Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Recht auf Übersendung von Prozeßakten zur Einsichtnahme
Orientierungssatz
Das Recht der Verfahrensbeteiligten, die Akten einzusehen (§ 120 iVm § 153 SGG), ist ein Mittel des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Die Beteiligten haben aber nur das Recht auf Einsicht in die Akten an Gerichtsstelle. Sie können Versendung der Akten an einen anderen Ort oder in die Wohnung nicht verlangen.
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 120 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Oktober 1959 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beklagte gewährte dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 28. November 1948 wegen allgemeiner nervöser Störungen nach leichter Gehirnerschütterung, bei anlagebedingter vegetativ-nervöser Übererregbarkeit mit Bescheid vom 20. Oktober 1949 anstelle einer vorläufigen Rente eine Abfindung von 314,70 DM und mit Bescheid vom 7. September 1950 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. Gegen den Bescheid vom 7. September 1950 legte der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt (OVA) ein und machte geltend, die Rente sei wegen Verschlechterung der Gehirnerschütterungsfolgen zu gering. Mit Bescheid vom 1. März 1951 entzog die Beklagte dem Kläger die Rente mit Ablauf des Monats April 1951. Sie stützte sich hierbei auf nervenfachärztliches Gutachten. Auf ihre Veranlassung waren ein Gutachten der Universitätsnervenklinik E. vom 22. September 1949, ein Gutachten des Nervenfacharztes Dr. S vom 20. Juni 1950 und ein weiteres Gutachten von Dr. S vom 22. Februar 1951 erstattet worden.
Nachdem das OVA ein Gutachten der Universitätsnervenklinik M vom 23. Mai 1952 und Ergänzungsgutachten der Universitätsaugenklinik M vom 21. März 1952 und der Universitäts-Hals-, Nasen- und Ohren-Poliklinik M. vom 8. April 1952 eingeholt hatte, ihm ferner ein ärztlicher Befundbericht der Universitäts-Nervenklinik M vom 18. Juni 1952, des weiteren ein ärztlicher Bericht der Universitäts-Nervenklinik E vom 28. Juli 1952 vorlag, hat das Sozialgericht (SG), auf das die Berufung als Klage übergegangen war (§ 215 Abs 2 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), die Klage durch Urteil vom 16. September 1955 abgewiesen.
Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 20. Oktober 1959 zurückgewiesen: Die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Unfallfolgen sei von Dezember 1949 an um nicht mehr als 20 vH gemindert und seit Frühjahr 1954 sei sie nicht mehr meßbar eingeschränkt gewesen. Zwar seien die auf Veranlassung des früheren OVA im März/Mai 1952 erstatteten Gutachten der Kliniken der Universität M nicht mehr vorhanden, da sie dem Kläger bezw seinem damaligen Prozeßbevollmächtigten übersandt worden und dann angeblich verloren gegangen seien. Nach den Gutachten der Universitätsnervenklinik E vom November 1949 und des Nervenfacharztes Dr. S vom Juni 1950 und Februar 1951 sei es jedoch unwahrscheinlich, daß die vom Kläger vorgebrachten Schwindelgefühle sowie Kopf- und Wirbelbeschwerden in einem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall stünden. Die Beurteilungen dieser Ärzte würden gestützt durch das Ergebnis der im Frühjahr 1952 in den Kliniken der Universität M. erstatteten Gutachten; dieses Ergebnis sei aus dem Anschreiben des OVA an den Kläger vom 31. Mai 1952 ersichtlich, mit welchem dem Kläger die Rechtsmittelrücknahme anheimgegeben worden sei, weil auch in den übermittelten Gutachten die vorgebrachten Beschwerden nicht als unfallbedingt hätten anerkannt werden können und die unfallbedingte MdE mit unter 10 vH habe beziffert werden müssen. Darüber hinaus stimme das Ergebnis dieser ärztlichen Begutachtungen mit den in den Berichten der Universitätskliniken M. und E. vom 18. Juni 1952 und 28. Juli 1952 enthaltenen Befundfeststellungen und ärztlichen Beurteilungen überein. Hiernach hätten aber beim Kläger weder klinisch noch durch zusätzliche Spezialuntersuchungen wesentliche krankhafte somatische Veränderungen festgestellt werden können, die mit Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückgeführt werden könnten. Nach Auffassung auch dieser Ärzte handele es sich beim Kläger vielmehr um ein neurasthenisch-hypochondrisches Zustandsbild, das auf dem Boden einer psychopathischen Veranlagung entstanden sei und mit dem Unfall nichts zu tun habe.
Gegen das am 23. November 1959 zugestellte Urteil hat der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten am 22. Dezember 1959 Revision eingelegt und sie am 20. Januar 1960 mit der Rüge wesentlicher Verfahrensmängel begründet.
Die vom LSG nicht zugelassene Revision wäre nur statthaft, wenn ein gerügter wesentlicher Mangel des Verfahrens vorläge (§ 162 Abs 1 Nr 2 SGG, vgl BSG 1, 150) oder das LSG bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall das Gesetz verletzt hätte (§ 162 Abs 1 Nr 3 SGG).
Eine unter § 162 Abs 1 Nr 3 SGG fallende Rüge (vgl BSG 6, 120) ist von der Revision nicht erhoben worden. Die innerhalb der Revisionsbegründungsfrist vorgetragenen Rügen wesentlicher Verfahrensmängel treffen nicht zu.
Als wesentlichen Verfahrensmangel rügt der Kläger Versagung des rechtlichen Gehörs. Die Versagung erblickt er darin, daß seinem - einen Tag nach der Empfangnahme der Terminsladung - am 7. Oktober 1959 bestellten Prozeßbevollmächtigten, der noch am 7. Oktober 1959 um Übersendung der Gerichtsakten gebeten habe, mit Schreiben des LSG vom 12. Oktober 1959 mitgeteilt worden sei, daß die Akten nicht mehr verschickt werden könnten, weil keine Gewähr für eine rechtzeitige Rückgabe bis zum Termin vom 20. Oktober 1959 gegeben sei. Deshalb habe sein Prozeßbevollmächtigter vor Gericht zur Sache nicht Stellung nehmen können. Diese Rüge ist nicht berechtigt. Das Recht der Beteiligten, die Akten einzusehen (§ 120 iVm § 153 SGG), ist ein Mittel des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Die Beteiligten haben aber nur das Recht auf Einsicht in die Akten an Gerichtsstelle. Sie können Versendung der Akten an einen anderen Ort oder in die Wohnung nicht verlangen (Brackmann, Handbuch der Sozialsicherung, Stand 1. 9. 1961, Bd. 1 S 244 i; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 120 Anm 1 S II/88; Baumbach/Lauterbach, ZPO, 26. Aufl, § 299 Anm 2), wenn auch vielfach dem Wunsch der Beteiligten entsprechend die Akten an ein am Wohnort befindliches Gericht zwecks Einsichtnahme bei diesem Gericht oder in die Wohnung des Rechtsanwalts übersandt werden können (Brackmann aaO mit weiteren Nachweisen). Wie sich aus dem Schreiben des LSG vom 12. Oktober 1959 ergibt, ist dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers die Möglichkeit eingeräumt worden, "die Akten ab sofort bis zum Aufruf der Sache bei Gericht einzusehen". Im übrigen hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers, wie die Revision zugibt, vor dem Termin beim LSG die Akten eingesehen.
Die Revision bringt weiter vor: Bei Durchsicht der Akten habe sich herausgestellt, daß kein einziges Gutachten in den Gerichtsakten gewesen sei. Die Akten hätten nur verschiedene ärztliche Berichte, in denen auf die nicht vorhandenen Gutachten Bezug genommen worden sei, enthalten. Diese Mitteilungen und Berichte hätte nicht als Entscheidungsgrundlage verwertet werden dürfen. Der Antrag des Prozeßbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG, ein Obergutachten darüber einzuholen, daß die vom Kläger vorgetragenen Beschwerden auf den Unfall zurückzuführen seien, hätte daher nicht abgewiesen werden dürfen, zumal da der Kläger der Meinung gewesen sei, daß alle Gutachten in den Gerichtsakten zu finden gewesen und die für ihn günstigen Gutachten in den Jahren nach 1954 erstattet worden seien. - Dieses Vorbringen soll offenbar als Rüge mangelnder Sachaufklärung (§ 103 SGG) durch das LSG aufzufassen sein. Ein solcher Verfahrensmangel ist damit jedoch nicht schlüssig dargetan. Zwar trifft es zu, daß die vom damaligen OVA bei der Eisenbahndirektion M eingeholten Ergänzungsgutachten der Universitäts-Augen-Klinik M vom 21. März 1952 und der Universitäts-Hals-, Nasen- und Ohren-Poliklinik M vom 8. April 1952 sowie das Hauptgutachten der Universitäts-Nervenklinik M vom 23. Mai 1952 sich nicht mehr in den Gerichtsakten befinden, da sie dem Kläger persönlich und seinem damaligen Prozeßbevollmächtigten vom Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (VdK) übersandt worden und dann angeblich verloren gegangen sind. Die Revision hat jedoch nicht schlüssig vorgetragen, warum das LSG die in den Verwaltungsakten der Beklagten vorhandenen Gutachten und die in den SG-Akten befindlichen ärztlichen Mitteilungen und Befundberichte der Universitätskliniken M und E vom 18. Juni und 28. Juli 1952 bei seiner Entscheidung nicht hätte verwerten dürfen, und auf Grund welcher Umstände es sich hätte gedrängt fühlen müssen, durch Einholung eines erneuten Gutachtens weitere Ermittlungen anzustellen (vgl SozR SGG § 103 Bl Da 5 Nr 14). Nach den Beurteilungen in den im Verwaltungsverfahren erstatteten Gutachten und in den Berichten der Universitätskliniken M und E vom 18. Juni 1952 und 28. Juli 1952 durfte das LSG davon ausgehen, daß es sich bei dem Kläger um ein neurasthenisch-hypochondrisches Zustandsbild handelte, das auf dem Boden einer psychopathischen Veranlagung entstanden war und mit dem Unfall nichts zu tun hatte, so daß vom Frühjahr 1951 an (statt Frühjahr 1954, wie vom LSG offensichtlich versehentlich angenommen wurde,) keine meßbare MdE beim Kläger mehr bestand. Die Revision hätte demgegenüber im Hinblick auf die Formerfordernisse des § 164 Abs 2 Satz 2 SGG im einzelnen darlegen müssen, was bei Berücksichtigung der vorliegenden ärztlichen Gutachten und Befundberichte noch aufzuklären gewesen wäre und inwieweit die vorhandenen ärztlichen Gutachten und Berichte zur Aufklärung des Sachverhalts nicht ausreichten. Sie hätte insbesondere durch Bezeichnung von Tatsachen und Beweismitteln anführen müssen, inwieweit und in welchen Punkten die angeblich nach 1954 erstatteten Gutachten eine für den Kläger günstigere Beurteilung rechtfertigen würden. Die Revisionsbegründung entspricht somit nicht den nach § 164 Abs 2 Satz 2 SGG vorgeschriebenen Formerfordernissen.
Die Revision ist hiernach nicht statthaft. Sie war deshalb als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen