Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörungsrüge. Verletzung des Gebots des rechtlichen Gehörs. Anwendung des § 96 SGG
Orientierungssatz
1. Das Gebot rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten haben. Dieses Gebot verpflichtet allerdings die Gerichte nicht, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen. Die Gerichte sind auch nicht verpflichtet, jedes Vorbringen eines Beteiligten ausdrücklich zu bescheiden; es muss nur das Wesentliche der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienende Vorbringen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (stRspr des Bundesverfassungsgerichts vgl zB BVerfG vom 20.2.2008 - 1 BvR 2722/06 = BVerfGK 7, 485, 488). Die für die Zulässigkeit des außerordentlichen Rechtsbehelfs einer Anhörungsrüge erforderliche Darlegung des Vorliegens der Voraussetzungen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör muss diesen Gehalt des Gebots berücksichtigen; es bedarf mithin einer in sich schlüssigen Darstellung, dass trotz der genannten Grenzen des Prozessgrundrechts eine Verletzung des rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise vorliegt.
2. Es trifft nicht zu, dass eine Anwendung des § 96 SGG auch im Falle einer direkten Ersetzung eines (vorläufigen) Bescheids durch einen später erlassenen (endgültigen) Bescheid nur dann in Frage kommt, wenn es im Kern um identische - nicht lediglich um teilidentische - Rechtsfragen geht.
3. Für eine unmittelbare Anwendung der prozessualen Regelung des § 96 SGG genügt es, dass der neue Bescheid hinsichtlich einer selbstständigen und noch streitbefangenen Teilregelung einen vorausgegangenen Bescheid ersetzt und damit insoweit an dessen Stelle tritt.
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 2005-03-22, § 96 Fassung: 2008-03-26, § 178a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 2007-12-12, Abs. 2 S. 1 Fassung: 2007-12-12, S. 5 Fassung: 2007-12-12; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1964-01-01
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger, ein Vertragszahnarzt, griff mit mehreren Klagen gegen die beklagte Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZÄV) den ihm erteilten vorläufigen Jahreshonorarbescheid für 1999 vom 5.4.2000, den vorläufigen Degressionsbescheid für 1999 vom 29.3.2000 sowie den Bescheid über Härtefallzahlungen für 1999 vom 26.2.2004 an. Im Verlauf der Berufungsverfahren bezüglich der beiden erstgenannten Bescheide erließ die Beklagte am 6.4.2006 einen neuen Jahreshonorar- und Degressionsbescheid für das Jahr 1999. Dieser sah - nach vorrangigem Abzug der Degressionsbeträge (insgesamt 20.382 DM) - ein nach Budgetierung noch verbleibendes Jahreshonorar von 509.913,48 DM sowie einen Verwaltungskostenabzug von 5.864,01 DM vor, was insgesamt für das Jahr 1999 ein Netto-Honorar aus vertragszahnärztlicher Tätigkeit von 483.667,47 DM ergab. Der Bescheid vom 6.4.2006 enthielt den Hinweis, dass durch ihn der vorläufige Jahreshonorarbescheid vom 5.4.2000 ersetzt, der Härtefallbescheid vom 26.2.2004 hinsichtlich des auf die Härtefallzahlung entfallenden Degressionsbetrags geändert und der vorläufige Degressionsbescheid vom 29.3.2000 in der Fassung des Härtefallbescheids aufgehoben werde; er werde mithin gemäß § 96 SGG Gegenstand der beim Landessozialgericht (LSG) anhängigen Verfahren L 3 KA 472/03 und L 3 KA 156/04.
