwendung dieser Bestimmung hat der Große Senat hinsichtlich der aus dem Kreis der Arbeitgeber vorgesehenen zwei ehrenamtlichen Richter, von denen einer ebenso verhindert war wie die vom Präsidium bestellten Vertreter, auf die Regelung des Abschnitts C II Abs. 2 des Geschäftsverteilungsplanes des Bundessozialgerichts für das Jahr 1992 zurückgegriffen. Danach war wegen Ausfalls eines ehrenamtlichen Richters einer der nach dem Verzeichnis des Geschäftsverteilungsplanes in Kassel oder in der Nähe von Kassel wohnenden ehrenamtlichen Richter in der Reihenfolge des Verzeichnisses zuzuziehen. Dies ist geschehen.
Die Vorlage ist zulässig. Es begegnet keinen Bedenken, daß der 8. Senat "in einer Rechtsfrage" von der Entscheidung des 5. Senats abweichen will. Hierzu ist nicht erforderlich, daß die Rechtsfrage im gleichen Gesetz enthalten ist und textlich übereinstimmt (vgl. Großer Senat in BSGE 44, 151, 154). Es genügt die abweichende Auslegung des gleichen Rechtssatzes, wenn er auch in verschiedenen Vorschriften seinen Niederschlag gefunden hat (Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl, § 42 Anm. 4 m.w.N.).
Die Entscheidung des 5. Senats, von der der 8. Senat abweichen will, ist zu § 1278 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 RVO ergangen. Der 8. Senat hat dagegen über § 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 RKG zu entscheiden. Beide Bestimmungen sind jedoch in den wesentlichen Punkten wortgleich und haben - wie auch § 55 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) - ihre gemeinsame Wurzel in Art 2 des UVNG vom 30. April 1963 (BGBl. I S. 241), nämlich in den Nrn 5, 22 und 27 seines Artikels 2. Übereinstimmender Regelungsgehalt ist die Anrechnung abgefundener Verletztenrenten auf Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Wege des Ruhens.
Die Vorlage des 8. Senats ist nicht dadurch gegenstandslos geworden, daß mit Wirkung vom 1. Januar 1992 § 1278 RVO und § 75 RKG aufgehoben (vgl. Art 6 Nr. 24 und Art 83 Nr. 3, jeweils i.V.m. Art 85 Abs. 1 des Rentenreformgesetzes 1992 - RRG 1992 - vom 18. Dezember 1989 - BGBl. I S. 2261) und durch § 93 des Sozialgesetzbuchs, Sechstes Buch, Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) vom 18. Dezember 1989 (BGBl. I S. 2261) ersetzt worden sind. Da der Kläger seinen Anspruch auf Zahlung des Knappschaftsruhegeldes ohne Berücksichtigung der Unfallrentenabfindung schon vor dem 1. Januar 1992 erhoben hat, beurteilt sich dieser Anspruch noch nach den bis dahin geltenden Rechtsvorschriften (§ 300 Abs. 2 SGB VI; dazu BSG SozR 3-6480 Art 22 Nr. 1 S. 2f.).
III.
Die Vorlagefrage ist zu verneinen. Die Abfindung einer kleinen Dauerrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 604 RVO führt zwar grundsätzlich (Ausnahme: § 606 RVO) zu deren Wegfall für die restliche Lebenszeit des Verletzten. Entgegen der Auffassung des 8. Senats bedeutet dies jedoch nicht, daß deshalb nach den §§ 1278 RVO, 55 AVG und 75 RKG ein zeitlich unbeschränktes lebenslanges Ruhen eines Teiles der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung eintritt. Diese Folgerung ergibt sich in sachgerechter Ergänzung des insoweit lückenhaften Inhalts der genannten Regelungen. Das Vorliegen einer Regelungslücke wird aus der Entwicklung der Ruhensbestimmung und dem Gesetzgebungsverfahren des UVNG deutlich.
Bis zum Inkrafttreten des UVNG war ein Ruhen der Rente aus der Rentenversicherung wegen Abfindung einer kleinen Dauerrente aus der Unfallversicherung nicht vorgesehen. Dem zum Ruhen der Rente aus der Rentenversicherung führenden Zusammentreffen dieser Rente mit einer Rente aus der Unfallversicherung war vielmehr nur eine an die Stelle der Verletztenrente tretende Krankenhauspflege oder Heilanstaltspflege (Anstaltspflege) gleichgestellt. Um dies zu ändern, sah schon der Entwurf des UVNG zu den Ruhensbestimmungen der §§ 1278 RVO, 55 AVG und 75 RKG in den Sätzen 1 Nr. 1 der Absätze 2 vor, daß die Ruhensbestimmungen der Absätze 1 auch gelten sollten, "soweit anstelle der Verletztenrente eine Abfindung gewährt worden ist". In den Sätzen 2 der Absätze 2 dieser Bestimmungen war festgelegt, daß die Rente nach Nr. 1 - die abgefundene Rente - für den Zeitraum als fortlaufend gelte, für den die Abfindung bestimmt sei. Schließlich wurde für die abgefundene kleine Dauerrente bestimmt, daß diese für fünf Jahre als fortlaufend gelte (BT-Drucks IV/120 Art 2 Nrn 3, 14 und 17).
Die Begrenzung der Fiktion des Fortlaufens der abgefundenen kleinen Dauerrenten auf fünf Jahre entsprach dem im Entwurf des UVNG geplanten Abfindungsbetrag für kleine Dauerrenten, der mit dem Fünffachen der Jahresrente vorgesehen war (BT-Drucks IV/120 Art 1 zu § 601 Abs. 1). Dies bedeutete eine deutliche Verbesserung der Leistung gegenüber dem zuvor geltenden Recht, da dieses als Abfindung nur den dreifachen Betrag der Jahresrente vorsah.
Der Entwurf des UVNG erfuhr im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens in seinem unfallversicherungsrechtlichen Teil für die Abfindung kleiner Dauerrenten zwei Änderungen. Zunächst wurde vom Ausschuß für Sozialpolitik die nach dem Entwurf von Amts wegen mögliche Abfindung in eine solche auf Antrag des Verletzten geändert (BT-Drucks IV/938 S. 65). Sodann wurde in der zweiten und dritten Beratung des UVNG im Bundestag der im Entwurf des UVNG als Abfindungsbetrag vorgesehene fünffache Betrag der Jahresrente durch einen "dem Kapitalwert der Rente entsprechenden Betrag" ersetzt und zugleich festgelegt, daß die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die Berechnung des Kapitalwertes durch Rechtsverordnung bestimmen solle (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 4. Wahlperiode, 62. Sitzung, S. 2842 und 2843).
Bei der o. a. zweiten und dritten Beratung des UVNG im Bundestag wurden jedoch die Ruhensbestimmungen (§§ 1278 RVO, 55 AVG und 75 RKG) in ihren Absätzen 2 zu den Sätzen 2, welche bei den als fortlaufend geltenden abgefundenen kleinen Dauerrenten die Fiktion des Fortlaufens dieser Renten für fünf Jahre festgelegt hatten, unverändert beschlossen (a.a.O. S. 2857). Vor der Schlußabstimmung wies der Präsident des Bundestages darauf hin, "daß mit Rücksicht auf die Fülle der Änderungen, die heute beschlossen worden sind, der Präsident ermächtigt werden sollte, notfalls erforderliche redaktionelle Änderungen, die nicht berücksichtigt worden sind, noch vorzunehmen". Dies wurde so beschlossen und sodann das UVNG in der Schlußabstimmung angenommen (a.a.O. S. 2883 zu C und D).
