Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör. Darlegungsanforderungen. aus sich selbst heraus verständliche Beschwerdeschrift. Bezeichnung aller Tatsachen. Schilderung einer vollständigen Prüfungsgrundlage. Gesamtzusammenhang einer zitierten Urteilspassage. Erforderlichkeit der ergänzenden Aktenlektüre. kein Rückgriff auf den Akteninhalt. Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Einlassungen des Klägers vor dem Sozialgericht. andere Würdigung durch das Berufungsgericht. schriftliche Anhörung im Berufungsverfahren als "wiederholte Beweisaufnahme". Glaubwürdigkeitsbeurteilung. Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit. Divergenz. Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Diabetes mellitus. Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung. Abweichung von der BSG-Rechtsprechung. Rechtsanwendungsfehler im Einzelfall
Orientierungssatz
1. Der Beschwerdeführer einer Nichtzulassungsbeschwerde hat entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG nicht die vollständigen Tatsachen bezeichnet, die den von ihm behaupteten Verfahrensmangel ergeben, wenn der Gesamtzusammenhang der vom ihm zitierten Urteilspassage und insbesondere ihre Verknüpfung mit dem vom Berufungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten unklar bleibt und nur mithilfe ergänzender Aktenlektüre ermittelt werden kann.
2. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nach § 117 SGG kommt in Betracht, wenn das LSG die Einlassungen des Klägers vor dem SG, das ihn als Beteiligten vernommen hat, anders wertet als das erstinstanzliche Gericht (vgl BSG vom 5.9.2006 - B 7a AL 78/06 B). Ein solcher Fall liegt aber nicht vor, wenn das Berufungsgericht schriftliche Antworten des Klägers auf verschiedene Fragen (hier zu den Auswirkungen seines Diabetes mellitus) eingeholt hat und damit eine schriftliche Anhörung als "wiederholte Beweisaufnahme" in der Berufungsinstanz erfolgt ist.
3. Ordnet das LSG die Angaben des Klägers als "nicht verständlich" oder "schon verwunderlich" ein, muss dies je nach Kontext nicht zwingend als Kritik an seiner Glaubwürdigkeit, sondern kann ebenso gut als Hinweis auf unauflösbare sachliche Widersprüche und damit auf fehlende Glaubhaftigkeit verstanden werden.
4. Wirft der Beschwerdeführer einer Nichtzulassungsbeschwerde dem Berufungsgericht vor, es weiche mit seiner Einschätzung des Ausmaßes der Teilhabebeeinträchtigung durch einen Diabetes mellitus von der Rechtsprechung des BSG ab, wendet er sich letztlich gegen die mit der GdB-Beurteilung verbundene Rechtsanwendung des Berufungsgerichts gerade in seinem Fall und legt keine Divergenz im Sinne von §§ 160a, 160 Abs 2 Nr 2 SGG dar.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nrn. 2-3, §§ 62, 117, 118 S. 1, § 128; ZPO § 398 Abs. 1; SGB IX § 152 Abs. 1 S. 1; SGB 9 2018 § 152 Abs. 1 S. 1; VersMedV § 2; VersMedV Anlage Teil B Nr. 15.1; GG Art. 103
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. September 2020 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grad der Behinderung (GdB) wegen seines Diabetes mellitus.
Der Beklagte hatte beim Kläger zuletzt einen Gesamt-GdB von 40 festgestellt. Den Neufeststellungsantrag des Klägers lehnte der Beklagte ab. Der GdB des Klägers betrage unverändert 40 bei einem Einzel-GdB für den Diabetes mellitus von 40, von 20 für Schwerhörigkeit und von 10 für degenerative Wirbelsäulenveränderungen (Bescheid vom 8.3.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.2.2018).
Das SG hat den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide verurteilt, beim Kläger einen GdB von 50 festzustellen. Für den Diabetes mellitus des Klägers hat es dabei einen Einzelwert von 50 zugrunde gelegt. Zur Begründung hat es sich auf die Einschätzungen des von ihm gehörten Sachverständigen Dr. B und auf die Krankheitsschilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung gestützt (Urteil vom 14.8.2019).