Im weiteren Verfahren vor dem LSG hat die Beklagte eine Verbindung der Streitsachen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung beantragt. Dem ist der Prozessbevollmächtigte des Klägers (Schriftsatz vom 10.3.2006, Bl 199 im Verfahren L 3 KA 472/03) und auch der Kläger selbst (Schriftsatz vom 11.3.2006, Bl 182 im Verfahren L 3 KA 156/04) entgegengetreten. Das LSG hat sodann beide Verfahren am 9.4.2008 gesondert mündlich verhandelt. Es hat in getrennten Urteilen die Berufungen des Klägers gegen die Urteile des Sozialgerichts zurückgewiesen und jeweils die Klage gegen den nachträglich erlassenen Bescheid vom 6.4.2006 abgewiesen. Das LSG hat in seinem Urteil zum Verfahren L 3 KA 472/03 ausgeführt, die Klage gegen die separaten Degressionsbescheide für das Jahr 1999 sei im Verlauf des Berufungsverfahrens unzulässig geworden, weil ihr die Rechtshängigkeit der Klage gegen den Jahreshonorarbescheid (Az: L 3 KA 156/04) entgegenstehe. Da der Jahreshonorar- und Degressionsbescheid vom 6.4.2006 die in den jeweiligen Berufungsverfahren streitbefangenen (vorläufigen) Bescheide ersetzt habe, beträfen beide Verfahren nur noch die Rechtmäßigkeit dieses Bescheids. Infolge der Verzahnung der Degressionsfestsetzung mit der Honorarfestsetzung in diesem Bescheid sei es allerdings nicht mehr möglich, isoliert über einzelne Teile zu befinden. Mithin sei die später erhobene Klage - also das hier betroffene Verfahren L 3 KA 472/03 - wegen entgegenstehender Rechtshängigkeit des Verfahrens L 3 KA 156/04 unzulässig geworden, was von Amts wegen zu beachten sei. In seinem Urteil zum Verfahren L 3 KA 156/04 (vgl Parallelverfahren B 6 KA 43/08 B bzw B 6 KA 2/09 C) hat das LSG ausführlich dargelegt, aus welchen Gründen es die Degressionsabzüge im Bescheid vom 6.4.2006 als rechtmäßig bewertet.
Der Senat hat die Beschwerden des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in den genannten LSG-Urteilen durch Beschlüsse vom 17.6.2009 - seinen Prozessbevollmächtigten zugestellt am 23.7.2009 - zurückgewiesen. Gegen den Beschluss im Verfahren B 6 KA 36/08 B (Az der Vorinstanz: L 3 KA 472/03) richtet sich die hier streitbefangene, "weisungsgemäß" am 6.8.2009 erhobene Anhörungsrüge gemäß § 178a SGG.
Die Beklagte hält die Anhörungsrüge für unzulässig und beantragt deren Verwerfung. Die Beigeladenen haben sich zu der Anhörungsrüge nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Anhörungsrüge des Klägers, über die der Senat ohne mündliche Verhandlung und dementsprechend ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter entscheiden kann (§ 12 Abs 1 Satz 2 iVm § 124 Abs 3 SGG; s dazu BSG SozR 4-1500 § 178a Nr 5 RdNr 16 f; Nr 6 RdNr 7 f) , hat keinen Erfolg, denn sie ist unzulässig.
Für die Zulässigkeit einer Anhörungsrüge ist erforderlich, dass ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die angegriffene Entscheidung nicht gegeben ist (§ 178a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG) , dass die Rüge innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis einer Verletzung des rechtlichen Gehörs erhoben (§ 178a Abs 2 Satz 1 SGG) und dass das Vorliegen einer entscheidungserheblichen Gehörsverletzung dargelegt wird (§ 178a Abs 2 Satz 5 SGG) . Die ersten beiden Voraussetzungen sind hinsichtlich der vom Kläger erhobenen Anhörungsrüge erfüllt, welche er auf die Erwägungen des Senats in den Gründen des ihm am 23.7.2009 bekannt gewordenen Beschlusses über die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde stützt. Anders verhält es sich mit der dritten Voraussetzung; denn der Kläger hat mit seinem Vorbringen die Möglichkeit einer Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) durch diesen Beschluss nicht hinreichend dargetan.