Im Wege der "redaktionellen Änderung" wurde sodann mit Einverständnis des Vorsitzenden des Ausschusses für Sozialpolitik, Prof. Dr. Schellenberg (SPD), des Sprechers der CDU/CSU-Fraktion Stingl und des Sprechers der FDP-Fraktion Spitzmüller in den §§ 1278 Abs. 2 RVO, 55 Abs. 2 AVG und 75 Abs. 2 RKG jeweils der letzte Halbsatz - die Begrenzung der Fiktion des Fortlaufens abgefundener kleiner Dauerrenten auf fünf Jahre - gestrichen. In dieser verkürzten Form wurden die genannten Bestimmungen dem Bundesrat zugeleitet, von diesem gebilligt und schließlich im Bundesgesetzblatt bekannt gemacht.
Die Frage, ob die abgefundene Dauerrente unbefristet oder nur für einen begrenzten Zeitraum zu berücksichtigen ist, wird demnach im Gesetzestext - entgegen der Auffassung des 8. Senats des BSG - nicht beantwortet. Der Bundestag hat im Gesetzesbeschluß für abgefundene kleine Dauerrenten den Ruhenszeitraum nicht geregelt. In dem zur Abstimmung gestellten Beschlußwortlaut war zwar eine Befristung auf fünf Jahre vorgesehen. Für diese Befristung war indes mit der Änderung des Abfindungsbetrages die Grundlage entfallen. Damit bleibt offen, ob der Bundestag die Befristung entsprechend der Erhöhung des Abfindungsbetrages "auf den der Rentenabfindung zugrunde gelegten Zeitfaktor" ändern oder aber einen vollständigen Wegfall der Befristung wollte. Soweit die vom Bundestagspräsidenten vorgenommene Streichung des letzten Halbsatzes der Absätze 2 der §§ 1278 RVO, 55 AVG und 75 RKG den Eindruck erweckt, der Bundestag habe einen vollständigen Wegfall der Befristung beschlossen, überschreitet dies die Ermächtigung zu redaktionellen Änderungen, auch bei Berücksichtigung der Zustimmung des Ausschußvorsitzenden und der Sprecher der Fraktionen. Deren nachträgliche Zustimmung belegt nicht, daß schon der Bundestag einen vollständigen Wegfall der Befristung gewollt hat. Die Ermächtigung zu redaktionellen Änderungen rechtfertigt es nicht, Gesetzeslücken zu füllen. Das gilt insbesondere, wenn die Lückenfüllung so tief in die Rechte der Versicherten eingreift wie die vollständige Streichung der Befristung im Vergleich mit einer Befristung auf den der Rentenabfindung zugrundeliegenden Zeitfaktor.
Zwar läßt sich der Wortlaut der Vorschrift nunmehr dahin interpretieren, daß ein Ruhen für den Zeitraum eintritt, für den unfallversicherungsrechtlich eine Abfindung gezahlt wird. Doch stammt diese Wortfassung aus einem Regelungszusammenhang, der für das Ruhen abgefundener Verletztenrenten in der Rentenversicherung grundsätzlich eine zeitliche Begrenzung vorsah. Eine Abfindung auf Lebenszeit mit der Folge eines Ruhens der Rente aus der Rentenversicherung auf unbegrenzte Zeit stellt demgegenüber einen wesentlich stärkeren Eingriff dar, auch wenn der Abfindungsbetrag der Verletztenrente in der Gesetz gewordenen Fassung gegenüber dem Entwurf des UVNG erheblich höher ist. Aus dem Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wird deutlich, daß dem Gesetzgeber die notwendigen rentenversicherungsrechtlichen Folgen nicht bewußt waren, die sich aus der in der zweiten Beratung beschlossenen Erhöhung des Abfindungsbetrages ergaben. Es ging darum, bei den Verletzten Anreize für die Anträge auf Abfindung kleiner Dauerrenten und gleichzeitig auch eine Verwaltungsvereinfachung zu schaffen (so die Abgeordneten Geiger ≪SPD≫ und Stingl ≪CDU/CSU≫ a.a.O. S. 2842 und 2843). Mit dieser Absicht war es unvereinbar, die den Verletzten auf ihre Anträge in verbesserter Form zugedachten Abfindungen ihrer kleinen Dauerrenten durch die genannten Ruhensbestimmungen über die Abfindungsbeträge hinaus auf ihre etwaigen Renten aus der Rentenversicherung anzurechnen und ihnen damit wirtschaftliche Nachteile zuzufügen, sobald ihnen - im Vorlagefall nach mehr als fünfzehn Jahren - derartige Renten zu zahlen sind. Der dem Bundestagspräsidenten erteilten Ermächtigung, "notfalls erforderliche redaktionelle Änderungen, die nicht berücksichtigt worden sind, noch vorzunehmen", hätte es eher entsprochen, statt der gestrichenen letzten Halbsätze in den Absätzen 2 der §§ 1278 RVO, 55 AVG und 75 RKG, nämlich statt der Begrenzung der Fiktion des Fortlaufens der abgefundenen Unfallrenten auf fünf Jahre die Worte "im Falle des § 604 RVO für den der Rentenabfindung zugrunde gelegten Zeitfaktor" einzusetzen. Das ist jedoch nicht geschehen.
