Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Rechtsfrage. Grundsätzliche Bedeutung. Erneute Klärungsbedürftigkeit. Verfassungswidrigkeit. Vermeintliche Fehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung. DDR-Flüchtlinge und -Übersiedler. Geburtsjahrgang. Im Beitrittsgebiet zurückgelegte Zeiten. Rentenrechtliche Rechtsvorschriften. Verfassungskonforme Auslegung. Völkerrechtsfreundliche Auslegung. Europäische Menschenrechtskonvention
Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn bereits nicht ersichtlich ist, auf welche spezifischen bundesrechtlichen Normen sich die aufgeworfene Frage konkret bezieht, wird schon keine aus sich heraus verständliche Rechtsfrage zur Auslegung revisibler (Bundes-)Normen, an denen das Beschwerdegericht die weiteren Voraussetzungen der Grundsatzrüge prüfen könnte, formuliert.
2. Leitet eine Beschwerde die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aus einer Verletzung von Normen des GG ab, darf sie sich nicht auf die bloße Benennung angeblich verletzter Rechtsgrundsätze beschränken, sondern muss unter Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG und des BSG zu den (konkret) gerügten Verfassungsnormen bzw. -prinzipien in substanzieller Argumentation darlegen, welche gesetzlichen Regelungen welche Auswirkungen haben und woraus sich im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergeben soll.
3. Nach der Rechtsprechung des BSG und des BVerfG begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass vor dem 19.5.1990 in der ehemaligen DDR zurückgelegte Pflichtbeitragszeiten von nach dem 31.12.1936 Geborenen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Bundesgebiet am 18.5.1990 nicht aufgrund des FRG bewertet werden.
4. Auf eine vermeintliche Fehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung kann die Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden.
5. Auch eine bereits höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage kann erneut klärungsbedürftig werden; hierfür ist jedoch darzulegen, dass und mit welchen Gründen der höchstrichterlichen Rechtsauffassung in der Rechtsprechung oder in der Literatur widersprochen worden ist oder dass sich völlig neue, nicht erwogene Gesichtspunkte ergeben haben, die eine andere Beurteilung nahelegen könnten.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 Sätze 1-2, § 169; SGB VI § 259a Abs. 1 S. 1; Rü-ErgG Art. 1 Nr. 16 Buchst. B; FRG § 15; RÜG Art. 38; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 10.09.2014; Aktenzeichen S 12 R 3654/13) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.02.2020; Aktenzeichen L 9 R 3056/18) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Februar 2020 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Mit Urteil vom 17.2.2020 hat das LSG Baden-Württemberg einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer höheren Regelaltersrente unter Bewertung von im Beitrittsgebiet im Zeitraum 1.9.1964 bis 9.11.1987 zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) verneint und seine Berufung gegen das Urteil des SG Karlsruhe vom 10.9.2014 zurückgewiesen. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil sie nicht formgerecht begründet ist. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG genannten Gründe werden in der Beschwerdebegründung nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG dargetan. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.
Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl BSG Beschluss vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN; Fichte in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 160a RdNr 32 ff).
Der Kläger formuliert als Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung:
"Haben DDR-Flüchtlinge und-Übersiedler, die vor dem 18.05.1990 von der DDR in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt sind, unabhängig von Ihrem Geburtsjahrgang, insbesondere also auch wenn sie nach dem 01.01.1937 geboren wurden, einen Anspruch auf Berücksichtigung der von ihnen im Beitrittsgebiet zurückgelegten Zeiten nach den Anlagen 1-16 zum FRG, wenn die geltenden, speziell die durch das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG), insbesondere in den SGB VI und im FRG (neu) geregelten rentenrechtlichen Rechtsvorschriften sowohl verfassungskonform, als auch mit dem Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts im Lichte der EMRK ausgelegt werden?"
"Ist § 259a Abs. 1 Satz 1 SGB VI in der Fassung des Art. 1 Nr. 16 Buchst. b Rü-ErgG und ist dessen Begleitvorschrift in § 15 FRG in deren Auslegung durch das LSG und auch der bisherigen Auslegung durch das BSG insofern mit der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar, als eine Berücksichtigung der von im Beitrittsgebiet zurückgelegten Zeiten nach den Anlagen 1-16 zum FRG nur für diejenigen zur Anwendung kommt, die am 18.05.1990 einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik ohne das Beitrittsgebiet hatten und vor dem 01.01.1937 geboren sind?"
