Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Nichtbescheidung eines vor Beginn der mündlichen Verhandlung gestellten Terminverlegungsantrags. Geltendmachung von Verhandlungsunfähigkeit. eigene Ermittlungen des Gerichts. Einholung einer Schweigepflichtentbindungserklärung. Zurückverweisung

 

Orientierungssatz

1. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 202 S 1 SGG iVm § 227 Abs 1 ZPO; stRspr).

2. Von der Frage, ob dem Antrag stattgegeben werden muss, zu unterscheiden ist die Verpflichtung des Vorsitzenden (§ 202 S 1 SGG iVm § 227 Abs 4 S 1 ZPO), einen Antrag auf Terminaufhebung bzw -verlegung vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung förmlich kurz zu bescheiden, sofern dies noch technisch durchführbar und zeitlich zumutbar ist.

3. Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt hier schon in der Nichtbescheidung des Antrags vor dem Termin. Der zeitliche Rahmen von mehr als zwei Stunden hätte es der Berichterstatterin als Vorsitzende gestattet, vor dem Termin über den Antrag zu entscheiden. Insoweit kommt es nicht darauf an, dass der Kläger, wie ihm das LSG im Urteil vorgehalten hat, dort hätte anrufen und sich nach der Entscheidung über die Terminverlegung erkundigen müssen.

4. Zur Einholung einer Schweigepflichtentbindungserklärung zur Ermöglichung eigener Ermittlungen des Gerichts bezüglich der Verhandlungsfähigkeit des Klägers (hier im Anschluss an den zweiten erfolgreichen Terminverlegungsantrag).

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5, § 62; GG Art. 103 Abs. 1; SGG § 124 Abs. 1, § 202 S. 1; ZPO § 227 Abs. 1, 4 S. 1

 

Verfahrensgang

SG Mannheim (Entscheidung vom 31.01.2020; Aktenzeichen S 16 AS 546/18)

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 15.03.2022; Aktenzeichen L 9 AS 720/20)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. März 2022 - L 9 AS 720/20 - aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I. Im der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Verfahren hat das LSG gemäß § 153 Abs 5 SGG über Ansprüche des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II entschieden.

Am 22.2.2022 hat das LSG einen Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.3.2022 um 15:30 Uhr bestimmt. Außerdem hat es dem Kläger das Erscheinen zur Verhandlung freigestellt. Es könne auch im Falle seines Ausbleibens Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden. Am Sitzungstag hat der Kläger die Verlegung des Termins beantragt, weil sich sein Gesundheitszustand so sehr verschlechtert habe, dass es ihm noch nicht möglich sei, ein Attest einzureichen, was er aber nachholen werde.

Über den vor Beginn der mündlichen Verhandlung beim LSG eingegangenen Antrag hat die Berichterstatterin als Vorsitzende keinen Beschluss gefasst. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, aus dem Protokoll zu einem vorangegangenen Termin vom 16.11.2021 gehe hervor, dass zu prüfen sein werde, aufgrund welcher Befunde Verhandlungsunfähigkeit, wie von der Hausärztin bescheinigt, anzunehmen sei. Der Kläger habe daher nicht davon ausgehen können und dürfen, dass das Attest der Hausärztin vom 29.10.2021 auch für künftige Termine ausreichend sein werde, um einem Antrag auf Terminverlegung zu entsprechen. Er habe trotz entsprechender Aufforderung vom 25.11.2021 keine Schweigepflichtentbindungserklärung vorgelegt, die dem Senat eigene Ermittlungen hinsichtlich seiner Verhandlungsfähigkeit ermöglicht hätten. Der Kläger hätte davon ausgehen dürfen und müssen, da er eine Terminaufhebung nicht erhalten habe, dass der Termin stattfinde (Hinweis auf BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B). Aufgrund des erst 2,5 Stunden vor Sitzungsbeginn eingegangenen Terminverlegungsantrags hätte er, etwa durch eine telefonische Rückfrage bei der Geschäftsstelle, klären müssen, ob der Termin zur mündlichen Verhandlung stattfinde oder aufgehoben werde.

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger einen Verfahrensmangel geltend. Das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es den Terminverlegungsantrag nicht beschieden habe.

II. Die zulässige Beschwerde des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Der Kläger hat einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend gemacht, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Bezogen auf die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) im Zusammenhang mit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung in seiner Abwesenheit hat der Kläger den Verfahrensmangel iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG hinreichend bezeichnet (zum Beruhen-Können insoweit BSG vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 4/20 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 23 RdNr 18; BSG vom 15.8.2022 - B 7 AS 15/22 B - RdNr 5).

Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt auch vor. Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 ZPO; stRspr, zB BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 64/17 B - RdNr 8; BSG vom 12.9.2019 - B 9 V 53/18 B - RdNr 14).

Von der Frage, ob dem Antrag stattgegeben werden muss zu unterscheiden ist die Verpflichtung des Vorsitzenden (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 4 Satz 1 ZPO), einen Antrag auf Terminaufhebung bzw -verlegung vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung förmlich kurz zu bescheiden, sofern dies noch technisch durchführbar und zeitlich zumutbar ist (vgl BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 64/17 B - RdNr 8; BSG vom 17.2.2010 - B 1 KR 112/09 B - RdNr 7; zum fairen Verfahren BSG vom 12.5.2017 - B 8 SO 69/16 B - RdNr 7; BSG vom 15.10.2021 - B 5 R 152/21 B - RdNr 11). Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Recht des Beteiligten auf Information über das Schicksal des Verlegungsantrags (zum Recht auf Information als Teil des Anspruchs auf rechtliches Gehör BVerfG vom 8.6.1993 - 1 BvR 878/90 - BVerfGE 89, 28, 35 = SozR 3-1500 § 60 Nr 2 S 7, juris RdNr 26; vgl BSG vom 25.11.2008 - B 5 R 308/08 B- RdNr 8). Infolge dieser Information kann sich der Beteiligte darauf einrichten, dass eine Entscheidung des Gerichts aufgrund der angesetzten mündlichen Verhandlung möglich ist. Die - kurz begründete - Entscheidung über den Verlegungsantrag kann formlos mitgeteilt werden (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 4 Satz 2 ZPO; vgl BSG vom 7.4.2022 - B 5 R 210/21 B - RdNr 6 mwN).

Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt hier schon in der Nichtbescheidung des Antrags vor dem Termin. Der zeitliche Rahmen von mehr als zwei Stunden hätte es der Berichterstatterin als Vorsitzende gestattet, vor dem Termin über den Antrag zu entscheiden. Insoweit kommt es nicht darauf an, dass der Kläger, wie ihm das LSG im Urteil vorgehalten hat, dort hätte anrufen und sich nach der Entscheidung über die Terminverlegung erkundigen müssen. Kehrseite der Beachtlichkeit auch eines kurzfristig gestellten Terminverlegungsantrags ist zwar die Obliegenheit des Beteiligten sicherzustellen, dass ihn die Information über eine gerichtliche Entscheidung über den Antrag erreichen kann (vgl BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - RdNr 8; BSG vom 18.1.2011 - B 4 AS 129/10 B - RdNr 7). Das ist aber von der hier maßgeblichen Frage zu trennen, ob das Gericht über den Antrag überhaupt rechtzeitig - vor dem Termin - entscheidet. Denn bei einem Anruf des Klägers hätte ihm auch nur mitgeteilt werden können, über den Verlegungsantrag sei noch nicht entschieden worden.

Ob das LSG dem Terminverlegungsantrag hätte stattgeben müssen, weil der Kläger erhebliche Gründe für eine Verlegung geltend gemacht hat, kann daher dahingestellt bleiben. Die Beschwerdebegründung stellt insoweit auf eine im Attest der Hausärztin vom 29.10.2021 bescheinigte derzeitige "psychiatrische Situation bei einer chronischen psychiatrischen Erkrankung" ab, nach der der Kläger "heute und in den nächsten Monaten nicht verhandlungsfähig" gewesen sein soll. Wegen der bescheinigten Chronifizierung sei nicht von vornherein ausgeschlossen gewesen, dass Verhandlungsunfähigkeit bestanden habe. Indes ist nach dem Wortlaut des Attests vom 29.10.2021, der sich auf die "derzeitige" Situation bezieht, offen, ob die Grunderkrankung des Klägers nach Aktenlage zum dritten Mal zur Verlegung des Termins am 15.3.2022 hätte führen müssen. Insofern ist das dem zweiten - erfolgreichen - Verlegungsantrag des LSG nachfolgende Vorgehen, über die Einholung einer Schweigepflichtentbindungserklärung Näheres über die Fähigkeit des Klägers zu erfahren, seine Rechte in einer mündlichen Verhandlung wahrnehmen zu können, nicht zu beanstanden. Der Kläger hat hier aber eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands geltend gemacht (zum Nebeneinander von chronischer Erkrankung und akuter Einschränkung BSG vom 12.5.2017 - B 8 SO 69/16 B - RdNr 9). Ob das insoweit wenig aussagekräftige Vorbringen des Klägers hierzu die Ablehnung des erneuten Terminverlegungsantrags wegen einer rechtsmissbräuchlichen Verzögerungsabsicht (zu den Anforderungen BGH vom 24.1.2019 - VII ZR 123/18 - RdNr 28) hätte tragen können oder zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die Aufhebung des Termins, verbunden mit einer Aufforderung zur Glaubhaftmachung des - neuen - Verhinderungsgrunds (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 Alt 1 ZPO; vgl BSG vom 21.6.2011 - B 1 KR 144/10 B - RdNr 7) hätte erfolgen müssen, bedarf keiner weiteren Bewertung.

Nach 160a Abs 5 SGG kann das Revisionsgericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

S. Knickrehm

Siefert

Neumann

 

Fundstellen

Haufe-Index 15702561

NZS 2023, 718

info-also 2023, 285

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