Entscheidungsstichwort (Thema)
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Einverständnis. Erklärung. Einseitige Prozesshandlung. Unanfechtbarkeit. Unwiderrufbarkeit. Maßgebliche Rechtslage. Wesentliche Änderung. Widerrufbarkeit
Orientierungssatz
1. Bei dem Einverständnis iS des § 124 Abs 2 SGG handelt es sich um eine einseitige, gegenüber dem Gericht vorzunehmende Prozesshandlung. Sie ist unanfechtbar und kann nach der Abgabe der Einverständniserklärung durch den anderen Beteiligten grundsätzlich nicht widerrufen werden (vgl BSG vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R = SozR 3-1500 § 124 Nr 4).
2. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich die maßgebliche Rechtslage wesentlich ändert. Dann ist das Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung verbraucht (vgl BSG vom 15.12.1994 - 4 RA 34/94, BSG vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R = SozR 3-1500 § 124 Nr 4),da die Erklärung unter der Voraussetzung abgegeben wurde, die Entscheidung werde auf der Grundlage des bis zur Abgabe der Erklärung bekannten Sach- und Streitstandes erfolgen.
Normenkette
SGG § 124 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 01.04.2004; Aktenzeichen L 5 SB 60/03) |
SG Lüneburg (Urteil vom 25.04.2003; Aktenzeichen S 3 SB 97/02) |
Tatbestand
Der 1971 geborene Kläger, der nach einem Geburtsschaden unter einer Persönlichkeitsstörung leidet, begehrt bisher erfolglos (Bescheide des Beklagten vom 19. September 2001 und 9. April 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 2002; Urteile des Sozialgerichts Lüneburg vom 25. April 2003 und des Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ≪LSG≫ vom 1. April 2004) die Erhöhung des festgestellten Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) von 80 auf 100 und die Zuerkennung der Merkzeichen H (Hilflosigkeit), G (erhebliche Gehbehinderung), RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) sowie - erstmals im Berufungsverfahren - aG (außergewöhnliche Gehbehinderung). Nach Abschluss der Amtsermittlung und Austausch der Stellungnahmen der Beteiligten in der Berufungsinstanz haben Kläger und Beklagter einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (klägerischer Schriftsatz vom 4. März 2004, Schriftsatz des Beklagten vom 5. März 2004). Drei Tage vor dem angekündigten Entscheidungstermin hat der Kläger schriftsätzlich (Schriftsatz vom 29. März 2004) sein Einverständnis widerrufen. Das LSG hat unter Bezugnahme auf die Zustimmungserklärungen der Beteiligten gleichwohl eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung getroffen. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt: Die Prozesserklärung des Einverständnisses nach § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei nur dann widerruflich, wenn sich die Prozesslage nach dem Eingang der Erklärungen aller Beteiligter bei Gericht ändere. Dieses sei vorliegend nicht der Fall gewesen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt, die er auf § 160 Abs 2 Nr 3 und 1 SGG stützt. Er trägt vor: Das Urteil beruhe auf einem Verfahrensfehler, denn das LSG habe trotz des Widerrufs seiner diesbezüglichen Erklärung eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung getroffen. Zudem habe die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Gemäß § 160 Abs 2 SGG darf die Revision nur zugelassenen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3). In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des LSG abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Die Revision ist nicht wegen des von dem Kläger gerügten Verfahrensmangels zuzulassen (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Die Beschwerdebegründung genügt zwar den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, soweit der Kläger einen Verstoß gegen § 124 Abs 2 SGG rügt; ihr ist diesbezüglich im Ergebnis jedoch nicht zu folgen.
Der Kläger vertritt die Auffassung, das LSG habe nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, da er sein Einverständnis für diese Vorgehensweise widerrufen habe; an diesen Widerruf sei das LSG gebunden gewesen. Insoweit sei sein Recht auf eine mündliche Verhandlung und sein Anspruch auf rechtliches Gehör verfahrensfehlerhaft beschnitten worden. Mit dieser Rüge vermag er nicht durchzudringen.
§ 124 Abs 2 SGG sieht zwar vor, dass ein Gericht nur dann ohne mündliche Verhandlung entscheiden darf, wenn die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben. Ergeht ein Urteil schriftlich ohne Einverständnis der Beteiligten, so liegt hierin eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs und in dem Verstoß gegen das Prinzip der Mündlichkeit der Verhandlung ein wesentlicher Verfahrensfehler (vgl hierzu BSG Urteile vom 14. August 1980, - 7 RAr 88/79 -; JURIS; BSGE 53, 83 = SozR 1500 § 124 Nr 7; BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 4; Beschluss vom 3. Mai 2001 - B 11 AL 25/01 B -, JURIS). Ein derartiger Verfahrensverstoß ist im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben.