Zur ersten der beiden vom Kläger formulierten Rechtsfragen ist bereits nicht ersichtlich, auf welche spezifischen bundesrechtlichen Normen sich die aufgeworfene Frage konkret bezieht. Damit formuliert er schon keine aus sich heraus verständliche Rechtsfrage zur Auslegung revisibler (Bundes-)Normen, an denen das Beschwerdegericht die weiteren Voraussetzungen der Grundsatzrüge prüfen könnte (vgl dazu BSG Beschlüsse vom 2.3.2015 - B 12 KR 60/14 B - juris RdNr 15 und vom 4.4.2016 - B 13 R 43/16 B - RdNr 6; Becker, SGb 2007, 261, 265; Krasney/Udsching/Groth, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, Kap IX RdNr 181).
Sofern es dem Kläger auch in seiner ersten Frage erkennbar darum geht, die Vereinbarkeit von § 259a Abs 1 Satz 1 SGB VI mit Verfassungsrecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu überprüfen, fehlt es jedenfalls an einer den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG genügenden Darlegung der (abstrakten) Klärungsbedürftigkeit. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. In der Beschwerdebegründung muss deshalb unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG bzw des BVerfG zu dem Problemkreis substantiiert vorgebracht werden, dass zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidung gefällt oder durch die schon vorliegenden Urteile und Beschlüsse die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet worden ist (vgl bereits Senatsbeschluss vom 17.6.2019 - B 5 R 61/19 B - juris RdNr 9). Leitet eine Beschwerde die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aus einer Verletzung von Normen des GG ab, darf sie sich nicht auf die bloße Benennung angeblich verletzter Rechtsgrundsätze beschränken, sondern muss unter Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG und des BSG zu den (konkret) gerügten Verfassungsnormen bzw -prinzipien in substanzieller Argumentation darlegen, welche gesetzlichen Regelungen welche Auswirkungen haben und woraus sich im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergeben soll (stRspr, zB bereits BSG Beschluss vom 22.8.1975 - 11 BA 8/75 - BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 S 13 f; aus jüngster Zeit BSG Beschluss vom 11.2.2020 - B 10 EG 14/19 B - juris RdNr 11 mwN).
Der Kläger macht dazu geltend, das Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) vom 25.7.1991 (BGBl I 1606) sei geschaffen worden, um Rentenansprüche, die gegen das Rentensystem des Beitrittsgebietes zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung noch bestanden hätten, in das gemeinsame Rentensystem des vereinten Deutschlands überzuleiten. Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland sei er jedoch nicht mehr Mitglied des ostdeutschen Rentensystems, sondern bereits in das westdeutsche Rentensystem eingegliedert gewesen. Es gehe ihm letztlich um die Rechtsfrage, wer Adressat des RÜG sei. Dies sei bisher in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht geklärt worden. Selbst wenn bereits von einer erfolgten höchstrichterlichen Klärung ausgegangen werde, würden nun erstmals die maßgeblichen und entscheidungserheblich von der Rechtsprechung des BVerfG zum GG abweichenden Vorgaben der EMRK in der Rechtsprechung des EGMR vorgetragen.
Mit diesem Vorbringen hat der Kläger nicht hinreichend dargelegt, warum die Fragen trotz der von ihm zitierten Rechtsprechung des BSG vom 14.12.2011 - B 5 R 36/11 R - (SozR 4-2600 § 248 Nr 1) und der nachfolgenden Entscheidung des BVerfG vom 13.12.2016 - 1 BvR 713/13 - weiter klärungsbedürftig sein sollen. Nach dieser Rechtsprechung begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass vor dem 19.5.1990 in der ehemaligen DDR zurückgelegte Pflichtbeitragszeiten von nach dem 31.12.1936 Geborenen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Bundesgebiet am 18.5.1990 nicht auf Grund des Fremdrentengesetzes bewertet werden. Der Kläger nimmt zwar auf diese - auch vom LSG zitierten - Entscheidungen Bezug, belässt es jedoch bei dem Vorhalt, das BSG habe sich auf "reine Wortlauterwägungen" beschränkt und sich nicht "mit dem Telos und der Entstehungsgeschichte der fraglichen Normen […] befasst". Auch erschöpften sich die Ausführungen unter RdNr 17 des Urteils vom 14.12.2011 "in der reinen Rechtsbehauptung […] das