Leitsatz (amtlich)
Schließt die Witwe eines unter der Geltung des RVO § 1256 aF verstorbenen Versicherten, für den die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten war, eine neue Ehe, ohne vorher Anspruch auf Witwenrente gehabt zu haben, und wird diese Ehe nach dem 1956-12-31 ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Ehefrau aufgelöst oder für nichtig erklärt, so besteht kein Anspruch auf Witwenrente.
Orientierungssatz
Ergibt sich aus dem im Gesetz erkennbar gewordenen Sinn und Zweck einer Regelung, daß der Gedanke des Gesetzes in dem Wortlaut der Regelung nicht deutlich genug Ausdruck gefunden hat, so ist eine berichtigende Auslegung geboten.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 26 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 43 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1256 Fassung: 1949-06-17
Tenor
Schließt die Witwe eines unter der Geltung des § 1256 der Reichsversicherungsordnung aF (§ 52 der Satzung der Versicherungsanstalt Berlin) verstorbenen Versicherten, für den die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten war, eine neue Ehe, ohne vorher Anspruch auf Witwenrente gehabt zu haben, und wird diese Ehe nach dem 31. Dezember 1956 ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Ehefrau aufgelöst oder für nichtig erklärt, so besteht kein Anspruch auf Witwenrente.
Gründe
Die im Jahre 1915 geborene Klägerin war in erster Ehe mit Herbert K verheiratet; dieser starb im Jahre 1942. Zur Zeit seines Todes war für ihn in der Invalidenversicherung die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten. Der Klägerin stand aber damals kein Anspruch auf Witwenrente zu, weil sie selbst die besonderen Voraussetzungen des § 1256 aF der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht erfüllte. Im Jahre 1946 heiratete die Klägerin zum zweiten Male, ohne in der Zwischenzeit einen Anspruch auf Witwenrente erlangt zu haben. Im April 1957 wurde ihre zweite Ehe aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Daraufhin beantragte sie die Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres ersten Ehemannes.
Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Klägerin vor ihrer zweiten Eheschließung keinen Rentenanspruch gehabt habe und deshalb nach Auflösung dieser Ehe auch kein - in § 1291 Abs. 1 RVO vorausgesetzter - Anspruch habe wiederaufleben können. Die hiergegen gerichtete Klage ist in den beiden ersten Rechtszügen ohne Erfolg geblieben.
Durch die vom Landessozialgericht (LSG) zugelassene und von der Klägerin eingelegte Revision ist der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) mit der Streitsache befaßt. Er hat dem Großen Senat auf Grund des § 43 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) folgende Frage vorgelegt:
Besteht ein Anspruch auf Witwenrente, wenn die Witwe eines unter der Geltung des § 1256 RVO aF (§ 52 der Satzung der Versicherungsanstalt Berlin) verstorbenen Versicherten, für den die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten war, wieder heiratet, ohne vorher Anspruch auf Witwenrente gehabt zu haben, und wenn diese Ehe nach dem 31. Dezember 1956 ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst oder für nichtig erklärt wird?
Der Große Senat hat diese Frage verneint.
In der Invalidenversicherung hat das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz (SVAG) vom 17. Juni 1949 (WiGBl S. 99) für Versicherungsfälle nach dem 31. Mai 1949 den Grundsatz der unbedingten Witwenrente eingeführt, d. h. einer Rente, die, wenn bestimmte Voraussetzungen in der Person des verstorbenen Ehemannes vorlagen, der Witwe ohne weiteres, vor allem ohne Rücksicht auf ihr Alter, ihre Erwerbsfähigkeit und die Zahl der von ihr geborenen oder zu erziehenden Kinder, gewährt wird (§ 3 Abs. 1, § 21 Abs. 5 SVAG; hierzu § 1 Nr. 1 der Erstreckungsverordnung vom 12. Mai 1950 - BGBl S. 179). Das für die Klägerin maßgebende Recht des Landes Berlin hat eine entsprechende Regelung durch § 23 Abs. 1 des Berliner Rentenversicherungsüberleitungsgesetzes ( BRVÜG ) vom 10. Juli 1952 (GVBl S. 588) erfahren. In dem am 1. Januar 1957 in Kraft getretenen Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) ist der Grundsatz der unbedingten Witwenrente nicht nur beibehalten, sondern auf alle Versicherungsfälle vor dem Inkrafttreten des Gesetzes ausgedehnt worden (Art. 2 § 18 ArVNG). Damit sind auch Versicherungsfälle erfaßt worden, die - wie im Falle der Klägerin - vor dem 1. Juni 1949 eingetreten sind. Der Klägerin stände somit ein Anspruch auf Witwenrente zu, wenn sie Witwe geblieben wäre, also nicht zum zweiten Male geheiratet hätte.