Art 103 Abs 1 GG verpflichtet ebenso wie § 62 SGG die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten haben. Dieses Gebot verpflichtet allerdings die Gerichte nicht, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen. Die Gerichte sind auch nicht verpflichtet, jedes Vorbringen eines Beteiligten ausdrücklich zu bescheiden; es muss nur das Wesentliche der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienende Vorbringen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (stRspr des Bundesverfassungsgerichts ≪BVerfG≫, s zB BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 20.2.2008 - 1 BvR 2722/06 - juris, dort RdNr 9 ff mwN; BVerfGK 7, 485, 488). Die für die Zulässigkeit des außerordentlichen Rechtsbehelfs einer Anhörungsrüge erforderliche Darlegung des Vorliegens der Voraussetzungen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör muss diesen Gehalt des Gebots berücksichtigen; es bedarf mithin einer in sich schlüssigen Darstellung, dass trotz der genannten Grenzen des Prozessgrundrechts eine Verletzung des rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise vorliegt. Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Klägers nicht gerecht.
Der Kläger macht mit seiner Rüge geltend, die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 17.6.2009 zu der vom LSG bejahten Anwendung des § 96 SGG im Verhältnis zwischen dem vorläufigen Degressionsbescheid vom 29.3.2000 bzw dem vorläufigen Jahreshonorarbescheid vom 5.4.2000 einerseits und dem - diese beiden vorläufigen Bescheide jeweils ersetzenden - endgültigen Jahreshonorar- und Degressionsbescheid für 1999 vom 6.4.2006 andererseits seien unzutreffend. Zwar sei richtig, dass das Bundessozialgericht (BSG) in dem von ihm in der Beschwerdebegründung zitierten Urteil "B 6 RKA 51/95" (dort ist allerdings das Urteil "B 6 RKa 61/94" genannt, das unter dem zutreffenden Aktenzeichen 6 RKa 61/94 in BSGE 77, 279 bzw SozR 3-2500 § 85 Nr 10 veröffentlicht ist) den Rechtssatz, dass übereinstimmende Regelungen im Sinne des § 96 SGG nur vorlägen, wenn der ursprüngliche und der neue Bescheid "im Kern" über dieselben Rechtsfragen entschieden hätten, zu einem Sachverhalt aufgestellt habe, bei dem es um Honorarbescheide verschiedener Zeiträume gegangen sei. Das BSG habe diesen Rechtssatz zur Anwendung des § 96 SGG aber ganz allgemein formuliert, sodass er allgemeine Gültigkeit beanspruche. Dies habe der Senat in dem seine Nichtzulassungsbeschwerde zurückweisenden Beschluss vom 17.6.2009 verkannt und damit zu erkennen gegeben, dass er den Sinn seines Beschwerdevorbringens zum Vorliegen einer Rechtsprechungsabweichung nicht erfasst habe.
Mit diesen Ausführungen hat der Kläger keine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör dargetan. Das BVerfG betont in ständiger Rechtsprechung, dass das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs die Gerichte nicht verpflichtet, der Rechtsansicht eines Prozessbeteiligten zu folgen (vgl BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 20.2.2008 - 1 BvR 2722/06 - juris RdNr 11, 14, 16, 20, 23, 25 unter Hinweis auf BVerfGE 64, 1, 12; 87, 1, 33) . Die Behauptung, eine richterliche Entscheidung sei - am einfachen Recht gemessen - objektiv fehlerhaft, vermag deshalb grundsätzlich keinen Verstoß gegen Art 103 Abs 1 GG zu begründen (so bereits BVerfGE 22, 267, 273; s auch BVerfGK 6, 88, 91) . Denn das Verfahren der Anhörungsrüge dient nicht dazu, das Gericht unabhängig vom Vorliegen eines Gehörsverstoßes zur Überprüfung einer dem Rechtsmittelführer ungünstigen Rechtsauffassung zu veranlassen (BVerfGK 7, 115, 116) . Hierauf zielt jedoch das Vorbringen des Klägers zur inhaltlichen Unrichtigkeit der Ausführungen im Beschluss des Senats vom 17.6.2009 zur notwendigen - in der Beschwerdebegründung aber unterlassenen - Differenzierung zwischen einer unmittelbaren und einer - früher praktizierten - entsprechenden Anwendung des § 96 SGG ab. Eine Anhörungsrüge kann auf eine solche Begründung nicht in zulässiger Weise gestützt werden (vgl BVerfGK 4, 171, 174 = juris RdNr 12 am Ende) .