Der Auffassung des 8. Senats, eine Regelungslücke liege u.a. deshalb nicht vor, weil die Fiktion des Fortlaufens der abgefundenen kleinen Unfallrenten - für den Zeitraum, für den die Abfindung bestimmt ist - in den nicht gestrichenen Teilen der Absätze 2 der §§ 1278 RVO, 55 AVG und 75 RKG alle denkbaren Fälle erfasse, vermag der Große Senat nicht zu folgen. Sie setzt voraus, daß der Gesetzgeber mit den Gesetz gewordenen Bestimmungen bewußt auch die Zeitdauer der Anrechnung abgefundener kleiner Dauerrenten regeln wollte. Das war jedoch nach dem Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens nicht der Fall. Der Plan des Gesetzgebers ging vielmehr entgegen der Auffassung des vorlegenden Senats dahin, die Bezieher kleiner Dauerrenten aus der Unfallversicherung durch eine großzügige Bemessung der Abfindungssumme zu Abfindungsanträgen zu veranlassen (§ 604 RVO), gleichzeitig aber eine sich daraus möglicherweise ergebende Doppelversorgung durch begrenzte Anrechnung sowohl der fortlaufenden als auch der abgefundenen Unfallrenten auf die Renten aus der Rentenversicherung zu vermeiden (§§ 1278 RVO, 55 AVG und 75 RKG). Dabei mußte der an den allgemeinen Gleichheitssatz gebundene Gesetzgeber darauf Bedacht nehmen, die abgefundenen und die nicht abgefundenen kleinen Dauerrenten sachlich gleich zu behandeln. Als sachlicher Gesichtspunkt muß bei einer Regelung, die eine Doppelversorgung vermeiden soll, das Maß der zusammentreffenden Leistungen im Vordergrund stehen. Insoweit unterscheidet sich die fortlaufende von der abgefundenen Dauerrente dadurch, daß bei ersterer eine lebenslange monatliche Leistung erfolgt, während bei letzterer ein pauschalierter Abfindungsbetrag gewährt wird.
Hinzu kommen muß die Erwägung, daß die durch eigene Beiträge erworbenen Rentenansprüche aus der Rentenversicherung nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Eigentumsschutz nach Art 14 des Grundgesetzes unterliegen (BVerfGE 69, 272, 300 m.w.N.). Eine Kürzung dieser Rentenansprüche ist daher nur in engen Grenzen und jedenfalls nicht über das Maß hinaus zulässig, das sich aus dem Zusammentreffen mit einer anderen Sozialleistung ergibt (vgl. BVerfG SozR 2200 § 1278 Nr. 11 m.w.N.). Diesem Gesichtspunkt kommt entgegen der Auffassung des 8. Senats besondere Bedeutung zu, weil der Kapitalwert der abgefundenen kleinen Dauerrente zwar unter Berücksichtigung eines Abzinsungsfaktors errechnet, die Dynamisierung der Unfallrente aber nicht in die Berechnung eingegangen ist (vgl. die Begründung zur VO über die Berechnung des Kapitalwertes bei der Abfindung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach §§ 604 und 616 der RVO - BR-Drucks 433/65).