Das LSG durfte, nachdem beide Beteiligte schriftsätzlich ihr Einverständnis erklärt hatten, ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Bei diesem Einverständnis handelt es sich um eine einseitige, gegenüber dem Gericht vorzunehmende Prozesshandlung. Sie ist unanfechtbar und kann nach der Abgabe der Einverständniserklärung durch den anderen Beteiligten grundsätzlich nicht widerrufen werden (vgl BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 4; Meyer-Ladewig, aaO, § 124 RdNr 3d, mwN; Hartmann, in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, Kommentar, 59. Aufl, § 128 RdNr 23). Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich die maßgebliche Rechtslage wesentlich ändert (vgl § 128 Abs 2 Zivilprozessordnung idF des Art 2 Abs 2 Gesetz vom 27. Juli 2001, BGBl I 1887, mit Wirkung vom 1. Januar 2002). Dann ist das Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung verbraucht (vgl BSG Urteil vom 15. Dezember 1994, - 4 RA 34/94 -; JURIS; BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 4; Meyer-Ladewig, § 124 RdNr 3e), da die Erklärung unter der Voraussetzung abgegeben wurde, die Entscheidung werde auf der Grundlage des bis zur Abgabe der Erklärung bekannten Sach- und Streitstandes erfolgen.
Eine wesentliche Änderung der Prozesslage zwischen dem Zeitpunkt der Abgabe der Einverständniserklärung durch Schriftsätze vom 4. und 5. März 2004 und deren Widerruf am 29. März 2004 ist hier nicht ersichtlich. Der Kläger beruft sich auf einen krankheitsbedingten Sinneswandel, nicht jedoch auf den Verbrauch der Einverständniserklärung durch den zwischenzeitlichen Verfahrensverlauf (vgl BSG SozR 1500 § 124 Nr 2). Von einem solchen Verbrauch ist insbesondere dann auszugehen, wenn sich die Tatsachengrundlage geändert hat, weil neue Erkenntnisse zu den Akten gelangt sind, neues schriftsätzliches Vorbringen des anderen Beteiligten erfolgt ist, die Rechtslage sich geändert hat oder sich das Gericht auf Gesichtspunkte stützen will, die im Zeitpunkt des Verzichts noch nicht von Bedeutung waren (vgl zu den Beispielen: Meyer-Ladewig, aaO, § 124 RdNr 3e). Aus dem Vortrag des Klägers ergibt sich nichts, was den Schluss nahe legen könnte, sein Sinneswandel sei einer Änderung der Prozesslage in dem zuvor dargestellten Sinne gleich zu erachten.
Abgesehen davon, dass die den Sinneswandel bedingende Persönlichkeitsstörung durchgehend zumindest seit Beginn des Berufungsverfahrens unverändert gegeben war, hätte auch eine Verschlechterung der gesundheitlichen Verfassung des Klägers während des laufenden Berufungsverfahrens keine neue Prozesslage hervorgerufen. Der Kläger wird seit Einlegung der Berufung von einem Betreuer, der auch für Angelegenheiten der Vermögenssorge bestellt worden ist (Bestellung durch Beschluss des Amtsgerichts S. vom 14. März 2003), gerichtlich und außergerichtlich vertreten. Damit sind bereits die notwendigen Maßnahmen ergriffen worden, um den Prozess unter Beachtung der vorhandenen gesundheitlichen Beeinträchtigung des Klägers durchführen zu können. Dem Kläger ist zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör ein Vertreter zur Seite gestellt worden. Dessen Erklärung - abgegeben durch den Prozessbevollmächtigten, der den Kläger auch bereits im Berufungsverfahren vertreten hat - bindet den Kläger. Zumindest kann er sich nicht mehr zur Begründung des Widerrufs einer Prozesserklärung auf seine mangelnde Fähigkeit zur sachgerechten Einschätzung der Prozesslage berufen.
Soweit der Kläger darüber hinaus den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend macht, genügt die Beschwerdebegründung bereits nicht den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG.
Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn das Verfahren eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1) eine konkrete Rechtsfrage, (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 59, 65).
In den klägerischen Darlegungen fehlt es bereits an der Bezeichnung einer klärungsfähigen Rechtsfrage. Darüber hinaus hat der Kläger weder die abstrakte Klärungsbedürftigkeit der von ihm angedeuteten Problematik, noch die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der Entscheidung dargelegt. Mit den einschlägigen Entscheidungen des BSG setzt er sich nicht auseinander. Ebenso wenig macht er eine Breitenwirkung der Entscheidung deutlich. Er führt lediglich aus, die Entscheidung habe für ihn grundsätzliche Bedeutung.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen