Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Amtsermittlung. Sachverständigengutachten. keine ausdrücklichen Angaben des Sachverständigen zu den Auswirkungen einer Gesundheitsstörung. kein erheblicher Mangel des Gutachtens. rechtliches Gehör. Darlegungsanforderungen
Orientierungssatz
1. Allein aus der Tatsache, dass ein Sachverständiger in seinem Gutachten eine bekannte Gesundheitsstörung zwar gelistet, daraus aber keine Funktionsbeeinträchtigung abgeleitet hat, ergibt sich nicht ohne Weiteres ein erheblicher Mangel des Gutachtens.
2. Zu den Anforderungen an die Darlegung der Verletzung der Amtsermittlungspflicht (hier bei Vorliegen mehrerer Gutachten) und einer Gehörsverletzung im Rahmen der Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde.
3. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 1. Kammer vom 19.10.2015 - 1 BvR 2281/15).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 2 Alt. 1, § 160a Abs. 2 S. 3, §§ 103, 62; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Oktober 2014 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. In der Hauptsache begehrt die Klägerin die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G". Bei der Klägerin waren zuletzt ein GdB von 80 sowie das Merkzeichen "RF" festgestellt, die Feststellung eines GdB von 100 sowie das Merkzeichen "G" wurden hingegen abgelehnt (Bescheid vom 13.12.2011; Widerspruchsbescheid vom 7.5.2012; Bescheid vom 21.12.2011; Widerspruchsbescheid vom 8.5.2012; Taubheit links und Schwerhörigkeit rechts, Einzel-GdB 60; Augenmuskellähmung links, Einzel-GdB 10; funktionelle Organbeschwerden, Kopf-Schmerz-Syndrom und Schwindel, Einzel-GdB 30; Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung, Einzel-GdB 20; Sprechstörung, Einzel-GdB 10, hyperreagibles Bronchialsystem, Einzel-GdB 10; Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks, Funktionsstörung durch Zehenfehlform, Einzel-GdB 10). Das SG hat ua nach orthopädischer Begutachtung das Merkzeichen "G" zugesprochen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung der Klagestattgabe hat es ua angeführt, nach den Ausführungen des orthopädischen Sachverständigen Dr. S. bestehe durchaus ein eingeschränktes Gangbild, eine grenzwertige Untergewichtigkeit sowie eine mangelnde muskuläre Ertüchtigung (Gerichtsbescheid vom 9.8.2013). Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG ua nach weiterer Begutachtung durch den Facharzt für Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Sch. die Klage insgesamt abgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt, die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen führten nicht dazu, dass sie nicht mehr in der Lage wäre, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder ohne Gefahren für sich oder andere eine Wegstrecke von etwa 2 km in einer Zeit von etwa 30 Minuten zurückzulegen. Die Einschätzung des orthopädischen Sachverständigen überzeuge den Senat mangels entsprechender objektivierbarer Funktionsbeeinträchtigungen nicht. Vielmehr folge er der gegenteiligen Beurteilung des Sachverständigen Dr. Sch. Dieser habe die bisher festgestellten unspezifischen Beschwerden allerdings als dem seelischen Leiden der Klägerin nicht angemessen angesehen und eine paranoide Persönlichkeitsstörung, ein Abhängigkeitssyndrom von Cannabinoiden und eine funktionelle Dysphonie diagnostiziert, abgesehen von der Abducens-Parese links indessen keine neurologischen Auffälligkeiten vorgefunden, keine Summationseffekte gesehen und hiervon ausgehend eine relevante Beeinträchtigung der Gehfähigkeit nicht anzunehmen vermocht. Eine sich auf die Gehfähigkeit auswirkende somatoforme Schmerzstörung lasse sich angesichts des ua von den Gutachtern beschriebenen final und bewusst aggravierenden Verhaltens der Klägerin nicht feststellen (Urteil vom 28.10.2014).
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG und macht den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers geltend.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund des Verfahrensmangels nicht ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde wie im Fall der Klägerin darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Will die Beschwerde demnach einen Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht rügen (§ 103 SGG), so muss sie einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt ist.
a) Die Klägerin hat die behauptete Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) nicht ausreichend bezeichnet. Soweit ein Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG ) gerügt wird, muss die Beschwerdebegründung hierzu jeweils folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, auf Grund deren bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 4, 5). Diesen Erfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Selbst wenn sie einen schriftlichen Beweisantrag (vom 17.8.2014) bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrecht erhalten haben sollte (vgl BSG Beschluss vom 5.8.2014 - B 9 SB 36/14 B - Juris RdNr 5 mwN), versäumt die Klägerin jedenfalls eine hinreichende Beschäftigung mit der weiteren Voraussetzung, weshalb sich das LSG angesichts der vorliegenden Sachverständigengutachten zu einem Obergutachten hätte gedrängt sehen sollen. Eine Verpflichtung zur Einholung eines sog Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtensergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen. Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum. Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Umstände hat die Klägerin nicht vorgetragen; sie hat insbesondere nicht aufgezeigt, dass sich die den verschiedenen Gutachten zu Grunde gelegten Tatsachen widersprechen (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8, 9).
Dies gilt vornehmlich für die behaupteten Widersprüchlichkeiten im Zusammenhang mit der Abducensparese links. Der Umstand, dass der Sachverständige Dr. Sch. nach den Ausführungen in der Beschwerdebegründung die (seit 1983) bekannte Gesundheitsstörung zwar gelistet, daraus aber keine Funktionsbeeinträchtigung abgeleitet hat, bedeutet angesichts der von Anbeginn unveränderten Bewertung mit einem Einzel-GdB von 10 im Kontext des hier allein streitgegenständlichen Merkzeichens "G" keinen unauflösbaren Widerspruch. Die Beschwerdebegründung verweist insoweit selbst auf ein stellvertretend Bezug genommenes anderes Gutachten, dem keine Befunde des neurologischen Formenkreises zu entnehmen seien, die sich sozialmedizinisch relevant einschränkend auf die Gehfähigkeit auswirken würden. Dementsprechend fehlt weder eine Aussage zu etwaigen Summationseffekten noch eine Antwort auf die Beweisfragen, sondern nur eine Aussage zugunsten der Klägerin. Daraus ergibt sich allerdings noch kein erheblicher Mangel des Gutachtens.
Soweit die Beschwerdebegründung darüber hinaus auf Widersprüchlichkeiten zwischen orthopädischem und neurologisch-psychiatrischem Gutachten verweist, zeigt sie insbesondere nicht auf, dass sich die den verschiedenen Gutachten zu Grunde gelegten Tatsachen widersprechen. Stattdessen beanstandet sie die unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die die beiden Sachverständigen aus den vorliegenden Gesundheitsstörungen, insbesondere der fachlich unspezifischen Symptomatik eines grenzwertigen Untergewichts und der mangelnden Ertüchtigung der Muskulatur herleiten, nachdem speziell auch der neurologisch-psychiatrische Sachverständige eine Myopathie nicht sichern konnte. Dementsprechend konnte die weitere Begutachtung durch einen Obergutachter lediglich dazu dienen, die Schlussfolgerungen in Frage zu stellen, die der neurologisch-psychiatrische Sachverständige aus den erhobenen Befunden gezogen hatte; sie war nicht auf die Feststellung bisher etwa unberücksichtigt gebliebener Gesundheitsstörungen gerichtet. Unter diesen Umständen stellt sich die angebliche Aufklärungsrüge in Wirklichkeit als ein durch § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 Alt 1 SGG ausgeschlossener Angriff auf die Beweiswürdigung dar.
b) Auch die zugleich behauptete Gehörsverletzung (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG ; Art 47 Abs 2 S 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention) ist nicht hinreichend dargelegt. Ein solcher Verstoß liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin behauptet keine Tatsachen und Beweisergebnisse, zu denen sie sich nicht äußern konnte. Sie beanstandet, dass das LSG dem neurologisch-psychiatrischen und nicht dem orthopädischen Gutachten gefolgt ist. Der sinngemäß auch hier verbleibende Vorwurf fehlerhafter Beweiswürdigung ist nicht geeignet, die Zulassung der Revision zu begründen (s oben). Ebenso wenig ist eine behauptete Fehlerhaftigkeit der Entscheidung Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
2. Eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, etwa zu einer psychischen Gehstörung (vgl LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 16.10.2013 - L 10 SB 154/12, Revision anhängig unter B 9 SB 1/14 R) wirft die Beschwerdebegründung nicht auf.
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen