Leitsatz (amtlich)
1. Die Entscheidung des BVerfG über die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift stellt keine Gesetzesänderung dar.
2. Hat sich der Rechtsstreit über die Zulassung zur Kassenpraxis dadurch in der Hauptsache erledigt, daß alle am Verfahren beteiligten Bewerber in Auswirkung des Urteils des BVerfG vom 1960-03-26 (BVerfGE 11, 30) zugelassen worden sind, so ist bei der Kostenentscheidung zu prüfen, wie die Zulassungsinstanzen bei richtiger Beurteilung der durch das BVerfG geklärten Rechtslage hätten entscheiden müssen.
Normenkette
RVO § 368a Fassung: 1955-08-17; SGG § 193 Fassung: 1957-07-27; BVerfGG § 31
Tenor
Der Rechtsstreit ist in der Hauptsache erledigt.
Der Beklagte hat dem Kläger und dem Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Der Zulassungsausschuß für den Arztregisterbezirk H... (ZA) hatte durch Beschluß vom 28. Dezember 1955 einen nicht am Rechtsstreit beteiligten Facharzt für Lungenkrankheiten für den Bezirk W... (Ortsteil 2/409) zur Kassenpraxis zugelassen. Gegen diesen Beschluß legten der Kläger - Dr. H... - und der Beigeladene - Dr. W... - gemäß § 29 Abs. 2 der Zulassungsordnung für Ärzte für die britische Zone (ZulO brit. Zone) vom 21. April 1948 bei dem beklagten Berufungsausschuß Berufung ein. Der Beklagte hob durch Beschluß vom 21. März 1956 den Beschluß des ZA auf und ließ unter Zurückweisung des Rechtsbehelfs des Klägers den Beigeladenen als Kassenarzt zu. Bei der Auswahl der Bewerber berücksichtigte er, daß nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b ZulO brit. Zone Schwerbeschädigte in der Regel den Vorrang haben. Der Berufungsausschuß gab dem Beigeladenen, der im Jahre 1920 geboren ist, seine Approbation im Jahre 1948 und die Anerkennung als Facharzt im Jahre 1954 erhalten hat, den Vorzug gegenüber dem im Jahre 1912 geborenen Kläger, der im Jahre 1940 approbiert und im Jahre 1950 als Facharzt anerkannt worden war. Dabei sah er als entscheidend an, daß der Beigeladene infolge einer Kriegsverletzung in seiner Erwerbsfähigkeit um 70 v.H. gemindert ist, während der Kläger nach einer Bescheinigung der Hauptfürsorgestelle wegen einer Minderung seiner Erwerbsfähigkeit um 40 v.H. den Schwerbeschädigten gleichgestellt ist. Die Klage, mit der der Kläger die Aufhebung der Beschlüsse der Zulassungsinstanzen und seine eigene Zulassung zur Kassenpraxis erstrebte, wurde vom Sozialgericht durch Urteil vom 20. Februar 1957 abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht durch Urteil vom 6. Mai 1959 das Urteil des Sozialgerichts und den Beschluß des beklagten Berufungsausschusses vom 21. März 1956 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Entscheidung des Beklagten beruhe auf einem Ermessensfehler; sowohl der Kläger als auch der Beigeladene hätten einen Anspruch auf bevorzugte Zulassung, und zwar der Beigeladene als Schwerbeschädigter nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 b der hier maßgebenden ZulO brit. Zone, der Kläger als den Schwerbeschädigten Gleichgestellter jedenfalls nach § 36 des Schwerbeschädigtengesetzes (SchwBG) wenn auch der Beigeladene in seiner Erwerbsfähigkeit in höherem Grade als der Kläger gemindert sei, so sprächen doch schwerwiegende Gründe für den Kläger, der acht Jahre älter als der Beigeladene sei, seine Approbation acht Jahre vor diesem erhalten habe und vier Jahre früher als Facharzt anerkannt worden sei. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.
Der Beigeladene hat Revision eingelegt und im wesentlichen geltend gemacht, das Vorzugsrecht nach § 36 SchwBG stehe nur Schwerbeschädigten im Sinne des § 1 SchwBG und den in § 36 genannten Personen zu, nicht aber den nach § 2 SchwBG Gleichgestellten.