Für Witwen, die eine neue Ehe schließen und deren Rente aus diesem Grunde wegfällt (§ 1291 Abs. 1 RVO nF), sieht das ArVNG erstmalig das Wiederaufleben des Rentenanspruchs vor, wenn die neue Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst oder für nichtig erklärt wird (§ 1291 Abs. 2 RVO nF). Dies gilt nach den Übergangsvorschriften auch für Ansprüche auf Witwenrente aus Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten des Gesetzes, sofern die neue Ehe nach diesem Zeitpunkt aufgelöst oder für nichtig erklärt worden ist (Art. 2 §§ 5, 26 Abs. 1 ArVNG). Dabei ist es gleichgültig, ob die Witwenrente vor dem 1. Januar 1957 nach § 1287 RVO aF oder nach dem 31. Dezember 1956 nach Art. 2 § 26 Abs. 2 ArVNG i. V. m. § 1291 Abs. 1 RVO nF weggefallen ist oder wegfällt. Hiernach wäre die Klägerin, wenn sie im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung einen Anspruch auf Witwenrente gehabt hätte, nach der im April 1957 erfolgten Scheidung ihrer neuen Ehe wieder rentenberechtigt. Da jedoch im Jahre 1946 die Voraussetzungen des Rentenbezugs in ihrer Person nicht erfüllt waren, läßt sich der Klageanspruch jedenfalls aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht herleiten; denn ein Anspruch, der nicht bestand, konnte nicht durch Wiederverheiratung wegfallen (§ 1287 RVO aF) und kann deshalb auch nicht wiederaufleben.
Die Rechtsanwendung findet jedoch nicht ihre Grenze in der Subsumtion eines bestimmten Sachverhalts unter den Gesetzeswortlaut, vielmehr ist der Wortlaut auch an dem Sinnzusammenhang der Gesetzesvorschrift zu messen. Ergibt sich aus dem im Gesetz erkennbar gewordenen Sinn und Zweck einer Regelung, daß der Gedanke des Gesetzes einen zu engen oder zu weiten und deshalb unrichtigen Ausdruck gefunden hat, so ist eine berichtigende Auslegung geboten (vgl. Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., Erster Halbband, § 51 III 1, § 54 I und II). Der Große Senat hatte daher zunächst zu prüfen, ob der Gesetzgeber sich in der Übergangsvorschrift des Art. 2 § 26 Abs. 1 ArVNG i. V. m. § 1291 Abs. 2 RVO nF mit den Worten "so lebt der Anspruch auf Witwenrente ... wieder auf" insofern im Ausdruck vergriffen hat, als nicht nur ein wegen Wiederverheiratung weggefallener Rentenanspruch wiederaufleben, sondern auch ein Anspruch auf Witwenrente neu entstehen soll, dessen Voraussetzungen nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Wiederverheiratung der Witwe nicht gegeben waren und der am 1. Januar 1957 wegen Bestehens der neuen Ehe nicht entstehen konnte. Diese Annahme liegt schon deshalb fern, weil der Unterschied zwischen dem Wiederaufleben und der Neuentstehung eines Anspruchs recht auffällig ist und auch die Ausdrücke "Anspruch" und "wiederaufleben" ihrem rechtlichen Gehalt nach klar und der Gesetzessprache geläufig sind. Der "Anspruch" ist in § 194 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) als "das Recht, von einem anderen ein Tun oder ein Unterlassen zu verlangen" definiert, und auch der Ausdruck "wiederaufleben" ist nicht etwa sprachlich "etwas unpräzise", wie Rossmann (SGb 1959 S. 2) meint, sondern eindeutig; er kann nur bedeuten, daß etwas, was einmal bestanden hatte, dann aber untergegangen war oder geruht hatte, zu neuem Leben erweckt wird, also wieder entsteht. In dieser Bedeutung war zB der Begriff des