Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Verletzung rechtlichen Gehörs. fehlerhafter Terminsbeginn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung
Orientierungssatz
Ist im Ladungsschreiben zur mündlichen Verhandlung eine fehlerhafte Uhrzeit als Terminsbeginn genannt und der Kläger hierdurch an einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gehindert worden, so liegt ein Verfahrensfehler wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs gem § 62 SGG iVm Art 103 Abs 1 GG vor.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, §§ 124, 62; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 05.05.2009; Aktenzeichen L 1 AL 51/07) |
SG Köln (Urteil vom 21.06.2007; Aktenzeichen S 22 AL 55/04) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt Überbrückungsgeld (Übbg) nach § 57 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) in der im Jahre 2003 geltenden Fassung im Zusammenhang mit der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit als Rechtsanwalt.
Der Kläger, der bis 3. Januar 2003 Arbeitslosengeld (Alg) bezogen hatte, beantragte am 9. Januar 2003 bei der Beklagten die Gewährung von Übbg. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger habe den Antrag nicht vor Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses gestellt (Bescheid vom 25. November 2003, Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 2004).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. Juni 2007). Der Kläger hat fristgerecht Berufung eingelegt und zu ihrer Begründung Schriftsätze beim Landessozialgericht (LSG) eingereicht. Zu dem vom LSG auf 5. Mai 2009, 11.30 Uhr, bestimmten Termin zur mündlichen Verhandlung ist der Kläger nicht erschienen. Das LSG hat nach Durchführung der mündlichen Verhandlung die Berufung des Klägers durch Urteil vom 5. Mai 2009 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat das LSG ua ausgeführt, es sei nach dem ihm vorliegenden Akteninhalt davon ausgegangen, dass der Kläger ordnungsgemäß geladen sei und deshalb in Abwesenheit des Klägers entschieden werden könne. Die Berufung sei zulässig, aber nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide seien nicht rechtswidrig. Die für die Bewilligung von Übbg erforderliche Voraussetzung des § 57 Abs 2 Nr 1 SGB III, dass die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit mit einer Entgeltersatzleistung nach dem SGB III in engem zeitlichen Zusammenhang stehe, sei nicht erfüllt. Der Kläger habe die tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit als Rechtsanwalt in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Alg-Bezug nicht nachgewiesen.
Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 62 Sozialgerichtsgesetz (SGG), Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG). Er habe eine Ladung zum Termin am 5. Mai 2009, 14.45 Uhr, erhalten. Bei seinem Eintreffen vor dem Sitzungssaal des LSG gegen 14.15 Uhr habe er der ausgehängten Rolle für seine Sache eine Zeitangabe von 11.30 Uhr entnommen. Der Vorsitzende habe ihm auch bestätigt, dass seine Sache bereits um 11.30 Uhr aufgerufen und dann nach Abwarten von einigen Minuten verhandelt und entschieden worden sei. Der Sitzungsvertreter der Beklagten habe bestätigt, dass auch er eine Ladung auf 14.45 Uhr erhalten habe. Bei dieser Sachlage habe eine Entscheidung zu seinem Nachteil nicht ergehen dürfen. Die fehlende Ladung stelle den "Extremfall des Versagens rechtlichen Gehörs" dar. Obwohl es nicht einmal darauf ankomme, ob das Urteil auf diesem Verfahrensverstoß beruhen könne, sei dies bei dem die Berufung zurückweisenden Urteil des LSG der Fall.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet.
Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet substantiiert und schlüssig die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs iS des § 62 SGG bzw des Art 103 Abs 1 GG ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Mangel beruhen kann.
Der gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt tatsächlich vor und die angefochtene Entscheidung kann auf ihm beruhen.
Aus den beigezogenen Akten des LSG lässt sich die Richtigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers nachvollziehen. Demnach enthalten die an die Beteiligten versandten Ladungsschreiben einen Terminsbeginn um 14.45 Uhr, während die Einträge im Programm und der Datenbank die korrekte Uhrzeit 11.30 Uhr ausweisen (Vermerke des LSG vom 7. Mai 2009). Mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung vor dem in der Ladung angegebenen Zeitpunkt in Abwesenheit des Klägers und der getroffenen Entscheidung der Zurückweisung der Berufung ist der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Denn dieser Grundsatz macht es erforderlich, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Dies wird insbesondere in der mündlichen Verhandlung, die Kernstück des gerichtlichen Verfahrens ist, verwirklicht (§ 124 Abs 1 SGG, zum Grundsatz der Mündlichkeit vgl bereits BSGE 1, 277, 278 und 17, 44, 46; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 mwN). Unter den gegebenen Umständen ist der Kläger an einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gehindert worden.
Die angefochtene Entscheidung kann auf dem festgestellten Verfahrensmangel beruhen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist wegen des besonderen Rechtswertes der mündlichen Verhandlung im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran hindert, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Entscheidung beeinflusst (vgl ua BSGE 53, 83 = SozR 1500 § 124 Nr 7; BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1; SozR 4-1750 § 227 Nr 1). Unabhängig davon ist nicht auszuschließen, dass die Entscheidung des LSG anders ausgefallen wäre, wenn der Kläger Gelegenheit gehabt hätte, sich in der mündlichen Verhandlung zu den rechtlichen und tatsächlichen Aspekten des streitigen Anspruchs auf Übbg zu äußern.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Letzteres ist - wie ausgeführt - der Fall. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten. Für eine vom Kläger gewünschte gesonderte Entscheidung des BSG über die Kosten des Beschwerdeverfahrens gibt es keine Rechtsgrundlage.
Fundstellen