Leitsatz (amtlich)
1. Über die einstweilige Aussetzung des Vollzugs eines Verwaltungsakts nach SGG § 97 Abs 2 entscheidet der Senat außerhalb der mündlichen Verhandlung ohne Zuziehung der Bundessozialrichter.
2. Die Entziehung der kassenärztlichen Zulassung ist ein Verwaltungsakt, dessen Vollzug in entsprechender Anwendung des SGG § 97 Abs 2 einstweilen ausgesetzt werden kann.
Normenkette
SGG § 97 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; SVÄZO BE § 25 Fassung: 1951-09-03
Tenor
Der Vollzug des Beschlusses des Beklagten vom 30. September 1952 wird einstweilen ausgesetzt.
Gründe
Dem Kläger ist durch den angefochtenen Beschluß die Zulassung zur Ausübung sozialversicherungsärztlicher Tätigkeit durch Betreiben eines medizinisch-diagnostischen Instituts in Berlin ..., ... entzogen worden. (§ 13 der Berliner Zulassungsordnung für medizinisch-diagnostische Institute vom 3. September 1951 in Verbindung mit § 25 der Zulassungsordnung für Sozialversicherungsärzte in Berlin vom 3. September 1951). Seinem Antrag, den Vollzug dieses Entziehungsbescheids einstweilen auszusetzen, war stattzugeben.
I. Nach § 97 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit §§ 153 Abs. 1, 165 SGG trifft "das Gericht" die Anordnung, daß der Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts einstweilen ausgesetzt wird. Die Anordnung ergeht als Entscheidung des Gerichts, die nicht Urteil ist, durch Beschluß. Da das Gesetz eine mündliche Verhandlung für sie nicht vorgeschrieben hat, kann der Beschluß nach § 124 Abs. 5 SGG ohne mündliche Verhandlung ergehen.
Aus der Vorschrift des § 142 Abs. 1 SGG, die festlegt, welche Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes für Beschlüsse entsprechend gelten sollen, kann für die Frage, in welcher Besetzung das Gericht den Beschluß nach § 97 Abs. 2 SGG zu fassen hat, nichts entnommen werden. Nur in § 169 S. 3 SGG findet sich eine ausdrückliche Regelung des Gesetzes zu der Frage, wie sich der entscheidende Senat des Bundessozialgerichts bei einer Beschlußfassung zusammensetzt; wenn er eine Revision ohne mündliche Verhandlung als unzulässig verwirft, ergeht der Beschluß ohne Zuziehung der Bundessozialrichter. Hieraus kann zunächst nur geschlossen werden, daß die Verwerfung der Revision auf Grund mündlicher Verhandlung unter Zuziehung der Bundessozialrichter zu erfolgen hat, nicht jedoch, daß die Bundessozialrichter in allen anderen Fällen einer Beschlußfassung ohne mündliche Verhandlung mitzuwirken haben. Diese Folgerung wäre nur gerechtfertigt t wenn die Vorschrift des § 32 S. 1 in Verb. mit § 40 S. 1 SGG,. wonach jeder Senat in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei Bundessozialrichtern "tätig wird", in dem umfassenden Sinne verstanden werden müßte, daß das Gericht - abgesehen von den im Gesetz ausdrücklich aufgeführten Ausnahmefällen - nur in dieser Besetzung entscheiden könne. Eine solche Auslegung würde aber nicht mit den Grundsätzen übereinstimmen, die der Große Senat des Bundessozialgerichte in seiner Entscheidung vom 21. April 1955 - Az.: G... S... 1/55 - über den Aufgabenbereich der Bundessozialrichter entwickelt hat. Danach beschränkt sich die Mitwirkung der ehrenamtlichen Beisitzer grundsätzlich, auf das eigentliche Urteileverfahren, nämlich die mündliche Verhandlung (§§ 124 Abs. 1, 132 SGG), sowie bei dem schriftlichen Urteilsverfahren nach § 124 Abs. 2 SGG auf die Beschlußfassung über das Urteil. In diesem