Wiederauflebens eines erloschenen Rentenanspruchs in § 75 Abs. 2 des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) idF des Änderungsgesetzes vom 27. September 1938 (RGBl S. 1217) zu finden (vgl. auch § 1674 Abs. 2 BGB). Da somit die in Betracht kommenden Begriffe der Gesetzessprache geläufig waren, kann angenommen werden, daß der Gesetzgeber des ArVNG mit dem "Wiederaufleben des Anspruchs auf Witwenrente" das zum Ausdruck bringen wollte, was nach dem Wortsinn darunter zu verstehen ist, nämlich daß nur ein Anspruch, der einmal bestanden hat, wiederaufleben soll. Hierauf deutet auch die Aufeinanderfolge der Absätze 1 und 2 des § 1291 RVO hin; sie läßt darauf schließen, daß es sich bei dem Wegfall und dem Wiederaufleben der Rente um korrespondierende Ansprüche handelt, der Anspruch auf Rente also nur nach vorherigem Wegfall wiederaufleben kann (vgl. Bayer. LSG, Breithaupt 1959, 429; Heinze, SGb 1958, 241 Ziff. VII 5). Auch die Entstehungsgeschichte des ArVNG und die Motive ergeben nichts für eine unrichtige Ausdrucksweise des Gesetzes. Nach der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs (Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Drucks. 2437, zu §§ 1295, 1305 RVO) sollte durch die Aussicht, daß die bei der Wiederverheiratung wegfallende Rente unter bestimmten Voraussetzungen nach Auflösung der neuen Ehe wieder auflebt, ebenso wie durch die Erhöhung der Abfindung auf das Fünffache des Jahresbetrages (§ 1302 RVO nF) den Witwen ein Anreiz zur Wiederheirat gegeben und damit vor allem den unerwünschten Rentenkonkubinaten (Onkelehen) entgegengewirkt werden. Diesem besonders herausgestellten Zweck kann aber das von der Klägerin erstrebte Ergebnis - wie dies auch für viele durch die Übergangsvorschrift des Art. 2 § 26 Abs. 2 ArVNG erfaßte Altfälle gilt - nicht dienen, weil die Klägerin beim Inkrafttreten des ArVNG bereits wieder verheiratet war. Daraus, daß der Anspruch auf Witwenrente auch bei Wiederverheiratung vor dem Stichtag des 1. Januar 1957 wiederaufleben kann, folgert Rossmann (aaO S. 6), es seien für die Neuregelung des § 1291 Abs. 2 RVO neben dem Hauptzweck, den Witwen einen Anreiz zur Wiederverheiratung zu geben, auch allgemeine soziale Gründe maßgebend gewesen. Eine solche Zielsetzung wäre jedoch zu allgemein, als daß sie Schlüsse auf die Absichten des Gesetzgebers speziell in der hier streitigen Frage zuließe (vgl. Klink, ZfS 1960, 29, 32). Ebensowenig läßt sich für die Beantwortung der Frage, ob der Gesetzgeber sich im Ausdruck vergriffen hat, daraus entnehmen, daß es in der amtlichen Begründung zu § 1295 des Entwurfs des ArVNG (jetzt § 1291) heißt, mit den Absätzen 2 und 3 sollten "gewisse Ungerechtigkeiten, die sich aus dem bisherigen Recht ergeben haben, beseitigt werden" (BT. Drucks. Nr. 2437 aaO). Hiermit ist nichts Konkretes über die Absichten des Gesetzgebers gesagt; vor allem läßt die Begründung nicht erkennen, inwieweit Ungerechtigkeiten lediglich für die Zukunft vermieden oder auch in Altfällen beseitigt werden sollten. Aus diesen Gründen ist der Große Senat zu dem Ergebnis gelangt, daß eine unzutreffende Ausdrucksweise sich weder aus dem Gesetz selbst noch aus dem Sinnzusammenhang ergibt und deshalb nicht zu einer Berichtigung des Gesetzeswortlauts in dem von der Klägerin gewünschten Sinne geschritten werden darf.
Der Große Senat hat weiter geprüft, ob eine analoge Anwendung des § 1291 Abs. 2 RVO nF i. V. m. mit Art. 2 § 26 Abs. 1 ArVNG in der Weise zulässig und geboten ist, daß auch ehemalige Witwen, bei denen im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung die persönlichen Voraussetzungen für eine Witwenrente nicht vorlagen, die also damals lediglich eine "Aussicht" auf eine Rente hatten, mit der Auflösung der neuen Ehe einen Rentenanspruch unter denselben Voraussetzungen erwerben, unter denen er bei denjenigen Witwen wiederauflebt, die bereits vor ihrer Wiederverheiratung einen Anspruch auf Witwenrente hatten. Ein solcher Analogieschluß setzt voraus, daß das Gesetz eine Lücke aufweist; alsdann muß die Lücke aus dem Gesetz selbst ergänzt werden, d. h. die aus dem Gesetz zu entnehmenden Prinzipien müssen auf Fälle ausgedehnt werden, die den geregelten Tatbeständen rechtsähnlich sind (vgl. Enneccerus-Nipperdey aaO § 58). Unter den mancherlei Arten von Lücken im Gesetz (vgl. hierzu zB Enneccerus-Nipperdey aaO § 58 I; Staudinger, Kommentar zum BGB, 11. Aufl. I. Band, Einleitung Erl. 62 bis 64) kommt hier nur der Fall in Betracht, daß das Gesetz schweigt, d. h. einen bestimmten Tatbestand nicht geregelt hat, wobei das Schweigen auf Absicht, auf einem Versehen oder darauf beruhen kann, daß sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach dem Erlaß des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat. Die zuerst angeführte Möglichkeit - absichtliches Schweigen - scheidet von vornherein aus; es ist kein Anhaltspunkt dafür gegeben, daß die Frage, wie eine ehemalige Witwe zu behandeln ist, die vor dem 1. Januar 1957 lediglich eine "Aussicht" auf Rente hatte, aber wegen des neuen Eheschlusses beim Inkrafttreten des ArVNG nicht nach § 1264 RVO nF anspruchsberechtigt werden konnte, bewußt unbeantwortet geblieben wäre, zB deshalb, weil man es der Rechtsprechung überlassen wollte, das Recht zu finden. Ebensowenig kommt die zuletzt angeführte Möglichkeit der sog. sekundären Lücke in Betracht; der bei der Klägerin vorliegende Sachverhalt gehört zu einer Fallgruppe, die bereits beim Erlaß des ArVNG regelungsfähig war. Ein Analogieschluß im Sinne der Rechtsauffassung der Klägerin wäre daher nur möglich, wenn sich aus dem Gesetz ergäbe, daß übersehen worden sei, einen Rentenanspruch für ehemalige Witwen in der Lage der Klägerin zu normieren. Ein solcher Analogieschluß verbietet sich nicht schon deshalb, weil Art. 2 § 26 Abs. 1 ArVNG, wonach das Wiederaufleben des Anspruchs auf Witwenrente in Abweichung von dem in Art. 2 § 5 ArVNG aufgestellten Grundsatz auch für alte Versicherungsfälle gilt, eine Ausnahmeregelung darstellt. Auch Ausnahmevorschriften sind - in den Grenzen des Grundgedankens der Vorschrift - einer analogen Anwendung fähig (vgl. BSG 10, 247; Enneccerus-Nipperdey aaO § 48 I 2 a).
Bei der Prüfung, ob das Gesetz einen Anhalt dafür bietet, daß übersehen worden sei, auch ehemaligen Witwen, die im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung noch keinen Anspruch auf Witwenrente hatten, einen solchen Anspruch in demselben Rahmen zu gewähren, der für bereits früher anspruchsberechtigt gewesene Witwen gilt, ist der Große Senat von folgender, dem Gesetzgeber des ArVNG bekannten Rechtslage vor dem 1. Januar 1957 ausgegangen: Im Unterschied zur Angestelltenversicherung hatten keinen Anspruch auf Witwenrente
1) Witwen, deren Ehemänner vor dem 1. Juni 1949 gestorben waren und die nicht die Voraussetzungen des § 21 Abs. 5 Satz 2 SVAG bezw. des § 23 Abs. 1 BRVÜG idF des Gesetzes vom 18. Mai 1956 (GVBl S. 529) erfüllten,
2) Witwen, die durch § 71 EGRVO vom Bezug der Witwenrente ausgeschlossen waren,
3) alle ehemaligen Witwer - also diejenigen, die nach dem Tode ihres versicherten Ehemannes eine neue Ehe geschlossen hatte -, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die neue Ehe noch bestand oder inzwischen wieder aufgelöst war.
Den beiden ersten Gruppen von Witwen wird nach § 1264 RVO nF i. V. m. Art. 2 § 18 ArVNG vom 1. Januar 1957 an Witwenrente gewährt. Die dritte Gruppe - zu ihr gehört die Klägerin - sollte nach dem insoweit klar zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzes nicht schlechthin in den Rechtszustand versetzt werden, in dem sie sich im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung befand. Dies hätte nämlich bedeutet, daß alle ehemaligen Witwen ohne Rücksicht darauf, auf welche Weise und aus welchen Gründen die neue Ehe ihr Ende gefunden hatte oder demnächst finden würde, vom 1. Januar 1957 an oder später Witwenrente erhalten hätten. Eine solche Regelung trifft das ArVNG jedoch nicht. Es läßt unter Aufrechterhaltung des Grundsatzes, daß die Witwenrente bei Wiederverheiratung wegfällt, im Falle der Scheidung der neuen Ehe den Rentenanspruch nur wieder aufleben, wenn die Witwe ohne alleiniges oder überwiegen des Verschulden geschieden worden ist. Abgesehen hiervon lebt der Rentenanspruch nur dann wieder auf, wenn die neue Ehe nach dem 31. Dezember 1956 aufgelöst oder für nichtig erklärt worden ist. Wollte man nun einer Witwe, die im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung noch keinen Anspruch auf Witwenrente, vielmehr nur eine "Aussicht" auf einen solchen Anspruch hatte, unter den oben angeführten Einschränkungen einen Anspruch auf Witwenrente nach Auflösung ihrer neuen Ehe zubilligen und ihr dadurch gewissermaßen eine nachträgliche "Anerkennung" für ihren früheren - vom ArVNG jetzt als wünschenswert angesehenen - Schritt der Wiederverheiratung zuteil werden lassen, so wäre dieses Ergebnis allerdings insofern nicht unbillig, als auch diejenigen ehemaligen Witwen eine solche "Anerkennung" erhalten, die im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung bereits einen Rentenanspruch hatten und sich ohne die erst durch § 1291 Abs. 2 RVO nF geschaffene Aussicht zur Wiederverheiratung entschlossen hatten. Diese Erwägung reicht jedoch nicht aus, im Wege der Analogie die Rückwirkung des Grundsatzes der unbedingten Witwenrente auf Fälle auszudehnen, in welchen die ehemalige Witwe noch nie einen Rentenanspruch hatte. Eine ergänzende Rechtsfindung setzt stets voraus, daß die Notwendigkeit der Ausdehnung einer gesetzlichen Regelung auf ähnliche Tatbestände sich dem Gesetz selbst entnehmen läßt. Da nach dem ArVNG bei einem Teil der ehemaligen Witwen - nämlich bei denjenigen, deren neue Ehe vor dem 1. Januar 1957 aufgelöst worden ist - sogar ein bereits existent gewesener Anspruch nicht wieder auflebt, hält der Große Senat die Annahme nicht für begründet, daß ehemaligen Witwen, die bisher keinen Anspruch auf Witwenrente hatten, ein solcher Anspruch nach dem sich aus dem Wortlaut und dem Sinn der Vorschriften des ArVNG über das Wiederaufleben eines Witwenrentenanspruchs erkennbaren objektivierten Willen des Gesetzgebers (vgl. BVerfG 1, 312) habe zuerkannt werden sollen. Auch aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes, die in Zweifelsfällen für eine ergänzende Rechtsfindung herangezogen werden kann, läßt sich nichts Entscheidendes für die Rechtsauffassung der Klägerin herleiten, obwohl als Ziel der Neuregelung klar hervortritt, den Arbeitern und ihren Hinterbliebenen im wesentlichen die gleiche Sicherung zu gewähren wie den Versicherten und ihren Hinterbliebenen in der Angestelltenversicherung, für die schon seit Jahrzehnten der Grundsatz der unbedingten Witwenrente galt (§ 68 AVG nF, § 32 AVG aF). Während die grundsätzliche Gleichstellung der Witwen in den beiden Zweigen der Rentenversicherung im Regierungsentwurf nur für die Zeit nach dem Inkrafttreten der Neuregelungsgesetze vorgesehen war (vgl. Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Drucks. 2437 S. 58), ging der Ausschuß für Sozialpolitik bei der Beratung des Entwurfs über dieses Ziel hinaus. In seinem schriftlichen Bericht heißt es in der Begründung zu Art. 2 § 17 (jetzt § 18) ArVNG: "Der Ausschuß hielt es für richtig, den Grundsatz der unbedingten Witwenrente - entgegen dem geltenden Recht und dem Regierungsentwurf - auch auf Todesfälle vor dem 1. Juni 1949 auszudehnen, um die Hinterbliebenen in der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten auch insoweit gleichzustellen." Diese Ausführungen lassen indessen nicht erkennen, daß die angeführte Gleichstellung auch für ehemalige, also wiederverheiratete Witwen von Arbeitern gelten sollte. Es fehlt somit an Anhaltspunkten dafür, daß es dem Sinn des Gesetzes entspräche, nicht nur Ansprüche von ehemaligen Witwen in der Rentenversicherung der Arbeiter unter gewissen Voraussetzungen wiederaufleben zu lassen, sondern unter diesen Voraussetzungen auch solchen Witwen einen Rentenanspruch zuzubilligen, die vor ihrer Wiederverheiratung nicht anspruchsberechtigt waren.
Für den vom Großen Senat abgelehnten Analogieschluß läßt sich auch nicht mit Grund vorbringen, man unterstelle dem Gesetzgeber des ArVNG einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), wenn man annehme, er habe Witwen in der Lage der Klägerin bewußt schlechter stellen wollen als Witwen, die im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung bereits anspruchsberechtigt waren (so Rossmann aaO S. 2, 6). Der Gleichheitsgrundsatz verbietet anerkanntermaßen nur, daß wesentlich Gleiches ungleich, nicht aber daß wesentlich Ungleiches entsprechend der bestehenden Ungleichheit ungleich behandelt wird; er soll nicht den Ermessensspielraum einengen, den das GG dem Gesetzgeber einräumt. Der Gleichheitsgrundsatz ist erst verletzt, wenn ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht ersichtlich ist, kurzum wenn die getroffene Regelung als willkürlich bezeichnet werden muß (vgl. BVerfG 1 S. 14, 16, Leitsatz 18 und S. 52). Der Ausschluß der Klägerin vom Bezug der Witwenrente ist ebensowenig willkürlich wie das Nichtwiederaufleben eines früheren Rentenanspruchs für den Fall, daß die neue Ehe vor dem 1. Januar 1957 aufgelöst worden ist. Als sachlicher Grund dafür, daß das Gesetz für die Fallgruppe der Klägerin keine Rente gewährt, läßt sich vor allem der Umstand anführen, daß diese Witwen sich in ihrer Lebensweise noch nicht auf einen Rentenbezug eingestellt und durch ihre Wiederverheiratung keine wirtschaftlichen Werte aufgegeben hatten, daß also noch kein "Besitzstand" vorhanden war, der es hätte angezeigt erscheinen lassen, ihn nach Auflösung der neuen Ehe wieder zu begründen und zu festigen. Für den Gesetzgeber konnten auch finanzielle Erwägungen maßgebend sein, die oft von Bedeutung sein werden, wenn zu prüfen ist, ob und wie weit eine durch Gesetz eingeführte Vergünstigung auf Tatbestände ausgedehnt werden kann, die in der Vergangenheit liegen und deshalb durch die Neuregelung nicht ohne weiteres erfaßt werden. Ob der Gesetzgeber des ArVNG gerade die hier angedeuteten Erwägungen angestellt hat, ist unerheblich; jedenfalls läßt sich nicht feststellen, daß ein vernünftiger sachlicher Grund für die vorgenommene Differenzierung nicht vorgelegen haben kann.
Der Große Senat hat schließlich geprüft, ob eine Fortbildung des Rechts durch abändernde Rechtsfindung (vgl. Enneccerus-Nipperdey aaO § 59) mit dem von der Klägerin erstrebten Ergebnis möglich ist. Auch diese Frage hat er verneint. Da sich nach den obigen Ausführungen weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch aus seinem Sinnzusammenhang ergibt, daß der Grundsatz der unbedingten Witwenrente auch auf Fälle des früheren Rechts habe ausgedehnt werden sollen, in denen die Witwe im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung noch keinen Anspruch auf Rente hatte, ist der grundsätzlich an das Gesetz und Recht gebundene Richter (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht befugt, die von der Revision erstrebte Ausdehnung allein deshalb vorzunehmen, weil er sie für nicht unbillig oder gar für billig hält. Eine das Gesetz ändernde Rechtsfindung kommt, wie ua das Bundesarbeitsgericht (NJW 1955, 807) mit Recht ausgeführt hat, nur bei Gesetzesbestimmungen in Frage, deren bisherige Auslegung auf später überholten Rechtsanschauungen beruht, mit neueren Rechtsgrundsätzen nicht vereinbar ist und zu nicht mehr zu rechtfertigenden Ergebnissen führt und die deshalb im Interesse der Rechtseinheit und der Rechtsgleichheit mit dem neueren Recht in Übereinstimmung zu bringen sind (vgl. hierzu auch BGHZ 1, 90 und 315; BSG 10, 101). Diese Voraussetzungen liegen bei dem noch sehr jungen ArVNG nicht vor.
Aus den angeführten Gründen hat der Große Senat entschieden:
Schließt die Witwe eines unter der Geltung des § 1256 RVO aF (§ 52 der Satzung der Versicherungsanstalt Berlin) verstorbenen Versicherten, für den die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten war, eine neue Ehe, ohne vorher Anspruch auf Witwenrente gehabt zu haben, und wird diese Ehe nach dem 31. Dezember 1956 ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Ehefrau aufgelöst oder für nichtig erklärt, so besteht kein Anspruch auf Witwenrente.
Hiermit befindet sich der Große Senat, soweit ersichtlich, in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung und der nahezu einhelligen Auffassung im Schrifttum (Bayer. LSG, Amtsbl. des Bayer. Arb. Min. 1959 S. B 50 = Breith. 1959, 428; LSG Hamburg, Breith. 1959, 432; LSG Nordrhein-Westfalen vom 21. November 1958 - L 4 J 265/58; LSG Baden-Württemberg vom 17. Februar 1959 - L 3 J 432/58; Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, § 1291 RVO, Erl. II 1; Hoernigk-Jorks, Rentenversicherung, § 1291 RVO, Erl. 5; Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband deutscher Rentenversicherungsträger, 6. Aufl., § 1291 RVO, Erl. 6; Etmer, Angestellten-Rentenversicherung, § 68 AVG, Erl. 3; Schimanski, Kommentar zum Knappschaftsversicherungsgesetz, § 83 RKG, Erl. 6; Heinze, SGb 1958, 237, 239; Ludwig, DVZ 1959, 64; Klink, ZfS 1960, 29 und SozVers 1961, 67; Barth, SozVers 1960, 137, 138; aA: Rossmann SGb 1959, 2).
Fundstellen