Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. gesetzlicher Richter. Mitwirkung des abgelehnten Richters an der Zurückweisung eines Befangenheitsgesuchs. rechtsmissbräuchliche Richterablehnung bei Verfolgung verfahrensfremder Ziele. Vorliegen eines gänzlich ungeeigneten Ablehnungsgesuchs. vollständige Entbehrlichkeit des Eingehens auf den Verfahrensgegenstand. lediglich formale Prüfung der Ablehnungsgründe
Orientierungssatz
1. Art 101 Abs 1 S 2 GG lässt lediglich im Fall eines gänzlich untauglichen oder rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs eine Entscheidung des abgelehnten Richters selbst über das Gesuch zu (vgl BVerfG vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11 und BSG vom 27.10.2009 - B 1 KR 51/09 B = SozR 4-1500 § 60 Nr 6).
2. Zum Tatbestand der rechtsmissbräuchlichen Richterablehnung gehört die Verfolgung verfahrensfremder, von Sinn und Zweck des Ablehnungsrechts offensichtlich nicht erfasster Ziele (vgl BFH vom 17.7.1974 - VIII B 29/74 = BFHE 112, 457).
3. Soll mit dem Ablehnungsgesuch die Durchführung einer aus Sicht der Klägerin notwendige weitere Beweisaufnahme bewirkt werden, handelt es sich - ebenso wie bei einem Ablehnungsgesuch zwecks Erreichung einer Terminverlegung - um die Verfolgung eines Ziels, das vom Sinn und Zweck des Ablehnungsgesuchs, der Sicherung einer unparteiischen Rechtspflege, offensichtlich nicht erfasst wird (vgl BSG vom 31.8.2015 - B 9 V 26/15 B).
4. Völlige Ungeeignetheit eines Ablehnungsgesuchs ist nur dann anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens entbehrlich ist. Ist ein - wenn auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung als unzulässig aus; eine gleichwohl erfolgte Ablehnung durch den abgelehnten Richter selbst ist dann willkürlich. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum Richter in eigener Sache machen (vgl BVerfG vom 24.2.2006 - 2 BvR 836/04 = BVerfGK 7, 325, vom 20.7.2007 - 1 BvR 3084/06 = BVerfGK 11, 434, vom 18.12.2007 - 1 BvR 1273/07 = BVerfGK 13, 72 und vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11).
Normenkette
SGG § 60 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, §§ 160a, 202 S. 1; ZPO §§ 42, 45 Abs. 1, § 547 Nr. 1, § 557 Abs. 2; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.05.2017; Aktenzeichen L 5 R 3718/15) |
SG Karlsruhe (Gerichtsbescheid vom 12.08.2015; Aktenzeichen S 10 R 2666/14) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Mai 2017 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Verwaltungs-, Widerspruchs- und erstinstanzliches Verfahren waren erfolglos (Bescheid vom 2.4.2014, Widerspruchsbescheid vom 18.7.2014, Gerichtsbescheid des SG Karlsruhe vom 12.8.2015).
Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. S. vom 10.1.2017 eingeholt. Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin, die an einer rezidivierenden depressiven Störung (gegenwärtig leichtgradige Episode) und einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ leide, noch leichte Tätigkeiten und vorübergehend mittelschwere Arbeiten unter Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen sechs Stunden und mehr täglich verrichten könne. Mit Schriftsatz vom 21.3.2017 hat die Klägerin verschiedene Einwendungen gegen das Gutachten erhoben. Insbesondere hat sie darauf hingewiesen, dass der Sachverständige hinsichtlich ihres Tagesablaufs einschließlich der Betreuung der Kinder, ihrer Beteiligung an der Haushaltsführung und ihrer regelmäßigen Teilnahme an einer ambulanten Psychotherapie von einem falschen Sachverhalt ausgegangen sei. Diesen Schriftsatz hat die Vorsitzende Richterin der Beklagten zur Kenntnisnahme übersandt und mit Verfügung vom 3.4.2017 Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 17.5.2017 bestimmt. Mit Schriftsatz vom 15.5.2017 hat die Klägerin beantragt, den Termin zu verlegen. Hierzu hat sie hervorgehoben, dass sie krankheitsbedingt nicht in der Lage sei, den Haushalt zu führen sowie die Betreuung der Kinder sicherzustellen, und sich zum Beweis hierfür auf das Zeugnis ihres Ehemannes berufen. Ferner hat sie beantragt, Prof. Dr. B., Zentralinstitut für seelische Gesundheit M., Institut für Psychiatrie und Psychosomatische Psychotherapie, als sachverständigen Zeugen zu vernehmen sowie den Sachverständigen Prof. Dr. S. zu den mit Schriftsatz vom 21.3.2017 erhobenen Einwendungen anzuhören. Mit Fax vom 16.5.2017 hat das LSG der Klägerin mitgeteilt, dass der Termin vom 17.5.2017 nicht aufgehoben werde. Mit Schriftsatz vom selben Tag hat die Klägerin gegen die Vorsitzende Richterin am LSG G. ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit gestellt, zu dessen Begründung sie im Wesentlichen vorgetragen hat: Es lägen mehrere Gründe vor, die geeignet seien, Misstrauen in die Unparteilichkeit der Vorsitzenden Richterin zu rechtfertigen. Auf richterliche Anordnung vom 15.3.2017, und damit vor Eingang der Stellungnahme vom 21.3.2017 zum Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S., sei mitgeteilt worden, dass der Rechtsstreit für entscheidungsreif erachtet werde und weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht beabsichtigt seien. Bereits diese Mitteilung lasse Zweifel an der Unparteilichkeit der Richterin aufkommen. Auch nach Einreichung der Stellungnahme vom 21.3.2017 sei nichts weiter veranlasst worden. Die erhobenen Einwendungen seien dem Gutachter noch nicht einmal zur Stellungnahme vorgelegt worden. Daher sei eine Auseinandersetzung mit ihrem Vorbringen im Berufungsverfahren nur unzureichend erfolgt. Ein weiterer Aspekt, der eindeutig gegen die Unparteilichkeit der Vorsitzenden Richterin spreche, sei darin zu sehen, dass sie sich mit dem Gesundheitszustand der Klägerin und den sich hieraus ergebenden Einschränkungen ihres Leistungsvermögens nicht hinreichend auseinandergesetzt habe. Es sei bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, wie sich das Krankheitsbild schon im Alltag der Klägerin und ihrer Familie äußere. Aus diesem Grund sei bereits mit der Berufungsbegründungsschrift angeregt worden, den Ehemann der Klägerin, der diese Situation am besten kenne, als Zeugen zu vernehmen. Hierauf sei die Vorsitzende Richterin mit keinem Wort eingegangen. Ferner seien mehrere Beweisanträge schlicht übergangen worden. Die Vorsitzende Richterin habe den Beweisanträgen keine Bedeutung beigemessen und entschieden, dass der Termin zur mündlichen Verhandlung nicht aufgehoben werde.
In der mündlichen Verhandlung vom 17.5.2017 ist das Ablehnungsgesuch gegen die Vorsitzende Richterin am LSG G. unter deren Mitwirkung als unzulässig verworfen worden.
Anschließend, nach Stellung der Sach- und seitens der Klägerin auch der Stellung von Beweisanträgen, ist die Berufung zurückgewiesen worden.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil vom 17.5.2017 hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie beruft sich auf eine Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht iS von § 103 SGG und sinngemäß auf einen Verstoß gegen Art 101 Abs 1 S 2 GG.
II. Die zulässige Beschwerde der Klägerin ist begründet.
Das angefochtene Urteil leidet an einem Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Der von der Klägerin sinngemäß geltend gemachte Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art 101 Abs 1 S 2 GG liegt vor. Das LSG war in der mündlichen Verhandlung vom 17.5.2017 nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 S 1 SGG). An dem auf diese Verhandlung ergangenen Urteil hat die Vorsitzende Richterin am LSG G. mitgewirkt, die die Klägerin zwar zuvor erfolglos abgelehnt hatte, deren Mitwirkung aber gleichwohl das Recht der Klägerin auf den gesetzlichen Richter verletzt hat.
Zwar unterliegen der Beurteilung des BSG gemäß § 557 Abs 2 ZPO iVm § 202 S 1 SGG keine Entscheidungen, die dem Endurteil vorausgegangen und die unanfechtbar sind, wozu grundsätzlich auch Entscheidungen der Vorinstanz gehören, die ein Ablehnungsgesuch unter fehlerhafter Anwendung einfachen Rechts zurückgewiesen haben (vgl §§ 60, 177 SGG; BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 3 mwN). Das Revisionsgericht ist nur in engen Ausnahmen wegen eines fortwirkenden Verstoßes gegen das Gebot des gesetzlichen Richters iS von Art 101 Abs 1 S 2 GG an die Zurückweisung von Ablehnungsgesuchen, die dem Endurteil des LSG vorausgegangen sind, nicht gebunden, wenn die zuvor erfolglos abgelehnten Richter an der Endentscheidung des LSG mitgewirkt haben (BSG SozR 4-1500 § 60 Nr 6 RdNr 6). Die Bindung des Revisionsgerichts fehlt, wenn die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs - was hier nicht der Fall ist - auf willkürlichen manipulativen Erwägungen beruht (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 1 RdNr 9 mwN) oder, wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite des Art 101 Abs 1 S 2 GG grundlegend verkennt (vgl BVerfGE 82, 286, 299; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11 - Juris RdNr 26; BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 5 mwN). Letzteres ist hier der Fall.
Die abgelehnte Vorsitzende Richterin am LSG G. hat vor Verkündung des Urteils am 17.5.2017 an dem in der öffentlichen Sitzung verkündeten Beschluss mitgewirkt, der das gegen sie gerichtete Befangenheitsgesuch nicht nur hinsichtlich der gerügten Nichtverlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung, sondern auch im Übrigen als unzulässig verworfen und diesbezüglich zur Begründung ausgeführt hat: Der Verweis auf die voraussichtliche Ablehnung der Beweisanträge sei nicht geeignet, eine Befangenheit zu begründen, weil der Senat über die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellten Anträge erst in der Sitzung vom 17.5.2017 entschieden habe, nachdem ihr Prozessbevollmächtigter diese hilfsweise für den Fall des Unterliegens gestellt habe. Ein Ablehnungsgrund sei daher nicht gegeben. Außerdem stelle sich das Ablehnungsgesuch letztlich als rechtsmissbräuchlich dar, weil es mit dem Ziel der Terminverlegung gestellt worden sei. Weitere Gründe, die eine Richterablehnung rechtfertigen könnten, habe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nicht vorgetragen.
Art 101 Abs 1 S 2 GG gewährleistet, dass die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens nicht vor einem Richter stehen, dem es an der gebotenen Neutralität fehlt (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11 - Juris RdNr 25 mwN). Bei der Anwendung der Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung von Richtern ist zu beachten, dass diese dem durch Art 101 Abs 1 S 2 GG verbürgten Ziel dienen, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung bestimmten Richter zu sichern. Deshalb ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ohne dessen Mitwirkung zur Entscheidung auf der Grundlage einer dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters berufen (vgl § 60 Abs 1 SGG iVm §§ 42 ff ZPO). Durch diese Zuständigkeitsregelung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Annahme naheliegt, es werde an der inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit eines Richters fehlen, wenn er über die vorgetragenen Gründe für seine angebliche Befangenheit selbst entscheiden muss (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11 - Juris RdNr 27 mwN).
Art 101 Abs 1 S 2 GG lässt daher lediglich in dem Fall eines gänzlich untauglichen oder rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs eine Entscheidung des abgelehnten Richters selbst über das Gesuch zu (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11 - Juris RdNr 30 mwN; BSG SozR 4-1500 § 60 Nr 6 RdNr 7). Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren soll nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern, was eine enge Auslegung der Voraussetzungen gebietet (vgl BVerfGK 5, 269, 282; 11, 434, 442; 13, 72, 79). Völlige Ungeeignetheit ist daher nur dann anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens selbst entbehrlich ist. Dies ist grundsätzlich nur dann der Fall, wenn das Ablehnungsgesuch für sich allein - ohne jede weitere Aktenkenntnis - offenkundig eine Ablehnung nicht zu begründen vermag. Ist hingegen ein - wenn auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung als unzulässig aus; eine gleichwohl erfolgende Ablehnung durch den abgelehnten Richter selbst ist dann willkürlich. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum Richter in eigener Sache machen (vgl BVerfGK 7, 325, 340; 11, 434, 442; 13, 72, 79 f; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11 - Juris RdNr 30).
Zum Tatbestand der rechtsmissbräuchlichen Richterablehnung gehört die Verfolgung verfahrensfremder, vom Sinn und Zweck des Ablehnungsrechts offensichtlich nicht erfasster Ziele (BFH Beschluss vom 17.7.1974 - VIII B 29/74 - Juris RdNr 15). Das Ablehnungsverfahren dient nicht dazu, die Beteiligten gegen unrichtige - materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche - Rechtsauffassungen zu schützen; insoweit stehen den Beteiligten die allgemeinen Rechtsbehelfe zur Verfügung (BFH Beschluss vom 27.6.1996 - X B 84/96 - Juris RdNr 5). Durch das Institut der Richterablehnung soll ausschließlich eine unparteiische Rechtspflege gesichert, nicht aber die Möglichkeit der Überprüfung einzelner Verfahrensfehler eröffnet werden (BFH Beschluss vom 27.6.1996 - X B 84/96 - Juris RdNr 9 mwN).
Nach dem Vorbringen der Klägerin bezog sich das Ablehnungsgesuch vordergründig auf die Ablehnung der Terminverlegung, die ihrerseits der Erreichung der beantragten Zeugenvernehmung und der Anhörung des Sachverständigen dienen sollte. Mit dem Ablehnungsgesuch wollte die Klägerin daher letztlich die Durchführung der aus ihrer Sicht notwendigen weiteren Beweisaufnahme bewirken. Hierbei handelt es sich aber - ebenso wie bei einem Ablehnungsgesuch zwecks Erreichung einer Terminverlegung - um die Verfolgung eines Ziels, das vom Sinn und Zweck des Ablehnungsgesuchs, der Sicherung einer unparteiischen Rechtspflege, offensichtlich nicht erfasst wird (vgl BSG Beschluss vom 31.8.2015 - B 9 V 26/15 B - Juris RdNr 15). Das Ablehnungsgesuch der Klägerin erweist sich insoweit als rechtsmissbräuchlich.
Allerdings hat das LSG seine Entscheidung in dem Beschluss vom 17.5.2017 nicht auf diesen Gesichtspunkt gestützt. Vielmehr hat es ausgeführt, der Verweis auf die voraussichtliche Ablehnung der Beweisanträge sei nicht geeignet, eine Befangenheit zu begründen, weil der Senat über die in der mündlichen Verhandlung gestellten Anträge erst in der Sitzung vom 17.5.2017 entschieden habe, nachdem sie hilfsweise für den Fall des Unterliegens gestellt worden seien. Mit diesen Erwägungen, die eine Kenntnis der Akten, nämlich das Wissen um die hilfsweise Stellung der Beweisanträge erfordert, ist aber das LSG über eine bloße formale Prüfung hinausgegangen. Der Berufungssenat einschließlich der abgelehnten Richterin setzt sich insoweit im Sinne einer Begründetheitsprüfung mit dem Vorbringen im Ablehnungsgesuch auseinander (vgl auch BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11 - Juris RdNr 32), was sich auch in der Formulierung zeigt, dass ein Ablehnungsgrund nicht vorliege.
Die weitere Aussage im Beschluss vom 17.5.2017, sonstige Gründe, die eine Richterablehnung rechtfertigen könnten, seien nicht vorgetragen worden, bezieht sich offensichtlich auf die von der Klägerin unter verschiedenen Gesichtspunkten beanstandete Bearbeitung des Verfahrens durch die abgelehnte Richterin vor Bestimmung des Termins zur mündlichen Verhandlung, wie etwa die Nichtübersendung des Schriftsatzes vom 21.3.2017 an den Sachverständigen Prof. Dr. S. zwecks Einholung einer Stellungnahme zu den erhobenen Einwendungen gegen das von ihm erstattete Gutachten und die Rüge, die abgelehnte Richterin habe sich mit dem Vortrag der Klägerin nicht ausreichend auseinandergesetzt. Anlass der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit waren insoweit nicht formale Gesichtspunkte wie etwa die Frage, welche Aufgaben einem Vorsitzenden oder Berichterstatter zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung obliegen (vgl § 106 Abs 2 und 3 iVm § 155 Abs 1 SGG), sondern vielmehr die sachlich ordnungsgemäße Bearbeitung des Verfahrens.
Verfahrensverstöße oder sonstige Rechtsfehler eines Richters bilden zwar grundsätzlich keinen Ablehnungsgrund. Anders verhält es sich aber, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters oder auf Willkür beruht (BFH Beschlüsse vom 27.3.1997 - XI B 190/96 - Juris RdNr 24, vom 11.1.1995 - IV B 104/93 - Juris RdNr 27 und vom 29.8.2001 - IX B 3/01 - Juris RdNr 8). Verfahrensverstöße und andere Verhaltensweisen können in ihrer Gesamtheit einen Grund darstellen, der den Beteiligten von seinem Standpunkt aus zu Recht befürchten lassen kann, der abgelehnte Richter werde nicht unparteilich entscheiden (BFH Beschlüsse vom 21.11.1991 - VII B 53-54/91 ua - Juris RdNr 5 und vom 29.8.2001 - IX B 3/01 - Juris RdNr 8).
In dem Ablehnungsgesuch sind mehrere Verhaltensweisen konkret benannt, die ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Vorsitzenden Richterin aus Sicht der Klägerin begründen. Unter Berücksichtigung der Möglichkeit, dass Verfahrensverstöße und andere Verhaltensweisen in ihrer Gesamtheit einen Befangenheitsgrund darstellen können, sowie der Umstände, dass die Prüfung des beanstandeten Verhaltens eine Akteneinsicht erfordert und das BVerfG eine enge Auslegung der Voraussetzungen für eine bloße formale Entscheidung verlangt, steht die Erwägung des LSG, weitere Ablehnungsgründe seien nicht vorgetragen, ebenfalls einer Bewertung des Beschlusses vom 17.5.2017 als echte Formalentscheidung entgegen.
Die vorliegende nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts stellt einen absoluten Revisionsgrund dar (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 S 1 SGG), bei dem unwiderlegbar feststeht, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruht.
Angesichts dieser Rechtslage kann dahinstehen, ob auch die übrigen von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensmängel vorliegen.
Zur Vermeidung weiterer Verzögerungen hat der Senat gemäß § 160a Abs 5 SGG das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen
Dokument-Index HI11433431 |