Während des Revisionsverfahrens hat der beklagte Berufungsausschuß angezeigt, daß nach Erlaß des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 1960 - 1 BvR 216/51 - der Kläger und der Beigeladene entsprechend ihren Anträgen zur Kassenpraxis zugelassen seien; beide Zulassungen seien mit dem 5. Juni 1960 rechtswirksam geworden. Alle Beteiligten haben nunmehr übereinstimmend erklärt, daß damit der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt sei; sie haben eine Kostenentscheidung beantragt.
Nachdem der Rechtsstreit, wie die Beteiligten übereinstimmend erklärt haben, sich in der Hauptsache erledigt hat, ist bei der nach sachgemäßem Ermessen zu treffenden Kostenentscheidung (vgl. Beschl. des Senats vom 18. Januar 1957 in SozR SGG § 193 Bl. Da1 Nr. 3) von dem im Zeitpunkt der Erledigung vorliegenden Sach- und Streitstand auszugehen. Danach hätte der Kläger, wäre der zur Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache führende Umstand nicht eingetreten, obsiegen müssen, soweit es sich um seine eigene Zulassung als Kassenarzt handelte. Denn bei richtiger Beurteilung der Rechtslage, wie sie durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1960 - 1 BvR 216/51 - klargestellt worden ist, hatten alle zulassungsfähigen Bewerber einen Anspruch auf Zulassung zur Kassenpraxis. Zwar bezieht sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur auf die durch das Gesetz über Kassenarztrecht (GKAR) in die Reichsversicherungsordnung (RVO) eingeführten Vorschriften über die zahlenmäßige Beschränkung der Zulassung, insbesondere auf § 368 a Abs. 1 Satz 1 RVO und die auf ihm beruhende Vorschrift des § 368 c Abs. 2 Nr. 11 RVO. Bei den im vorliegenden Rechtsstreit maßgebenden Bestimmungen der ZulO brit. Zone, nach denen die Zulassung zur Kassenpraxis ebenfalls von einer Verhältniszahl abhing, handelt es sich zudem um vorkonstitutionelles Recht, bei dem die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit nicht dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist (GG Art. 100), vielmehr dem für die Sachentscheidung zuständigen Gericht obliegt (BVerfG 2, 124). Nachdem jedoch das Bundesverfassungsgericht dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) Rechtswirkung auch für die Erlangung der öffentlichrechtlichen Stellung eines Kassenarztes beigemessen hat, hält der Senat es schon im Hinblick auf die Gleichbehandlung der Ärzte für Rechtens, die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze über die Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GG auch auf das vorkonstitutionelle Kassenarztrecht - hier also auf die ZulO brit. Zone - anzuwenden, ohne daß es eines Eingehens auf die Gründe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts bedarf. Somit sind auch die Bestimmungen der ZulO brit. Zone, soweit sie die Zulassung zur Kassenpraxis von einer Verhältniszahl abhängig machten, seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes als nichtig anzusehen, weil sie mit Art. 12 GG nicht vereinbar sind. Der Kläger hätte also mit seiner Klage, mit der er seine eigene Zulassung erstrebte, Erfolg haben müssen. Daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erst im Laufe des Revisionsverfahrens ergangen ist, kann für die Kostenentscheidung nicht ausschlaggebend sein, denn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet keine Gesetzesänderung, sie stellt nur verbindlich fest, was schon von vornherein Rechtens war (vgl. Scheuner, Betriebsberater 1960, 1253). Zwar konnten die Zulassungsinstanzen, bevor die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen war, nach der damals herrschenden Rechtsauffassung für einen ausgeschriebenen Kassenarztsitz nur einen Bewerber zulassen. Das ändert aber nichts daran, daß der Kläger nach der nunmehr durch das Bundesverfassungsgericht geklärten Rechtslage in dem Rechtsstreit Erfolg gehabt