Leitsatz (amtlich)

Die das Ruhen des Verfahrens regelnde Vorschrift des ZPO § 251 ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar.

 

Normenkette

SGG § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 251 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

Es wird das Ruhen des Verfahrens angeordnet.

 

Gründe

Der Kläger ist landwirtschaftlicher Unternehmer und zugleich Beamter bei der Bundesbahn. Streitig ist, ob er nach dem Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) vom 10. August 1972 versicherungspflichtig ist. In einer im wesentlichen gleichgelagerten Sache hat das Sozialgericht (SG) Heilbronn mit Beschluß vom 4. Dezember 1975 dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die Regelung über die Versicherungspflicht im KVLG für zugleich als Beamte beschäftigte landwirtschaftliche Unternehmer mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Im Hinblick auf dieses beim BVerfG anhängige Normenkontrollverfahren (1 BvL 5/76) haben beide Beteiligten beantragt, das Ruhen des vorliegenden Verfahrens anzuordnen. Der Senat hat dem Antrag entsprochen.

Nach § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist, soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, die Zivilprozeßordnung (ZPO) entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen. Hiernach ist § 251 ZPO auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar.

Das SGG enthält keine Bestimmung über das Ruhen des Verfahrens. Nach § 68 SGG aF konnten zwar Zweifel bestehen, ob diese Bestimmung die Anwendbarkeit der - in der ZPO zum Titel "Unterbrechung und Aussetzung des Verfahrens" gehörenden - Vorschrift des § 251 mittelbar dadurch ausschloß, daß nach dem Wortlaut von § 68 SGG aF "für die Unterbrechung und Aussetzung" des sozialgerichtlichen Verfahrens nur im einzelnen aufgeführte Vorschriften dieses Titels, darunter aber nicht § 251 ZPO entsprechend gelten sollten. § 68 SGG ist jedoch mit Wirkung vom 1. Januar 1975 aufgehoben worden.

Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem zivilgerichtlichen und dem sozialgerichtlichen Verfahren schließen die Anwendung des § 251 ZPO nicht aus. Für beide Verfahrensarten gilt der Grundsatz des Parteibetriebs (vgl. Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl. S. 387 und Peters/Sautter/Wolff Nr. 1 zu § 103 SGG). Er bedeutet, daß es die Parteien in der Hand haben, einen Prozeß zu betreiben, ihn durch Klageerhebung zu beginnen und z. B. durch Klagerücknahme, Erledigungserklärung usw. zu beenden. Nach diesem Grundsatz muß es den Parteien auch gestattet sein, im gegenseitigen Einverständnis einen Prozeß ruhen zu lassen, wenn ein wichtiger Grund dafür vorliegt. Dem steht insbesondere das im Sozialgerichtsverfahren herrschende Amtsermittlungsprinzip nicht entgegen. Es besagt, daß das Gericht den Sachverhalt selbst ermittelt und nicht auf Beweisanträge angewiesen ist. Mit der Sachverhaltsaufklärung hat das Ruhen des Verfahrens aber nichts zu tun. Dementsprechend ist auch anerkannt, daß § 251 ZPO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren Anwendung findet (vgl. BVerwG NJW 62, 1170, 1171; OVG Münster, NJW 62, 1931 sowie Eyermann/Fröhler, Rdnr. 17 zu § 94 VwGO und Redeker/von Oertzen, Rdnr. 14 zu § 94 VwGO).

Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen des § 251 ZPO gegeben. Nach dieser Vorschrift hat das Gericht das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, daß wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist. Beide Beteiligten haben das Ruhen des Verfahrens beantragt. Ein wichtiger Grund, der die Anordnung des Ruhens zweckmäßig erscheinen läßt, ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des gegenwärtigen Rechtsstreits darin zu finden, daß eine endgültige Klärung der zu entscheidenden Rechtsfrage durch das BVerfG zu erwarten ist. Zwar rechtfertigt der Umstand, daß die Verfassungsmäßigkeit einer bei der Entscheidung anzuwendenden Rechtsnorm vom BVerfG geprüft wird, noch nicht die Aussetzung des Verfahrens nach § 114 Abs. 2 SGG (vgl. BFH 111, 232; dagegen Skouris NJW 75, 713). Auch ein Ruhen des Verfahrens ist nicht stets dann zweckmäßig, wenn über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, deren Klärung in einem anderen Verfahren zu erwarten steht; das gilt auch für den Fall, daß es sich bei dem anderen Verfahren - wie hier - um ein Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG) handelt. Im vorliegenden Rechtsstreit sind jedoch keine Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art ersichtlich, die nicht bereits in dem beim BVerfG anhängigen Verfahren geltend gemacht sind oder jedenfalls eine Grundlage für eine erschöpfendere Beurteilung bilden könnten; damit könnte eine Fortsetzung des Verfahrens weder die endgültige Erledigung des zwischen den Beteiligten bestehenden Streites noch das beim BVerfG anhängige Verfahren fördern.

Das Ruhen des Verfahrens hat u. a. die Wirkung, daß die Parteien den Prozeß vor Ablauf von drei Monaten nur mit Zustimmung des Gerichts aufnehmen können (§ 251 Abs. 2 ZPO). Wird das Verfahren bis zum Ablauf von sechs Monaten nicht aufgenommen, so ist der Rechtsstreit zwar nicht prozeßrechtlich, aber verwaltungsmäßig als erledigt zu behandeln; die Akten werden sodann weggelegt und die Sache wird aus dem beim Gericht geführten Prozeßregister ausgetragen (vgl. SozR Nr. 2 zu § 185 SGG). Bei späterer Aufnahme müßte sie dort erneut eingetragen werden.

 

Fundstellen

NJW 1977, 863

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