Leitsatz (amtlich)
Die Niederschriften über Zeugenaussagen können in einem späteren gerichtlichen Verfahren im Wege des Urkundenbeweises auch dann gewürdigt werden, wenn die Zeugen in diesem Verfahren die Aussage verweigert haben.
Normenkette
SGG § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 21. Januar 1965 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin hat gegen das vorbezeichnete, am 3. Mai 1965 zugestellte Urteil form- und fristgerecht Revision eingelegt. Da das Landessozialgericht (LSG) die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen hat, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung i. S. des Bundesversorgungsgesetzes das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
In der Revisionsbegründung vom 29. Juli 1965, auf die Bezug genommen wird, rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 103, 106, 128 SGG. Sie trägt hierzu vor, das LSG habe die Akte des Sozialgerichts (SG) Stade hinsichtlich des Verfahrens gemäß § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht und die dort enthaltenen Zeugenaussagen, ihre eigenen Angaben sowie die Feststellungen des SG Stade in seinem Urteil vom 14. März 1961 in dem Berufungsurteil verwertet. Es habe die Auffassung vertreten, daß es berechtigt sei, die Zeugenaussagen in dem Verfahren vor dem SG Stade auch in dem vorliegenden Verfahren über die Rückforderung von 10202,77 DM zu würdigen. Diese Zeugenaussagen könnten jedoch nur im Rahmen des Urkundenbeweises verwertet werden, weil insoweit keine Bedenken bestünden. Da jedoch die in dem Verfahren vor dem SG Stade gehörten Zeugen die Aussage in dem vorliegenden Verfahren vor dem SG Bremen verweigert haben, hätte die Verwertung dieser früheren Zeugenaussagen nach § 106 SGG i. V. m. den §§ 415 ff der Zivilprozeßordnung nur mit Zustimmung aller Beteiligten erfolgen dürfen. Diese Rüge der Klägerin greift jedoch nicht durch.
Wie die Klägerin in der Revisionsbegründung selbst zutreffend ausführt, bestehen gegen die Würdigung von Zeugenaussagen aus einem anderen Verfahren im Wege des Urkundenbeweises grundsätzlich keine Bedenken (vgl. hierzu Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur SGb, Anm. 2 b cc zu § 128 SGG; Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 18. Aufl., Anm. III 4 zu § 286; Baumbach/Lauterbach, ZPO, 27. Aufl., Anm. 4 zu § 286). Die Klägerin ist lediglich der Auffassung, daß Aussagen von Zeugen in einem früheren Verfahren, die in dem späteren Verfahren die Aussage verweigert haben, nur mit Zustimmung aller Beteiligten verwertet werden dürfen. Dieser Auffassung kann nicht beigetreten werden. Es besteht für die Würdigung von Zeugenaussagen aus einem früheren Verfahren im Wege des Urkundenbeweises kein Unterschied in der Hinsicht, ob diese Zeugen in einem späteren Verfahren die Aussage verweigert haben oder nicht. Allerdings stünde einer Verwertung als "Zeugenaussagen" der Umstand entgegen, daß die Zeugen in dem späteren Verfahren die Aussage verweigert haben. Außerdem setzt die Würdigung einer Aussage in einem anderen Verfahren als "Zeugenaussage" voraus, daß die Parteien einer Verwertung als "Zeugenaussage" zugestimmt haben. Im vorliegenden Falle hat das LSG jedoch die Aussagen der Zeugen in dem Verfahren vor dem SG Stade nicht als "Zeugenaussagen", sondern ausdrücklich urkundenbeweislich gewürdigt. Dagegen bestehen - wie oben dargelegt - auch dann keine Bedenken, wenn die Zeugen W M und E W im vorliegenden Verfahren die Aussage vor dem SG Bremen verweigert haben. In der Literatur scheint allerdings Krebs in BG 1957, 202 hierzu eine andere Auffassung zu vertreten, indem er ausführt: "Selbst wenn man die entsprechenden Protokolle mit den Zeugenvernehmungen als Urkunden ansieht, die im Wege des Urkundenbeweises in das Sozialgerichtsverfahren eingeführt worden sind, so steht durch diesen Beweis nur fest, daß die Zeugen diese Aussagen gemacht haben, Schlüsse auf Glaubwürdigkeit usw. lassen sich damit aber nicht ziehen., ganz abgesehen davon, daß so der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme übergangen würde." Auch Krebs gibt somit zu, daß durch diesen Urkundenbeweis feststeht, daß die Zeugen diese Aussagen gemacht haben. Damit kann also das Gericht insoweit auch nach seiner Ansicht diese Aussagen im Wege des Urkundenbeweises verwerten, wie es das LSG im vorliegenden Falle getan hat. Es mag sein, daß sich allerdings Schlüsse auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen bei einer Würdigung im Wege des Urkundenbeweises nicht ziehen lassen. Das LSG hat jedoch die Glaubwürdigkeit der betreffenden Zeugen nicht bezweifelt oder in dieser Richtung irgendwelche Ausführungen gemacht. Wenn Krebs in diesem Zusammenhang weiter ausführt, daß bei Würdigung von Zeugenaussagen aus einem früheren Verfahren im Wege des Urkundenbeweises der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme "übergangen" würde, so kann er dabei nur daran gedacht haben, daß grundsätzlich vom Gericht der jeweils beste Beweis zu erheben ist, daß also der Würdigung von Zeugenaussagen im Wege des Urkundenbeweises gegenüber einer Zeugenaussage vor dem Prozeßgericht regelmäßig ein geringerer Beweiswert zukommt, wenn es sich um den Beweis einer erheblichen Behauptung handelt. Die Vernehmung der Zeugen W M und E W, auf deren Aussagen das LSG u. a. seine Entscheidung gestützt hat, hätte daher vor der Würdigung ihrer Aussagen in einem früheren Verfahren im Wege des Urkundenbeweises den Vorzug verdient. Das SG Bremen hat auch diese beiden Zeugen zu vernehmen versucht, sie haben aber von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht im vorliegenden Verfahren Gebrauch gemacht. Damit war es den Vorinstanzen nicht mehr möglich, an die Stelle des Urkundenbeweises die Vernehmung dieser Zeugen vor dem Prozeßgericht als besseres Beweismittel treten zu lassen. Gerade in einem solchen Falle ist daher - entgegen der Auffassung der Klägerin - die Würdigung der Aussage von Zeugen in einem früheren Verfahren, die im vorliegenden Rechtsstreit die Aussage verweigert haben, im Wege des Urkundenbeweises zulässig, ohne daß die Zustimmung der Beteiligten hierzu erforderlich ist.