Solange eine spezielle gesetzliche Regelung zur Anrechnung nicht besteht, kann deshalb in der Rentenversicherung der Gedanke, eine Doppelversorgung zu vermeiden, nur insoweit greifen, als tatsächlich Leistungen gewährt wurden, weil nur dies aus Art und Ausmaß der gewährten anderen Leistung zu begründen ist. Einer Ruhensanordnung in der Rentenversicherung liegen andere Erwägungen zugrunde als der unfallversicherungsrechtlichen Regelung zu Umfang und Wirkung der Abfindung in der Unfallversicherung. In der Rentenversicherung geht es um die Frage, inwieweit es gerechtfertigt ist, den eigentumsgeschützten Rentenanspruch aufgrund des Bezuges einer anderen Leistung zu mindern. Auch soll die Rente aus der Rentenversicherung einen Einkommensverlust ausgleichen, der sich an dem vor Eintritt des Versicherungsfalles erzielten Erwerbseinkommen orientiert. Bei der zeitlich unbegrenzten Anrechnung der abgefundenen Verletztenrente würde noch Jahrzehnte nach Empfang des Abfindungsbetrages ein Einkommen angerechnet, das für das durch die Rente aus der Rentenversicherung ersetzte Erwerbseinkommen schon längst keine Bedeutung mehr hat. Der Große Senat verkennt nicht, daß es für die Anrechnung der Abfindung verschiedene denkbare Modelle gibt. In Betracht kommt z.B. die im Gesetzentwurf des UVNG vorgesehene Lösung, nach der das Ruhen nur für die Zeitdauer eintritt, die dem Abfindungsbetrag entspricht, oder eine Lösung, die den für die Abfindung maßgebenden Abzinsungsfaktor bei der Ruhensdauer berücksichtigt. Im letzteren Fall wäre die Dauer möglicherweise um einen angemessenen Faktor für die nicht berücksichtigte Dynamisierung der Verletztenrente zu verkürzen. Zwischen den verschiedenen Lösungsmöglichkeiten zu entscheiden, ist jedoch in erster Linie Sache des Gesetzgebers. Im Rahmen der Lückenfüllung kann im hier zu entscheidenden Fall nur auf die Lösung zurückgegriffen werden, die dem Gesetzentwurf zugrunde lag. Dies ist die Ruhensdauer, die dem Abfindungsbetrag entspricht.
Die Regelungslücke ist also in der Weise zu schließen, daß an die Stelle des zunächst sowohl für die Abfindung als auch für das Ruhen einheitlich vorgesehenen Zeitfaktors von fünf Jahren der Faktor zu setzen ist, der für die Abfindung an die Stelle dieser fünf Jahre getreten ist. Das aber ist der sich aus der Kapitalwertverordnung im Einzelfall ergebende Faktor für die Bemessung der Abfindung nach Jahresrenten. Im Vorlagefall war dies die Auszahlung eines Abfindungsbetrages, der dem 16, 5f.achen der Jahresrente entsprach.
Damit folgt der Große Senat den schon in der Rechtsprechung des 4. und 5. Senats hervorgehobenen Grundsätzen. Dies geschieht auch im Interesse der Rechtssicherheit (vgl. Großer Senat in BSGE 44, 151, 163 zu 5 m.w.N.) und nicht zuletzt in der Erwägung, daß dieses Verständnis der Ruhensvorschriften für die Verwaltung zu einer einfach zu handhabenden Rechtsanwendung und für den einen Abfindungsantrag erwägenden Verletzten zu einem überschaubaren Risiko führt.
Der Große Senat beantwortet somit die ihm vom 8. Senat vorgelegte Rechtsfrage dahin, daß sogenannte kleine Dauerrenten, welche nach § 604 RVO abgefunden sind, durch § 1278 RVO nicht über den Zeitraum hinaus erfaßt wurden, welcher dem Faktor entspricht, der dem Abfindungsbetrag zugrunde liegt.
Fundstellen
Haufe-Index 518239 |
BSGE, 155 |