Teil des Verfahrensbilden, wie der Große Senat ausgeführt hat, die rechtskundigen Berufsrichter und die auf Grund ihrer Lebenserfahrung und sozialen Stellung berufenen ehrenamtlichen Beisitzer eine einheitliche Richterbank. Sie müssen zur Fällung einer Entscheidung und bei ihrer Verkündung, aber auch bei allen in dieser Sitzung erforderlich werdenden Beschlüssen gemeinsam tätig werden, selbst wenn die Beisitzer bei gleichartigen Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung nicht mitwirken. Beschlüsse außerhalb der mündlichen Verhandlung gehören dagegen nach der Rechtsprechung des Großen Senats im allgemeinen entweder zu den "vorbereitenden Maßnahmen" oder zu den "Vorgängen des Verfahrens, die dem Erlaß der Entscheidung folgen und die notwendig sind, um deren Verwirklichung zu ermöglichen und zu sichern". In ähnlichem Sinne hat auch das Bundesarbeitsgericht für das arbeitsgerichtliche Verfahren, das in Ansehung der Stellung und der Aufgaben der ehrenamtlichen Beisitzer im wesentlichen auf den gleichen Grundgedanken wie das Verfahren vor den Sozialgerichten beruht, in dem Beschluß vom 2. Juni 1954 - 2 AZR 63/53 - ausgeführt, es liege kein Bedürfnis dafür vor, die Arbeitsrichter im Urteilsverfahren mit allen Vorentscheidungen und Nebenentscheidungen des Rechtsstreits, die außerhalb der mündlichen Verhandlung ergehen, zu befassen; sie genügten vielmehr - ebenso wie Schöffen und Geschworene - ihrer Aufgabe, wenn sie bei der abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits mitwirken (vgl. Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts - Arbeitsrechtliche Praxis - Nr. 1 zu § 53 ArbGG).
Diese Auffassung entspricht auch dem das sozialgerichtliche und gleichermaßen das arbeitsgerichtliche Verfahren beherrschenden Grundsatz, daß Entscheidungen möglichst schnell herbeigeführt werden sollen (vgl. §§ 104 S. 4, 106 Abs. 2, 109 Abs. 2, 110 S. 2, 134 S. 2 SGG, § 9 Abs. 1 ArbGG). Dieser Gedanke beansprucht insbesondere dann Geltung, wenn der fraglichen Vorentscheidung oder Nebenentscheidung im Rahmen des Sozialrechtsstreits ihrer Natur nach ein besonderer Dringlichkeitscharakter zukommt. Die Anordnung des Gerichts, daß der Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts einstweilen ausgesetzt wird, ist eine solche Vorentscheidung, die keinen Aufschub duldet. Es würde aber eine wesentliche Verzögerung des Verfahrens bedeuten, wenn die ehrenamtlichen Beisitzer für die nicht vorauszusehenden Fälle der Beschlußfassung nach § 97 Abs. 2 SGG besonders geladen werden müßten, abgesehen davon, daß im Geschäftsbereich des Bundessozialgerichts die Ladung der vom Sitz des Gerichts oft weit entfernt wohnenden Bundessozialrichter auf kurze Sicht sich als praktisch kaum durchführbar erweist. Andererseits könnte ein Aufschieben der Entscheidung nach § 97 Abs. 2 SGG bis zur nächsten "planmäßigen" Sitzung des auch mit Bundessozialrichtern besetzten Senats eine mit Sinn und Zweck des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht vereinbare Verzögerung der Entscheidung und damit häufig eine Benachteiligung des Klägers bedeuten.
Der Senat ist daher davon ausgegangen, daß die Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollstreckung eines angefochtenen Verwaltungsaktes (§ 97 Abs. 2 SGG) jedenfalls dann ohne Mitwirkung der Bundessozialrichter zu treffen ist, wenn der Beschluß - wie im vorliegenden Rechtsstreit - außerhalb der mündlichen Verhandlung ergeht.
Nach § 97 Abs. 2 SGG kann das Gericht die einstweilige Aussetzung des Vollzuges eines mit Klage angefochtenen Verwaltungsaktes anordnen, wenn der Verwaltungsakt "eine laufende Leistung herabsetzt oder entzieht". Die Entziehung der Zulassung zur Kassenpraxis, die einen Verwaltungsakt darstellt, ist nach dem Sinn des Gesetzes für die Anwendung des § 97 Abs. 2 SGG einem Verwaltungsakt, durch den eine laufende Leistung herabgesetzt oder entzogen wird, gleichzuachten. Das gilt zwar - entgegen der vom Kläger dargelegten Rechtsauffassung - nicht deshalb, weil die Einkünfte aus der Kassenpraxis als "laufende Leistungen" i.S. des § 97 Abs. 2 SGG anzusehen wären; der Verlust des Kassenhonorars ist nur eine mittelbare Folge der Entziehung der Zulassung, während § 97 Abs. 2 SGG von Verwaltungsakten handelt, die unmittelbar die Herabsetzung oder Entziehung von laufenden Leistungen zum Gegenstand haben. Die entsprechende Anwendung des § 97 Abs. 2 SGG auf die Entziehung der Kassenpraxis findet ihre Rechtfertigung vielmehr in der Erwägung, daß Verwaltungsakte über die Entziehung von laufenden Leistungen und Verwaltungsakte, durch welche die Zulassung zur Kassenpraxis entzogen wird, wirtschaftlich gleiche Auswirkungen für die Beteiligten haben. Eine sinnvolle Auslegung des Gesetzes verlangt daher, daß bei Anfechtung solcher Verwaltungsakte die Beteiligten auf Antrag den gleichen Vollstreckungsschutz erfahren.
Im sozialgerichtlichen Verfahren haben die Klage und die Rechtsmittel der Berufung und Revision - anders als ira Verfahren vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten (vgl. § 51 MRVO 165, § 51 VerwGG) - nur in wenigen bestimmten Fällen aufschiebende Wirkung (§§ 97 Abs. 1, 154 Abs. 1, 165 SGG). Die typischen Fälle der Anfechtungsklage vor den Sozialgerichten betreffen Verwaltungsakte, durch die von den Klägern geltend gemachte Leistungsansprüche ganz oder teilweise abgelehnt werden. Wie Peters-Sautter-Wolff (Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand: 2. Nachtrag, Anm. 1 zu § 97) mit Recht hervorheben, ändert sich durch den Verwaltungsakt der Ablehnung in diesen Fällen die wirtschaftliche Lage des Antragstellers nicht. Er ist jedenfalls hinsichtlich seiner dem Lebensunterhalt dienenden laufenden Einkünfte nicht schlechter gestellt als bisher. Auch kann der Verwaltungsakt, der eine Ablehnung ausspricht, seiner Natur nach nicht vollzogen werden. Seine Wirkung braucht deshalb nicht aufgeschoben zu werden. Aus diesen Gründen kennt das SGG in, Anlehnung an den früheren § 130 i.Verb. mit §§ 1682, 1710, 1779 RVO - aufgehoben durch § 224 Abs. 3 SGG - keine allgemein aufschiebende Wirkung der Klage und der Rechtsmittel. Wenn jedoch der Verwaltungsakt in die Rechtsstellung des Klägers dergestalt eingreift, daß sein Vollzug die wirtschaftliche Lage das Klägers zu seinem Nachteil verändert, gewährt auch das SGG in § 97 Schutz gegen seine Vollziehung.
Den Tatbeständen des § 97 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGG - Nr. 3 hat einen anderen Zweck - und des § 97 Abs. 2 SGG ist gemeinsam, daß die angefochtenen Verwaltungsakte im allgemeinen in die laufende Unterhaltssicherung des Klägers eingreifen. Bei der Kapitalabfindung von Versicherungsansprüchen (§ 97 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist der Eingriff in der Einstellung einer bisher laufenden Leistung (§§ 217, 218, 616, 616a, 617 RVO) zu sehen; mit Recht nimmt deshalb die amtliche Begründung zu den §§ 44, 45 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung - jetzt § 97 SGG - (Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Drucksache Nr. 4357 S. 27 f.) an, daß die Klage keine aufschiebende Wirkung hat, wenn die Kapitalabfindung wie im Fall der Witwenrentenabfindung (§ 1287 S. 2 RVO) nicht mit dem Wegfall einer laufenden Leistung verbunden ist. - Die Leistungsrückforderung (§ 97 Abs. 1 Nr. 2 SGG), die häufig mit einer Aufrechnung gegen laufende Leistungsansprüche verbunden ist, bedeutet regelmäßig einen, wirtschaftlich erheblichen Eingriff für den Versicherten oder Versorgungsberechtigten, der erst verantwortet werden kann, wenn die Rückzahlungspflicht endgültig feststeht (vgl. die amtliche Begründung zu §§ 44 und 45 des Entwurfs a.a.O., S. 28). - Die Herabsetzung oder Entziehung einer laufenden Leistung - z.B. einer Rente - (§ 97 Abs. 2 SGG) ist den im § 97 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG behandelten Fällen in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für den Leistungsempfänger im wesentlichen gleichzustellen; sie ist aber auch für die leistungsträger im Hinblick auf die fortlaufende Gewährung von besonderem Gewicht. Der Gesetzgeber hat daher im SGG für den Fall des Entzugs einer laufenden Leistung nicht schon der Klageerhebung aufschiebende Wirkung beigelegt, sondern dem Gericht die Entscheidung über die Aussetzung des Vollzugs des Verwaltungsakts übertragen. Das Gericht soll in diesen Fällen das öffentliche Interesse am baldigen Vollzug des Verwaltungsakts und die Belange des Klägers gegeneinander abwägen.
Wenn der Gesetzgeber in § 97 Abs. 2 SGG ausdrücklich auch nur den für die Praxis der Sozialgerichte besonders wichtigen Fall der Entziehung oder Herabsetzung laufender Leistungen geregelt hat, so kommt in dieser Vorschrift doch der allgemeine Rechtsgedanke zum Ausdruck, daß bei Eingriffen der Verwaltung in dauernde Rechtsverhältnisse, die dem laufende Unterhalt zu dienen bestimmt oder doch geeignet sind, dem Gericht die Möglichkeit einer Aussetzung des Vollzuges eines solchen für den Betroffenen besondere schwerwiegenden Verwaltungsaktes gegeben sein soll. Die Entziehung der Zulassung zur Kassenpraxis stellt einen solchen Eingriff in ein dauerndes, regelmäßig mit laufenden Einnahmen verbundenes Rechtsverhältnis dar. Sie hat für den Betroffenen in der Regel keine geringere Bedeutung als die Entziehung einer laufenden Sozialleistung. Die Einnahmen aus der kassenärztlichen Betätigung sind heute im allgemeinen der wichtigste Teil in den Gesamteinnahmen eines zur Kassenpraxis zugelassenen Arztes; ihr Wegfall entzieht dem Arzt in den meisten Fällen die Grundlage seiner wirtschaftlichen Existenz. Zudem ist der Vollzug der Entziehung der Kassenpraxis, falls der Kläger obsiegt, häufig noch schwerer wiedergutzumachen als die rechtswidrig erfolgte Rentenentziehung. Andererseits kann das Fortbestehen einer zu Unrecht ausgesprochenen Zulassung für andere Ärzte, die sich um die Zulassung bewerben, sehr nachteilig sein. Deshalb ist es nach dem Zweck des Gesetzes geboten, bei Eingriffen der Verwaltung in das durch die Zulassung begründete, auf Dauer abgestellte Rechtsverhältnis der kassenärztlichen Berechtigung und Verpflichtung den gleichen, durch Gerichtsentscheidung herbeizuführenden Schutz gegen den Vollzug zu geben wie bei dem Anspruch eines Berechtigten auf eine laufende Sozialleistung. In entsprechender Anwendung das § 97 Abs. 2 SGG kann deshalb das Gericht - auch das Revisionsgericht nach §§ 153 SGG - den Vollzug der Zulassungsentziehung einstweilen aussetzen. (so im Ergebnis Beschluß d.S. Ger. Berlin vom 8. September 1954 nit zustimmender Anmerkung von Hess, Ärztl. Mitteilungen 1955 S. 60; dagegen Bayer. L.S. Ger. vom 31. März 1954, Breith. 1954, S. 449 und L.S.Ger. Celle vom 30. November 1954, Z.f.S. 1955, S. 42).
Nach Anhörung des Beklagten ist der Senat zu der Feststellung gelangt, daß öffentliche Interessen nicht gefährdet -werden, wenn im vorliegenden Streitfall der Vollzug der Zulassungsentziehung einstweilen ausgesetzt wird, daß andererseits aber die auch nur vorübergehende Einstellung der sozialversicherungsärztlichen Tätigkeit für den Revisionskläger unwiederbringliche Nachteile zur Folge hätte.
Dem Antrag des Klägers auf einstweilige Einstellung der Vollziehung war deshalb zu entsprechen.
Fundstellen