FRG vom 25.02.1960 finde auf den dortigen Kläger keine Anwendung." Indem der Kläger ausführlich zu den Rechtsgrundlagen der Wiedervereinigung und zur Entstehungsgeschichte des RÜG sowie des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes vom 24.6.1993 (BGBl I 1038) Stellung nimmt, stellt er der höchstrichterlichen Rechtsprechung seine eigene Rechtsauffassung zur Anwendung und Auslegung von § 259a SGB VI gegenüber. Auf eine vermeintliche Fehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung kann die Nichtzulassungsbeschwerde indes nicht gestützt werden (vgl BSG Beschluss vom 26.6.1975 - 12 BJ 12/75 - SozR 1500 § 160a Nr 7; Beschluss vom 29.11.1989 - 7 BAr 130/88 - SozR 1500 § 160a Nr 67 und aus jüngster Zeit Senatsbeschluss vom 3.7.2019 - B 5 RS 10/18 B - juris RdNr 11). Zur Entscheidung des BVerfG trägt der Kläger lediglich vor, das BVerfG habe die Feststellungen der Instanzgerichte "schlicht übernommen" und nur den fehlenden Vortrag des Beschwerdeführers gerügt. Mit den vom BVerfG angeführten verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine unechte Rückwirkung von Rechtsvorschriften befasst er sich dagegen ebenso wenig wie mit den weiteren Ausführungen des BVerfG, wonach in Rentenanwartschaften von vornherein die Möglichkeit von Änderungen in gewissen Grenzen angelegt ist (vgl BVerfG aaO RdNr 15). Soweit der Kläger eine verfassungsrechtliche Prüfung insbesondere anhand des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes vermisst, ist diese bereits durch das BSG erfolgt (vgl BSG Urteil vom 14.12.2011 - B 5 R 36/11 R - SozR 4-2600 § 248 Nr 1 RdNr 28 ff). Auch dazu verhält sich die Beschwerdebegründung nicht.
Soweit der Kläger darüber hinaus geltend macht, es bestünde "Gelegenheit, aber auch konkreter Anlass diese grundsätzliche Rechtsfrage erneut zu klären", und auf die Notwendigkeit einer "völkerrechtsfreundlichen Auslegung im Lichte der EMRK" verweist, wird dies ebenfalls nicht hinreichend begründet. Auch eine bereits höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage kann erneut klärungsbedürftig werden. Hierfür ist jedoch darzulegen, dass und mit welchen Gründen der höchstrichterlichen Rechtsauffassung in der Rechtsprechung oder in der Literatur widersprochen worden ist oder dass sich völlig neue, nicht erwogene Gesichtspunkte ergeben haben, die eine andere Beurteilung nahelegen könnten (vgl BSG Beschluss vom 22.6.2020 - B 13 R 47/19 B - juris RdNr 11 mwN). Soweit die EMRK und ihre Zusatzprotokolle auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des GG heranzuziehen sind (vgl BSG Urteil vom 20.7.2011 - B 13 R 36/10 R - juris RdNr 35 mwN) lässt sich der Beschwerdebegründung nicht entnehmen, inwieweit die Maßstäbe der EMRK die Beurteilung nach dem GG modifizieren sollen. Der Kläger hat entgegen seiner Behauptung keine neuen verfassungsrechtlichen oder sich aus der EMRK ergebenden Gesichtspunkte vorgetragen, die für eine "abweichende Beurteilung der Verletzung des Art 14 Abs 1 GG" sprächen. Insofern fehlt es auch an einer Auseinandersetzung mit den Ausführungen des BVerfG zum Schutz von in der ehemaligen DDR begründeten Rentenanwartschaften (BVerfG aaO RdNr 8 ff). Der Kläger zeigt auch an dieser Stelle keine neuen Aspekte auf, sondern setzt seine eigene Rechtsauffassung der aus seiner Sicht unzutreffenden Bewertung durch das BSG und das BVerfG entgegen. Soweit er eine Verletzung des Art 3 Abs 1 GG und des Diskriminierungsverbots des Art 14 EMRK geltend macht, werden diese ebenfalls nicht näher erläutert. Weder der Inhalt der von ihm zitierten Rechtsprechung des EGMR noch eine dem vorliegenden Verfahren vergleichbare Rechtslage werden jeweils dargestellt. Die geltend gemachten Verletzungen der Rechtsweggarantie, des Anspruchs auf ein faires Verfahren sowie auf rechtliches Gehör werden nicht nachvollziehbar dargetan. Insofern rügt der Kläger allein eine fehlende Anhörung im Verwaltungsverfahren sowie die Regelung des Art 38 RÜG.
Dass sich der Kläger durch die bereits zu § 259a Abs 1 Satz 1 SGB VI ergangenen Entscheidungen unverhältnismäßig benachteiligt fühlt, vermag eine erneute Klärungsbedürftigkeit nicht zu begründen. Von weiteren Ausführungen wird abgesehen (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14113904 |