Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verstoß gegen Grundsatz der freien Beweiswürdigung. kein Zulassungsgrund. keine Verletzung der Begründungspflicht
Orientierungssatz
1. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist nach § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 128 Abs 1 S 1 SGG nicht geeignet, zur Zulassung der Revision zu führen. Der Ausschluss umfasst auch die Rüge eines Verstoßes gegen Denkgesetze (vgl BSG vom 26.1.1977 - 11 BA 184/76 = SozR 1500 § 160 Nr 26; BSG vom 31.1.2017 - B 3 KR 44/16 B = juris RdNr 10; BSG vom 15.4.2019 - B 13 R 233/17 B = juris RdNr 17).
2. Gemäß § 128 Abs 1 S 2 SGG sind in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das bedeutet, aus den Entscheidungsgründen muss ersichtlich sein, auf welchen Erwägungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die Entscheidung beruht. Dafür muss das Gericht aber nicht jeden Gesichtspunkt, der erwähnt werden könnte, abhandeln (vgl BVerfG vom 1.8.1984 - 1 BvR 1387/83 = SozR 1500 § 62 Nr 16; BVerfG vom 25.3.2010 - 1 BvR 2446/09 = juris RdNr 11; BSG vom 4.9.2018 - B 12 KR 16/17 R = USK 2018-75 = juris RdNr 25).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 128 Abs. 1 Sätze 1-2
Verfahrensgang
SG Stuttgart (Entscheidung vom 25.01.2018; Aktenzeichen S 22 KR 130/14) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 29.01.2021; Aktenzeichen L 4 KR 838/18) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Januar 2021 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Bei der 1964 geborenen, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherten Klägerin wurde im April 2013 ein vorwiegend bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auftretendes Ewing-Sarkom (hochmaligner Knochenkrebs) ohne Fernmetastasen festgestellt. Die Behandlung der Klägerin begann im Juli 2013 nach dem Ewing 2008-Protokoll mit einer neoadjuvanten Chemotherapie. Im Dezember 2013 wurde der Tumor durch eine Teilresektion des linken Schulterblatts und die partielle Resektion der umgebenden Muskulatur vollständig entfernt. Ab Februar 2014 erfolgte die adjuvante Chemotherapie und begleitend eine Strahlentherapie. Ergänzend hierzu behandelte der zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Hausarzt H. die Klägerin privatärztlich im Mai und Juni 2013 sowie Juni bis Anfang September 2014 mit einer Radiofrequenz-Elektrohyperthermie. Mit ihrem auf Erstattung der Kosten dieser Hyperthermiebehandlung iH von 11 628,54 Euro gerichteten Begehren ist die Klägerin bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, die ambulante Krebsbehandlung durch Hyperthermie als Ergänzung einer Chemotherapie sei aufgrund einer Ausschlussentscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) nicht Bestandteil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Es liege weder ein Systemversagen noch ein Seltenheitsfall vor und der Sachleistungsanspruch ergebe sich auch nicht aus § 2 Abs 1a SGB V. Zwar stelle das Ewing-Sarkom eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung dar. Für diese habe aber eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nach dem Ewing 2008-Protokoll zur Verfügung gestanden. Außerdem habe die Tiefenhyperthermie keine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf geboten (Urteil vom 29.1.2021).
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe des Verfahrensmangels (dazu 1.), der Divergenz (dazu 2.) und der grundsätzlichen Bedeutung (dazu 3.).
1. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 mwN; BSG vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN). Daran fehlt es.
a) Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerdebegründung in erster Linie gegen die Beweiswürdigung und die Rechtsanwendung des LSG und rügt vorrangig, die angegriffene Entscheidung verstoße gegen "Gesetze der Denklogik". Damit kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein nicht begründet werden. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist nach § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nicht geeignet, zur Zulassung der Revision zu führen. Der Ausschluss umfasst auch die Rüge eines Verstoßes gegen Denkgesetze (vgl BSG vom 26.1.1977 - 11 BA 184/76 - SozR 1500 § 160 Nr 26; BSG vom 31.1.2017 - B 3 KR 44/16 B - juris RdNr 10; BSG vom 15.4.2019 - B 13 R 233/17 B - juris RdNr 17). Und auch die Frage, ob das Berufungsgericht in der Sache richtig entschieden hat, ist nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (stRspr; vgl BSG vom 26.6.1975 - 12 BJ 12/75 - SozR 1500 § 160a Nr 7; BSG vom 26.1.2005 - B 12 KR 62/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 18; BSG vom 31.10.2012 - B 13 R 107/12 B - juris RdNr 21; BSG vom 17.7.2020 - B 1 KR 34/19 B - juris RdNr 6). Das gilt auch, soweit die Klägerin rügt, die Auslegung und Anwendung der einfachgesetzlichen Vorschriften des SGB V durch das LSG verstoße gegen Art 3 Abs 1 GG. Im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren kann die Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung nur im Sinne einer willkürlichen Handhabung verfahrensrechtlicher Bestimmungen auf dem Weg zur Entscheidung (sog "error in procedendo") als Verfahrensmangel gerügt werden (vgl zur Verletzung des Willkürverbots BSG vom 12.12.2018 - B 6 KA 23/18 B - juris RdNr 31). Einen solchen Verfahrensmangel hat die Klägerin nicht dargetan (zur Vereinbarkeit der unterschiedlichen Ausgestaltung des Beihilferechts im öffentlichen Dienst gegenüber dem SGB V mit Art 3 Abs 1 GG vgl im Übrigen BSG vom 28.9.2010 - B 1 KR 26/09 R - SozR 4-2500 § 27a Nr 12 RdNr 14).
b) Die Klägerin rügt ferner eine Verletzung der Begründungspflicht. Nach § 136 Abs 1 Nr 6 SGG enthält das Urteil die Entscheidungsgründe. Gemäß § 128 Abs 1 Satz 2 SGG sind in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das bedeutet, aus den Entscheidungsgründen muss ersichtlich sein, auf welchen Erwägungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die Entscheidung beruht. Dafür muss das Gericht aber nicht jeden Gesichtspunkt, der erwähnt werden könnte, abhandeln (vgl BVerfG ≪Dreier-Ausschuss≫ vom 1.8.1984 - 1 BvR 1387/83 - SozR 1500 § 62 Nr 16; BVerfG ≪Kammer≫ vom 25.3.2010 - 1 BvR 2446/09 - juris RdNr 11; BSG vom 4.9.2018 - B 12 KR 16/17 R - juris RdNr 25). Auch braucht es nicht zu Fragen Stellung nehmen, auf die es nach seiner Auffassung nicht ankommt. Eine Entscheidung ist nicht schon dann nicht mit Gründen versehen, wenn das Gericht sich unter Beschränkung auf den Gegenstand der Entscheidung kurz gefasst und nicht jeden Gesichtspunkt, der möglicherweise hätte erwähnt werden können, behandelt hat. Die Begründungspflicht wäre selbst dann nicht verletzt, wenn die Ausführungen des Gerichts zu den rechtlichen Voraussetzungen und tatsächlichen Gegebenheiten falsch, oberflächlich oder wenig überzeugend sein sollten (BSG aaO; BSG vom 22.1.2008 - B 13 R 144/07 B - juris RdNr 7 mwN). Dass gemessen daran das 27 Seiten umfassende Urteil des LSG als nicht mit Gründen versehen anzusehen ist, legt die Klägerin nicht dar. Vielmehr rügt sie auch insoweit in der Sache nur die - vermeintlich - unrichtige Rechtsanwendung und Beweiswürdigung durch das LSG.