Im Übrigen trifft die Ansicht des Klägers, eine Anwendung des § 96 SGG komme auch im Falle einer direkten Ersetzung eines (vorläufigen) Bescheids durch einen später erlassenen (endgültigen) Bescheid nur dann in Frage, wenn es im Kern um identische - nicht lediglich um teilidentische - Rechtsfragen gehe, nicht zu. Dies hat der Senat im Beschluss vom 17.6.2009 näher ausgeführt und muss hier nicht nochmals wiederholt werden (vgl auch BSGE 81, 213, 214 = SozR 3-2500 § 85 Nr 23 S 149) . Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass der Kläger sich für seine abweichende Auffassung zu Unrecht auf das Urteil des Senats vom 7.2.1996 (BSGE 77, 279, 281= SozR 3-2500 § 85 Nr 10 S 55) beruft. Denn seine Zitate in der Beschwerdebegründung vom 30.6.2008 (Seite 2, 5. Absatz) enthalten Auslassungen gerade jener Textpassagen, in denen der Senat verdeutlicht hat, dass die Anforderung von im Kern übereinstimmenden Rechtsfragen sowie nicht lediglich teilweise deckungsgleichen Sachverhaltsumständen und Tatsachengrundlagen nur im Falle einer entsprechenden Anwendung des § 96 SGG auf Bescheide aus unterschiedlichen Abrechnungszeiträumen von Bedeutung ist.
Schließlich kann auch der Vorhalt des Klägers, der Senat habe in der Begründung seines Beschlusses vom 17.6.2009 die Grundsätze logischen Denkens verletzt, keinen Gehörsverstoß begründen. Unabhängig hiervon ist diese Rüge sachlich unzutreffend. Wenn der Senat in seinem Beschluss - unter RdNr 10 - ausgeführt hat, der neue Bescheid vom 6.4.2006 sei "im Verhältnis zu den vorangegangenen Bescheiden nur hinsichtlich je einer Teilregelung - insoweit aber vollständig - ersetzend bzw im Streitgegenstand identisch", so kann dem nicht - wie der Kläger es tut - entnommen werden, der Senat sei davon ausgegangen, "dass keine Teilidentität vorläge". Für eine unmittelbare Anwendung der prozessualen Regelung des § 96 SGG genügt es - entgegen der Ansicht des Klägers - jedoch, dass der neue Bescheid hinsichtlich einer selbstständigen und noch streitbefangenen Teilregelung einen vorausgegangenen Bescheid ersetzt und damit insoweit an dessen Stelle tritt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Danach trägt der Kläger die Kosten des von ihm erfolglos eingelegten Rechtsbehelfs (§ 154 Abs 2 VwGO). Eine Erstattung von Kosten der Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil sie sich im Verfahren der Anhörungsrüge nicht geäußert haben (§ 162 Abs 3 VwGO, vgl dazu BSGE 96, 257 = SozR 4-1300 § 63 Nr 3, jeweils RdNr 16) . Die Festsetzung eines gesonderten Streitwerts für das Anhörungsrügeverfahren ist entbehrlich, da als Gerichtsgebühr ein fester Betrag anfällt, der nicht nach dem Streitwert bemessen wird (Nr 7400 des Kostenverzeichnisses - Anlage 1 zum Gerichtskostengesetz) .
Fundstellen