Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung. keine Klärungsfähigkeit bzw Entscheidungserheblichkeit. Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Angemessenheitsprüfung. Nichtvorliegen eines schlüssigen Konzepts des Grundsicherungsträgers. fehlende Einbeziehung von Bestandsmieten. Nachbesserungsmöglichkeiten
Orientierungssatz
1. Eine Rechtsfrage ist vom Revisionsgericht klärungsfähig, wenn sie sich ihm auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz stellt (vgl BSG vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B = SozR 4-1500 § 160 Nr 30).
2. Nicht ausreichend ist der Vortrag des Beschwerdeführers zur Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen, soweit diese auf die Möglichkeit der Nachbesserung des Konzepts des Grundsicherungsträgers zur Ermittlung angemessener Unterkunftskosten gemäß § 22 SGB 2 zielen, wenn im Fall einer Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht lediglich die bloße Möglichkeit besteht, dass die formulierten Rechtsfragen nach weiterer Sachverhaltsaufklärung entscheidungserheblich werden können.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 1; SGB 2 § 22 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 21. März 2019 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat den Klägern die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Damit erledigt sich der Antrag der Kläger auf Prozesskostenhilfe.
Gründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Beklagte keinen Zulassungsgrund in der gebotenen Weise dargelegt oder bezeichnet hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerde ist daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 SGG).
1. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr; siehe bereits BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist - auch für die Rüge einer Gehörsverletzung, die im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt ist (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 ZPO) - aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung, ausgehend von der Rechtsansicht des LSG, auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht (zu den Anforderungen vgl etwa BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 169/15 B - juris, RdNr 9 mwN).
Die Beschwerde des Beklagten wird diesen Darlegungsanforderungen nicht gerecht. Sein Vortrag, ihm sei verwehrt worden, sich zur Nachbesserung des Konzepts unter Berücksichtigung weiterer Daten zu äußern, vermag den Verfahrensfehler der Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht schlüssig zu begründen. Denn die beabsichtigte Nachbesserung war, wie der Beklagte unter Hinweis auf die Sitzungsniederschrift ausführt, ausdrücklich Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Zudem ist nicht ersichtlich, warum die Entscheidung des LSG auf fehlendem rechtlichen Gehör zur Nachbesserung beruhen könnte. Nach Auffassung des LSG, die allein maßgebend ist, war die beabsichtigte Auswertung von Bestandsmieten zum einen nicht geeignet, das Konzept zu stützen, und zum anderen hat das LSG hierin auch keine Nachbesserung, sondern den Versuch der Erstellung eines ganz neuen Konzepts gesehen. Vor diesem Hintergrund kann im Übrigen auch der Verzicht des LSG auf eine Vertagung, unbeschadet des Umstands, dass der rechtskundig vertretene Beklagte in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich nur einen Sachantrag gestellt hat, nicht als verfahrensfehlerhaft angesehen werden.
Warum die Entscheidung des LSG überraschend gewesen sein könnte, erschließt sich nach dem Vortrag des Beklagten ebenfalls nicht. Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt erst vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (stRspr; vgl etwa BVerfG vom 1.8.2017 - 2 BvR 3068/14 - NJW 2017, 3218 ff, 3219; BSG vom 13.3.2018 - B 11 AL 79/17 B - juris, RdNr 9; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b). Der Verfahrensmangel einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt (zu den Anforderungen vgl etwa BSG vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - juris, RdNr 9). Daran fehlt es. Nachdem das LSG die Streitsache ohne weitere Hinweise geladen und in der mündlichen Verhandlung trotz der Ausführungen des Beklagten Sachanträge aufgenommen und die Verhandlung geschlossen hat, konnte eine Bestätigung der Entscheidung des SG mit der Begründung, es liege kein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft vor, nicht überraschend sein.
Schließlich ist auch eine Verletzung von § 136 Abs 1 Nr 6 SGG der Beschwerde nicht zu entnehmen. Ein Urteil ist bereits dann im Sinne dieser Vorschrift mit Gründen versehen, wenn mindestens die angewandten Rechtsnormen genannt werden und angegeben ist, aus welchen tatsächlichen und rechtlichen Gründen deren Tatbestandsmerkmale vorliegen bzw nicht vorliegen (vgl BSG vom 3.5.2018 - B 11 AL 2/17 R - BSGE 126, 25 = SozR 4-4300 § 159 Nr 6, RdNr 14). Diesen Anforderungen werden die vom Beklagten wiedergegebenen Entscheidungsgründe des LSG gerecht.
2. Eine Abweichung (Divergenz) iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nur dann hinreichend dargelegt, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht. Eine Abweichung liegt nicht schon vor, wenn die angefochtene Entscheidung nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG, der GmSOGB oder das BVerfG aufgestellt haben, weil die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall nicht die Zulassung einer Revision wegen Abweichung rechtfertigt. Erforderlich ist vielmehr, dass das LSG diesen Kriterien widersprochen und über den Einzelfall hinausgehende andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die - behauptete - Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die fehlende Übereinstimmung im Grundsätzlichen kann die Zulassung wegen Abweichung begründen (stRspr; vgl etwa BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34; Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 160 RdNr 119).
Dem entspricht es nicht, wenn der Beklagte Rechtssätzen des LSG gegenüberstellt, als tragende Rechtssätze des BSG zu der Regelung des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II könne formuliert werden: "Jedes auf einer unzureichenden Datengrundlage beruhende (unschlüssige) Konzept ist im gerichtlichen Verfahren zunächst durch Datennacherhebung und Datenauswertung nachzubessern. Eine Nachbesserung kommt nur dann nicht (mehr) in Betracht, wenn ein lokaler Erkenntnisausfall festgestellt wurde." Bei dieser Umschreibung handelt es sich um eine zusammenfassende Interpretation verschiedener Entscheidungen des BSG, die als Maßstab für die Beurteilung, ob eine Abweichung iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG vorliegt, schon deshalb nicht geeignet ist, weil rechtliche Aussagen des BSG aus verschiedenen Urteilen aufgegriffen werden, ohne dass erkennbar wird, in welchen Fällen diese Aussagen überhaupt tragend gewesen sind.
3. Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache schließlich nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass eine konkrete Rechtsfrage klar formuliert wird. Weiter muss ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit im jeweiligen Rechtsstreit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) aufgezeigt werden (stRspr; vgl etwa BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN).
Diesen Darlegungsanforderungen wird die Beschwerdebegründung ebenfalls nicht gerecht. Für grundsätzlich klärungsbedürftig und im vorliegenden Rechtsstreit auch klärungsfähig erachtet der Beklagte folgende Fragen:
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Ist die Schlüssigkeit eines Konzepts für die Bemessung von abstrakt angemessenen Kosten der Unterkunft bereits dann zu verneinen, wenn die Datengrundlage keine Bestandsmieten beinhaltet? |
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Ist eine Nachbesserungsfähigkeit nicht nur bei einem "Erkenntnisausfall" iS der Rechtsprechung des BSG ausgeschlossen, sondern auch für den Fall der Änderung einer Konzeption iS einer anderen "Herangehensweise", also der Anpassung des methodischen Ansatzes? |
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Steht es der Vergleichbarkeit von Daten entgegen, wenn bei Angebotsmieten die Werte aller Wohnungsmarktsegmente ermittelt wurden, während bei Bestandsmieten von vornherein eine Beschränkung auf Transferleistungsempfänger erfolgt ist? |
Es fehlt zum einen jeweils an ausreichenden Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit dieser Fragen. Die Beschwerde zeigt nicht in der gebotenen Weise auf, warum diese Fragen durch die umfangreiche Rechtsprechung des BSG zur Angemessenheit der Kosten der Unterkunft (zuletzt - die bisherige Rechtsprechung zusammenfassend - BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 10/18 R, B 14 AS 41/18 R, B 14 AS 12/18 R, B 14 AS 24/18 R - vorgesehen für BSGE sowie SozR 4-4200 § 22 Nr 101) nicht zu klären bzw nicht schon geklärt sind (in diesem Sinne zu dem Konzept des Beklagten bereits BSG vom 28.1.2019 - B 8 SO 41/18 B - RdNr 6). Welche Daten Grundlage eines schlüssigen Konzepts sein müssen und in welcher Weise ein Konzept möglicherweise nachgebessert werden kann, ist mehrfach Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen gewesen. Dies kommt in der Beschwerdebegründung zum Ausdruck, denn zu allen aufgeworfenen Fragen wird Rechtsprechung des BSG angeführt. Selbst die von der Beschwerde referierte Rechtsprechung verschiedener Instanzgerichte bezieht sich jeweils ausdrücklich auf BSG-Rechtsprechung. Diese Urteile stellen die Rechtsprechung des BSG also - entgegen den Ausführungen in der Beschwerde - gerade nicht in Frage, was eine (erneute) Klärungsbedürftigkeit (wieder) begründen könnte. Im Kern wendet sich der Beklagte hier vielmehr gegen die Umsetzung der Rechtsprechung des BSG im vorliegenden Einzelfall seines konkreten Konzepts und damit tatsächlich gegen die Rechtsanwendung des LSG. Indessen können mögliche Fehler der Rechtsanwendung im Einzelfall die Zulassung der Revision nicht rechtfertigen (vgl Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 160a RdNr 73 ff).
Davon abgesehen ist § 22c SGB II, auf den der Beklagte sich mehrfach bezieht, erst zum 1.4.2011 geschaffen worden. Hier geht es aber um einen Leistungszeitraum von Februar bis Juli 2011 und daher um ein schon vor diesem Zeitraum erstelltes Konzept. Vor diesem Hintergrund hätte jedenfalls die Anwendbarkeit und Bedeutung dieser Norm weitergehender Überlegungen bedurft.
Nicht ausreichend ist zum anderen der Vortrag des Beklagten zur Klärungsfähigkeit der von ihm aufgeworfenen Fragen, soweit diese auf die Möglichkeit der Nachbesserung seines Konzepts zielen. Eine Rechtsfrage ist vom Revisionsgericht klärungsfähig, wenn sie sich ihm auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz stellt (vgl etwa BSG vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 8). Daran fehlt es, wenn im Fall einer Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht lediglich die bloße Möglichkeit besteht, dass die formulierte Rechtsfrage nach weiterer Sachverhaltsaufklärung entscheidungserheblich werden kann (BSG aaO RdNr 10).
So ist es hier. Selbst wenn das LSG bei einer Zurückverweisung im Anschluss an das angestrebte Revisionsverfahren dem Beklagten Gelegenheit zu geben hätte, Nachermittlungen zu Bestandsmieten vorzunehmen und die sich daraus ergebenden Angemessenheitswerte vorzulegen (vgl BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - vorgesehen für BSGE sowie SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 39), wäre offen, ob die formulierten Rechtsfragen zur Erstellung eines schlüssigen Konzepts in einem solchen Fall nach Vorlage eines neuen Konzepts zur Ermittlung abstrakt angemessener Nettokaltmieten erneut entscheidungserheblich werden können (vgl BSG vom 30.10.2019 - B 14 AS 158/18 B - juris, RdNr 6; BSG vom 30.10.2019 - B 14 AS 84/18 B - juris, RdNr 9).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Durch die Verpflichtung des Beklagten, die Kosten der Kläger zu tragen, hat sich der Antrag der Kläger auf PKH erledigt.
Fundstellen
Dokument-Index HI13890866 |