c) Die von der Klägerin ebenfalls erhobene Sachaufklärungsrüge (§ 103 SGG) erfordert ua, dass in der Beschwerdebegründung ein für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbarer, bis zuletzt aufrechterhaltener oder im Urteil wiedergegebener Beweisantrag bezeichnet wird, dem das LSG nicht gefolgt ist (stRspr; vgl zB BSG vom 16.5.2019 - B 13 R 222/18 B - juris RdNr 12 mwN). Hierzu gehört nach stRspr des BSG die Darlegung, dass ein - wie die Klägerin - anwaltlich vertretener Beteiligter einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung ausdrücklich gestellt oder aufrechterhalten hat (vgl BSG vom 16.7.2019 - B 13 R 150/19 B - juris RdNr 14 mwN; vgl dazu auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160 RdNr 18c mwN; zu § 124 Abs 2 SGG vgl BSG vom 18.12.2000 - B 2 U 336/00 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 31 S 52). Der Tatsacheninstanz soll dadurch vor Augen geführt werden, dass der Betroffene die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion (vgl BSG vom 24.11.1988 - 9 BV 39/88 - SozR 1500 § 160 Nr 67; BSG vom 10.4.2006 - B 1 KR 47/05 B - juris RdNr 9 mwN; BSG vom 1.2.2013 - B 1 KR 111/12 B - RdNr 8). Die Warnfunktion des Beweisantrags entfällt, wenn Beweisantritte lediglich in der Berufungsschrift oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind (vgl BSG vom 17.12.2020 - B 1 KR 84/19 B - juris RdNr 5; BSG vom 26.4.2021 - B 1 KR 52/20 B - juris RdNr 5).
Die Klägerin verweist zwar auf einen in dem Schriftsatz vom 8.6.2018 (Berufungsbegründung) enthaltenen Beweisantritt (Beweisanregung), legt aber nicht dar, dass sie diesen als Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung am 29.1.2021 gestellt hat.
2. Wer sich auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl zB BSG vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B - juris RdNr 6; BSG vom 9.5.2018 - B 1 KR 55/17 B - juris RdNr 8; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Darlegungsanforderungen vgl BVerfG ≪Dreierausschuss≫ vom 8.9.1982 - 2 BvR 676/81 - juris RdNr 8). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat; dies hat der Beschwerdeführer schlüssig darzulegen (vgl zB BSG vom 19.11.2019 - B 1 KR 72/18 B - juris RdNr 8). Daran fehlt es.
a) Die Klägerin zitiert zwar Rechtssätze aus Entscheidungen des BVerfG (BVerfG vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5; BVerfG vom 29.11.2007 - 1 BvR 2496/07 - SozR 4-2500 § 27 Nr 17; BVerfG vom 26.2.2013 - 1 BvR 2045/12 - NJW 2013, 1664), stellt diesen aber keinen hiervon abweichenden Rechtssatz des LSG gegenüber, sondern rügt lediglich, die angegriffene Entscheidung werde diesen Grundsätzen "nicht gerecht". Damit wendet sie sich abermals nur gegen die inhaltliche Richtigkeit des angegriffenen Urteils (s dazu bereits oben 1.a).
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b) Die Klägerin bezeichnet überdies einen Rechtssatz aus dem LSG-Urteil: |
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"Auch bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen sind Erkenntnisse zur Wirksamkeit einer Behandlungsmethode erforderlich (…). Rein experimentelle Behandlungsmethoden, die nicht durch hinreichende Indizien gestützt sind reichen nicht aus." |
Diesem Rechtssatz stellt sie aber keinen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG gegenüber, sondern lediglich Rechtssätze aus einer Entscheidung eines anderen Senats des LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 22.2.2017 - L 5 KR 1653/15). Sofern man dieses Vorbringen sinngemäß dahingehend auslegen könnte, dass die Klägerin eine Abweichung des LSG von den in der Entscheidung des 5. Senats des LSG Baden-Württemberg zitierten Entscheidungen des BSG (Urteil vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4; Urteil vom 2.9.2014 - B 1 KR 4/13 R - SozR 4-2500 § 18 Nr 9) rügt, zeigt sie eine Abweichung der wiedergegebenen Rechtssätze nicht auf, sondern macht lediglich geltend, das LSG habe in dem vorliegenden Einzelfall das Vorliegen einer auf Indizien gestützten, nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf zu Unrecht verneint. Sie wendet sich auch insofern lediglich gegen die inhaltliche Richtigkeit des angegriffenen Urteils.
3. Die Klägerin erfüllt auch nicht die für die Behauptung der grundsätzlichen Bedeutung maßgeblichen Darlegungsvoraussetzungen. Sie formuliert bereits keine Rechtsfrage. Zudem zeigt sie eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGB V nicht auf. Sie wendet sich letztlich mit ihrem umfangreichen Vorbringen, vornehmlich gestützt auf tatsächliche Argumente, gegen die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des LSG in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bezüglich einer bestimmten Behandlungskonstellation.
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14902353 |