Das LSG hat neben Befundberichten ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt. Anders als das SG hat der Sachverständige Dr. A die GdB-Bewertung des Diabetes mellitus durch den Beklagten bestätigt. Das LSG hat den Kläger schriftlich zu Einzelheiten seiner Erkrankung angehört.
Mit Urteil vom 23.9.2020 hat es das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Lebensführung des Klägers sei nicht, wie von der Versorgungsmedizinverordnung für einen GdB von 50 verlangt, durch erhebliche Einschnitte gravierend beeinträchtigt. Das ergebe sich unter anderem aus seinen schriftlichen Äußerungen im Berufungsverfahren.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. Das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und sei von der Rechtsprechung des BSG abgewichen.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil weder der behauptete Verfahrensmangel (1.), noch eine Divergenz (2.) ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so muss sie bei der Bezeichnung dieses Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst substantiiert die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen darlegen.
Bereits diese erforderlichen Darlegungen der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen enthält die Beschwerde nicht. Es fehlt dafür an der zusammenhängenden, vollständigen und aus sich heraus verständlichen Darlegung des Streitgegenstands, der Verfahrens- und Prozessgeschichte sowie des vom LSG festgestellten Sachverhalts und damit der Umstände, die möglicherweise zu einem entscheidungsrelevanten Verfahrensfehler geführt haben. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, sich die erforderlichen Tatsachen aus dem Urteil und erst recht nicht aus den Verfahrensakten herauszusuchen (Senatsbeschluss vom 28.6.2018 - B 9 SB 53/17 B - juris RdNr 5).
Der Kläger sieht sein Anspruch auf rechtliches Gehör nach §§ 62, 128 Abs 2 SGG, Art 103 GG verletzt, weil das LSG seine Angaben zu den Folgen seines Diabetes mellitus allein aufgrund seiner schriftlichen Befragung im Berufungsverfahren anders gewertet habe als das SG, ohne ihn erneut persönlich anzuhören. Wie er indes angibt, hat das Berufungsgericht sein Urteil ua auch auf ein von ihm eingeholtes Gutachten des Sachverständigen Dr. A gestützt. Auf dessen Inhalt geht der Kläger in der Beschwerdebegründung nicht näher ein, sondern teilt dazu nur eine Aktenfundstelle mit. Das Urteil des LSG zitiert er zudem lediglich ausschnittsweise, um seinen Vorwurf einer Gehörsverletzung zu untermauern. Der Gesamtzusammenhang der zitierten Passage und insbesondere ihre Verknüpfung mit dem vom Berufungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten bleiben danach ebenso unklar wie der vollständige Inhalt der vom LSG eingeholten schriftlichen Äußerungen des Klägers zu den Auswirkungen seines Diabetes mellitus. Diese teilt er ebenfalls lediglich stichwortartig mit. Allein auf der Grundlage dieser Darlegungen kann der Senat aber den Vorwurf der Gehörsverletzung (vgl dazu Senatsbeschluss vom 21.10.2019 - B 9 V 11/19 B - juris RdNr 10 mwN) nicht näher prüfen. Weder lässt sich anhand des lückenhaften Beschwerdevortrags beurteilen, ob das LSG die schriftlichen Äußerungen des Klägers in einer auch für einen gewissenhaften und kundigen Prozessbeteiligten überraschenden Weise gewertet noch, ob es in der Zusammenschau mit den Äußerungen des von ihm gehörten Sachverständigen tragend darauf abgestellt hat.
