Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verletzung des § 109 SGG. Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Gehörsrüge. Überraschungsentscheidung
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Ausschluss, dass eine Nichtzulassungsbeschwerde auf eine Verletzung des § 109 SGG unter keinen Umständen gestützt werden kann, kann nicht mit der Begründung umgangen werden, die Ablehnung entsprechender Anträge verletze den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
2. Wird eine Gehörsrüge erhoben und eine Überraschungsentscheidung geltend macht, weil das LSG sein Urteil auf ein Gutachten gestützt habe, das dem Kläger nicht bekannt gewesen sei, ist von ihm darzulegen, alles getan zu haben, um sich insoweit rechtliches Gehör zu verschaffen.
Normenkette
SGG §§ 62, 103, 109, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 4 Sätze 1-2, § 169; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 19. Mai 2022 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Mit vorbezeichnetem Urteil hat es das LSG abgelehnt, die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom 23.10.2017 Rente nach einer MdE um 20 vH zu gewähren und die eingeschränkte Kopfdrehung und Kraftminderung im rechten Arm als weitere Unfallfolgen festzustellen. Gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil hat der Kläger Beschwerde eingelegt. In der zum Beschwerdeverfahren (B 2 U 86/22 B) eingereichten Begründung - der im Sitzungsprotokoll vom 19.5.2022 zugelassenen - "Revision" macht der Kläger Verfahrensmängel geltend und beantragt, die Sache an das LSG mit der Maßgabe zurückzuverweisen, "das mit Schriftsatz vom 08.10.2021 beantragte Gutachten nach § 109 SGG bei dem Sachverständigen H1, einzuholen". Die Vorsitzende des Berufungssenats hat ihre Sitzungsniederschrift vom 19.5.2022 am 28.11.2022 berichtigt und auf dem Sitzungsprotokoll vermerkt, dass "die Revision … nicht zugelassen" ist. In dem zum Revisionsverfahren (B 2 U 12/22 R) eingereichten Schriftsatz vom 24.1.2023 hat der Kläger eine Gehörsrüge (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) erhoben und eine Überraschungsentscheidung geltend gemacht. Soweit das BSG die Beschwerde für unstatthaft halten sollte, bitte er diese als Anhörungsrüge gemäß § 178a SGG auszulegen.
II
Die aufgrund des Berichtigungsbeschlusses vom 28.11.2022 statthafte Nichtzulassungsbeschwerde ist ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen, weil sie nicht formgerecht begründet ist (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG).
Denn der Kläger lässt unbeachtet, dass die Nichtzulassungsbeschwerde nach der ausdrücklichen Bestimmung des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG auf eine Verletzung des § 109 SGG unter keinen Umständen gestützt werden kann (BSG Beschlüsse vom 24.1.2023 - B 2 U 119/22 B - juris RdNr 3 und grundlegend vom 22.6.2004 - B 2 U 78/04 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 4 RdNr 3). Dieser Ausschluss gilt ausnahmslos für jede fehlerhafte Anwendung des § 109 SGG(BSG Beschlüsse vom 12.5.2022 - B 2 U 169/21 B - juris RdNr 12 und grundlegend vom 31.1.1979 - 11 BA 129/78 - SozR 1500 § 160 Nr 34) . Er kann nicht mit der Begründung umgangen werden, die Ablehnung entsprechender Anträge verletze den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (BSG Beschlüsse vom 28.2.2017 - B 13 R 355/16 B - juris RdNr 7 und grundlegend vom 14.4.2009 - B 5 R 206/08 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 18 RdNr 6), weil andernfalls die Beschränkungen des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG im Ergebnis leerliefen (BSG Beschlüsse vom 28.2.2018 - B 13 R 73/16 B - juris RdNr 12 und vom 6.2.2007 - B 8 KN 16/05 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 7). Darin liegt keine Missachtung des Art 103 Abs 1 GG, wonach jedermann vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Vielmehr ist es gerade mit Blick auf das Amtsermittlungsprinzip (§ 103 SGG) verfassungsrechtlich unbedenklich, von einer Revisionszulassung grundsätzlich alle Entscheidungen auszunehmen, die eine fehlerhafte Anwendung des § 109 SGG aufweisen, unabhängig davon, worauf dieser Verfahrensmangel im Einzelnen beruht (BVerfG Beschluss vom 12.4.1989 - 1 BvR 1425/88 - SozR 1500 § 160 Nr 69; zum Ganzen: BSG Beschlüsse vom 24.1.2023 - B 2 U 119/22 B - juris RdNr 3, vom 12.5.2022 - B 2 U 169/21 B - juris RdNr 12, vom 25.5.2009 - B 5 R 126/09 B - juris RdNr 6 und vom 7.3.2000 - B 9 V 75/99 B - juris RdNr 3).
Soweit der Kläger in dem zum Revisionsverfahren (B 2 U 12/22 R) eingereichten Schriftsatz vom 24.1.2023 eine Gehörsrüge (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) erhoben hat und eine Überraschungsentscheidung geltend macht, weil das LSG sein Urteil ua auf das Verwaltungsgutachten des Sachverständigen H2 gestützt habe, das ihm nicht bekannt gewesen sei, legt er schon nicht dar, alles getan zu haben, um sich insoweit rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl BSG Urteile vom 6.10.2020 - B 2 U 10/19 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 2 RdNr 12 und vom 19.3.1991 - 2 RU 33/90 - BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 sowie BSG Beschlüsse vom 8.10.2020 - B 2 U 13/20 BH - juris RdNr 6, vom 25.4.2019 - B 2 U 19/18 BH - juris RdNr 7, vom 29.5.2012 - B 1 KR 6/12 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 6 und vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - juris RdNr 15). Da das Gutachten aktenkundig war, hätte er eingehend begründen müssen, warum auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter darauf verzichtet hätte, Einsicht in die Verwaltungsakte zu nehmen, um sich Kenntnis von ihrem Inhalt und dem Verwaltungsgutachten zu verschaffen. Dazu trägt der Kläger indes nichts vor.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Roos |
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Hüttmann-Stoll |
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Karmanski |
Fundstellen
Dokument-Index HI16186702 |