hätte, wenn der Streit sich nicht im Laufe des Revisionsverfahrens erledigt hätte. Die Auffassung des beklagten Berufungsausschusses, es sei unbillig, ihn in einem solchen Falle mit dem Kostenrisiko zu belasten, vermag der Senat nicht zu teilen. Es erscheint vielmehr gerechtfertigt, in Fällen der vorliegenden Art die gesamten Kosten des Rechtsstreits den Berufungsausschuß tragen zu lassen, da der Rechtsstreit allein durch seinen - objektiv fehlerhaften - Beschluß über die alleinige Zulassung des Beigeladenen verursacht worden ist und es zudem grundsätzlich Sache "der öffentlichen Hand" ist, das Risiko fehlerhafter - wenn auch nicht schuldhafter - Rechtsanwendung gegenüber Privaten zu tragen (vgl. auch Urteil des BGH vom 25. April 1960 - III ZR 55/59, DÖV 1960, 463)
Dabei verkennt der Senat nicht, daß der beklagte Berufungsausschuß bei Erlaß des vom Kläger angefochtenen Zulassungsbeschlusses gegen die Rechtmäßigkeit der von ihm angewandten Auswahlgrundsätze der ZulO brit. Zone auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Senats (vgl. BSG 3, 95, 99) keine Bedenken zu haben brauchte. Indessen muß bei Beantwortung der Frage, wer das Prozeßrisiko tragen soll, wenn sich die Verfassungswidrigkeit einer Norm erst nach Jahren herausstellt, beachtet werden, daß es sich hier um die Folgen einer - objektiv - mangelhaften rechtlichen Ordnung handelt, die in den Verantwortungsbereich des "Staates", hier also des öffentliche Funktionen wahrnehmenden Berufungsausschusses fällt. Es ist nicht Sache der Bürger, das Risiko objektiv gegebener Rechtsunsicherheit gegenüber der Verwaltung zu tragen. Berücksichtigt man die Interessenlage aller an dem Zulassungsstreit Beteiligten, so erscheint es auch vom Standpunkt der Billigkeit aus sachgerecht, die Kostenlast des in Auswirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erledigten Rechtsstreits dem beklagten Berufungsausschuß aufzuerlegen, dem die öffentliche Aufgabe der sachgemäßen Anwendung des Zulassungsrechts anvertraut ist und der daher für die - wenn auch ohne sein Verschulden - eingetretene Fehlerhaftigkeit seiner Zulassungsentscheidungen einzustehen hat. Der Senat hat zwar in einer nicht veröffentlichten Entscheidung vom 12. Juli 1960 - 6 RKa 35/59 - ausgesprochen, daß in einem gleichgelagerten Falle der vom Berufungsausschuß zugelassene Beigeladene vom Berufungsausschuß keine Erstattung verlangen könne; diese Rechtsauffassung hat er aber bereits in seiner nicht veröffentlichten Entscheidung vom 20. Dezember 1960 - 6 RKa 40/59 - aufgegeben und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß der Berufungsausschuß auch dem beigeladenen Arzt die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten habe. Diese Entscheidung erscheint auch deshalb angemessen, weil der vom Berufungsausschuß in Verkennung der wirklichen Rechtslage allein zugelassene Arzt als notwendig Beigeladener (§ 75 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) genötigt gewesen ist, sich zur Vermeidung einer ihm ungünstigen Entscheidung (vgl. § 141 SGG) an dem Rechtsstreit zu beteiligen. Daß die Rechtslage anders zu beurteilen wäre, wenn der Rechtsstreit wegen einer erst im Laufe des Revisionsverfahrens eingetretenen Gesetzesänderung zu Gunsten des Klägers hätte ausgehen müssen (vgl. hierzu Entscheidung des Senats in BSG 3, 95, 105), bedarf hier keiner Erörterung, da die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wie dargelegt, trotz ihrer weitreichenden Bindung nach § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz keine Gesetzesänderung darstellt und ihr auch bei der Entscheidung über die Kostenerstattung nicht gleichzusetzen ist.
Es erscheint daher gerechtfertigt, daß der Beklagte dem Kläger und dem Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits erstattet.
Fundstellen
BSGE, 25 |
NJW 1961, 991 |
MDR 1961, 542 |
DVBl. 1961, 795 |