Unabhängig davon hat das LSG nach dem Beschwerdevortrag nicht lediglich entgegen § 117 SGG die Einlassungen des Klägers vor dem SG, das ihn als Beteiligten vernommen hat, anders gewertet als das erstinstanzliche Gericht (zur Zeugenvernehmung vgl BSG Beschluss vom 5.9.2006 - B 7a AL 78/06 B - juris RdNr 8 ff; BSG Beschluss vom 6.6.1989 - 12 BK 1/89 - SozR 1750 § 398 Nr 1 juris RdNr 3; BSG Urteil vom 18.2.1988 - 6 RKa 24/87 - BSGE 63, 43, 46 f = SozR 2200 § 368 a Nr 21 S 77 - juris RdNr 16 sowie die in der Beschwerdebegründung zitierte Rechtsprechung des BGH und des BVerfG). Vielmehr hat das Berufungsgericht schriftliche Antworten des Klägers auf verschiedene Fragen zu den Auswirkungen seines Diabetes mellitus eingeholt. Er hätte angesichts dessen aufzeigen müssen, warum seine schriftliche Anhörung als Beteiligter als wiederholte Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz nicht ausreichte (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 157 RdNr 2 ff mwN), zumal die Wiederholung der Anhörung ohnehin grundsätzlich entsprechend § 118 Satz 1 SGG iVm § 398 Abs 1 ZPO im Ermessen des Gerichts stand (vgl BSG Urteil vom 28.11.2007 - B 11a/7a AL 14/07 R - SozR 4-1500 § 128 Nr 7 juris RdNr 11 mwN). Seine Behauptung, das LSG habe ihn zu Unrecht als unglaubwürdig eingeschätzt, obwohl dies zwingend eine erneute persönliche Anhörung verlangt hätte, hat der Kläger nicht belegt. Aus der gerafften Mitteilung der entscheidungserheblichen Passagen des LSG-Urteils kann der Senat einen an den Kläger gerichteten Vorwurf mangelnder Glaubwürdigkeit nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen. Die mitgeteilte Einordnung seiner Angaben als "nicht verständlich" oder "schon verwunderlich" durch das LSG müssen je nach Kontext nicht zwingend als Kritik an seiner Glaubwürdigkeit, sondern können ebenso gut als Hinweis auf unauflösbare sachliche Widersprüche und damit auf fehlende Glaubhaftigkeit verstanden werden. Eine abschließende Einschätzung ist dem Senat insoweit auch deshalb verwehrt, weil der Kläger, wie ausgeführt, seine schriftlichen Äußerungen weder vollständig vorgelegt noch ausreichend wiedergegeben hat.
2. Soweit der Kläger dem LSG darüber hinaus vorwirft, es sei von der Senatsrechtsprechung zur GdB-Einschätzung des Diabetes mellitus abgewichen (vgl dazu zuletzt Senatsbeschluss vom 1.7.2020 - B 9 SB 5/20 B - juris RdNr 8 mwN), fehlt es wiederum bereits an einer vollständigen Darlegung des entscheidungserheblichen Sachverhalts und der Prozessgeschichte. Erst sie würde die Einschätzung ermöglichen, ob das angegriffene Urteil auf der geltend gemachten Rechtsprechungsabweichung beruhen kann.
Unabhängig davon legt der Kläger auch sonst die Voraussetzungen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) nicht substantiiert dar. Dafür wäre es erforderlich, entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu auszuführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen. Erforderlich ist, dass das LSG einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (Senatsbeschluss vom 12.1.2017 - B 9 V 58/16 B - juris RdNr 21 mwN).
Einen solchen abweichenden Rechtssatz des LSG legt der Kläger nicht dar. Vielmehr wirft er dem Berufungsgericht vor, es weiche mit seiner Einschätzung des Ausmaßes der Teilhabebeeinträchtigung durch den Diabetes mellitus von der Rechtsprechung des BSG ab. Damit wendet sich der Kläger aber letztlich gegen die mit der GdB-Beurteilung verbundene Rechtsanwendung des Berufungsgerichts gerade in seinem Fall. Die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des LSG im Einzelfall ist aber nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (Senatsbeschluss vom 24.8.2017 - B 9 SB 24/17 B - juris RdNr 16 mwN).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14755201 |