Die Klägerin trägt weiter vor, das LSG habe in dem angefochtenen Urteil ausgeführt, daß der Zeuge M gewußt habe, daß der Ehemann der Klägerin nicht in russischer, sondern in englischer Gefangenschaft gewesen ist. Wenn dieser Umstand schon dem Schwager des Ehemannes der Klägerin bekannt gewesen sei, dann habe auch diese zumindest gewußt, daß sich ihr Ehemann nicht in russischer Gefangenschaft befunden habe. Es sei unverständlich, daß der Ehemann der Klägerin ihr dies nicht erzählt habe. In diesen Feststellungen sieht die Klägerin einen Verstoß gegen die Vorschriften der §§ 103, 106, 128 SGG, weil das LSG auf Grund eines von ihm angenommenen, in Wirklichkeit nicht bestehenden Erfahrungssatzes von einer feststehenden Tatsache auf das Vorliegen einer anderen zweifelhaften Tatsache geschlossen habe. Damit habe das Berufungsgericht die Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung überschritten. Es hätte die Klägerin und ihren Schwager, den Zeugen M, gegenüberstellen und diesen darüber vernehmen müssen, ob er nach Rückkehr des Ehemannes der Klägerin diese getroffen und mit ihr über die Gefangenschaft ihres Ehemannes gesprochen habe.
Mit diesem Vorbringen rügt die Klägerin zunächst eine Verletzung des § 128 SGG, weil das LSG seine Feststellungen auf einen nicht bestehenden Erfahrungssatz gestützt habe. Diese Rüge ist jedoch nicht gerechtfertigt. Das LSG konnte sich auf den allgemeinen Erfahrungssatz stützen, daß ein Ehemann auch der Ehefrau Mitteilung über seine Kriegsgefangenschaft macht, wenn er dies anderen nahen Verwandten gegenüber getan hat. Jedenfalls kann von einem solchen Erfahrungssatz dann ausgegangen werden, wenn es sich um Umstände handelt, bei denen für einen Ehemann kein ersichtlicher Grund vorhanden ist, sie seiner Ehefrau gegenüber zu verschweigen oder anders darzulegen. Da der Ehemann der Klägerin seinem Schwager, dem Zeugen M, erzählt hat, daß er in englischer Gefangenschaft gewesen und dort gut verpflegt worden ist, so durfte das LSG auf Grund eines allgemeinen Erfahrungssatzes daraus schließen, daß der Ehemann auch der Klägerin dieselben Mitteilungen über seine Gefangenschaft gemacht hat. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn die Klägerin dargelegt hätte, daß das Verhältnis zwischen den Eheleuten derart getrübt war, daß der angeführte Erfahrungssatz keine Berücksichtigung finden kann. Die Klägerin hat jedoch in dieser Hinsicht nichts vorgetragen. Im übrigen hat das LSG seine Feststellung, daß die Klägerin bewußt falsche Angaben gemacht hat, insbesondere darauf gestützt, daß die Klägerin positiv behauptet hat, ihr Ehemann sei in russischer Gefangenschaft gewesen, obwohl sie, wie sie selbst zugegeben hat, der Versorgungsverwaltung gegenüber hätte angeben müssen, daß sie nur vermute, daß ihr Ehemann in russischer und nicht in englischer Gefangenschaft gewesen sei, zumal zur Zeit der Stellung des Rentenantrags im Mai 1948 in der Bevölkerung allgemein der Unterschied zwischen den Verhältnissen der Kriegsgefangenschaft in westlichen und östlichen Lagern bekannt gewesen sei. Die Statthaftigkeit der Revision kann somit nicht auf eine Verletzung des § 128 SGG gestützt werden. Damit entfällt auch die in diesem Zusammenhang vorgebrachte Verletzung der §§ 103, 106 SGG.
Da die gerügten Verfahrensmängel nicht vorliegen und eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht in Betracht kommt und auch nicht gerügt ist, war die Revision der Klägerin nach § 169 SGG durch Beschluß als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen