Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Rollstuhlfahrer. elektrische Brems- und Schiebehilfe. körperlich eingeschränkte Leistungsfähigkeit der konkreten Schiebeperson (hier: der Eltern). qualitative Erweiterung der persönlichen Freiraums. Erhaltung einer möglichst selbständigen Lebensführung
Orientierungssatz
Zum Anspruch eines auf den Rollstuhl angewiesenen ca 60 kg schweren Versicherten auf eine elektrische Brems- und Schiebehilfe zur Fortbewegung bei körperlich eingeschränkter Leistungsfähigkeit der konkreten Schiebeperson, um diesem eine qualitative Erweiterung des persönlichen Freiraums und des Umfangs der selbständigen Lebensführung zu ermöglichen (vgl BSG vom 24.5.2006 - B 3 KR 12/05 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 11 ).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3; SGB 1 § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 33; SGB 5 § 33 Abs. 1 S. 1; SGB 9 § 9 Abs. 1; SGB 9 § 31 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 6. Juni 2013 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I. Der 1958 geborene Kläger leidet an einem apallischen Syndrom. Er lebt in einer Facheinrichtung für Intensivpflege der Beigeladenen, ist der Pflegestufe III zugeordnet und nicht in der Lage, seinen 30 kg schweren Multifunktionsrollstuhl selbstständig zu nutzen. Die Mutter des Klägers - seine Betreuerin - ist selbst auf einen Rollstuhl angewiesen, sein 1936 geborener Vater kann den Rollstuhl samt Kläger (zusammen fast 100 kg schwer) nach ärztlichem Attest nicht mehr sicher im Außenbereich bewegen. Den Antrag auf Gewährung einer elektrischen Brems- und Schiebehilfe lehnte die Beklagte ab, weil die Bediensteten des Beigeladenen den Schiebedienst verrichten müssten oder aber die Beigeladene derartige Hilfen vorrätig halten müsse. SG und LSG haben die Beklagte zur Gewährung des begehrten Hilfsmittels verurteilt, weil die Beigeladene hierfür nicht zuständig sei und es zudem auf die konkrete - hier: die Eltern des Klägers - und nicht auf eine durchschnittliche Schiebeperson ankomme; da die Eltern den Rollstuhl im Außenbereich nicht mehr sicher bewegen könnten, müsse die Beklagte entsprechend einstehen (Urteile des SG vom 23.5.2012 und des LSG vom 6.6.2013).
Mit der Beschwerde wendet sich die Beklagte gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG und beruft sich auf das Vorliegen von grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch die §§ 160 Abs 2, 160a Abs 2 SGG normierten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§§ 160a Abs 4 S 1, 169 S 1 bis 3 SGG).
1. Die Beklagte macht geltend, die angegriffene Entscheidung betreffe eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist es erforderlich, die grundsätzliche Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt (BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 und BSG SozR 1500 § 160a Nr 39) und dass sie klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65), sie also im Falle der Revisionszulassung entscheidungserheblich wäre (BSG SozR 1500 § 160a Nr 54). In der Regel fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage, wenn diese höchstrichterlich bereits entschieden ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51, § 160a Nr 13 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8) oder sich ihre Beantwortung eindeutig aus dem Gesetz ergibt (Krasney-Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, IX. Kap RdNr 65 f mwN). Diese Erfordernisse betreffen die gesetzliche Form iS des § 169 S 1 SGG (so schon BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 48). Deren Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
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Die Beklagte hält folgende Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam: |
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"Ist bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer Schiebehilfe als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V auf die konkrete Schiebeperson oder auf eine durchschnittliche Schiebeperson abzustellen?" |
Diese Frage hat der Senat allerdings im Grundsatz bereits entschieden, im Urteil vom 24.5.2006 (B 3 KR 12/05 R - BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 11 RdNr 19 ff) heißt es ua: |
"Im Falle der Klägerin ist das allgemeine Grundbedürfnis der 'Bewegungsfreiheit' betroffen, das bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens usw sichergestellt wird … . Ist diese Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch der Bewegungsradius in einem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht … . Darum geht es hier allerdings nicht, denn die Klägerin kann … den Nahbereich der Wohnung, wenn auch mit Hilfe einer Person und mit dem bereits vorhandenen Faltrollstuhl, erreichen, sodass das begehrte Fahrzeug keinen Gebrauchsvorteil in quantitativer Hinsicht bietet. Zudem bleibt die Klägerin in dem einen wie in dem anderen Fall bei der Erschließung des Nahbereichs der Wohnung von der Hilfe durch eine andere Person abhängig, nämlich beim Faltrollstuhl von der Hilfe Familienfremder (Pflegekräfte, Zivildienstleistende, sonstige Personen) und beim begehrten Fahrzeug von der Hilfe ihres Ehemannes. Dies schließt den Versorgungsanspruch nach § 33 SGB V jedoch nicht aus. Denn durch das begehrte zweisitzige Elektrofahrzeug wird der persönliche Freiraum der Klägerin immerhin qualitativ erweitert. Es ist ein wesentliches Ziel der Hilfsmittelversorgung, dass behinderte Menschen nach Möglichkeit von der Hilfe anderer Menschen unabhängig, zumindest aber deutlich weniger abhängig werden. Hier liegt der ausschlaggebende Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels darin, dass die Klägerin nicht mehr von der Hilfe fremder Personen abhängig ist, sondern auf die Hilfe des Ehepartners oder eines sonstigen Haushaltsangehörigen zurückgreifen kann, die in der Regel in der Wohnung anwesend sind, sodass die selbstständige Lebensführung und die zeitliche Dispositionsfreiheit im weit größerem Maße gesichert ist, als wenn sie auf die Hilfe fremder Personen warten müsste, die - wie hier - nur zu bestimmten Zeiten (zB Pflegedienst) anwesend sind oder erst, teilweise lange Zeit im Voraus (zB Fahrdienst), gerufen werden müssen. Die spezielle Pflicht der Krankenkassen, behinderten Menschen durch eine angemessene Hilfsmittelversorgung eine möglichst selbstständige Lebensführung zu erhalten, ergibt sich zunächst aus der allgemeinen Pflicht der Sozialversicherungsträger, in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich die sozialen Rechte der Versicherten und Leistungsberechtigten zu sichern. … Der Bereich der Hilfsmittelversorgung durch die Krankenkassen ist speziell in § 4 Abs 2 Nr 1 SGB I angesprochen, wonach Versicherte im Rahmen der GKV ein Recht auf die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit haben. … Bei der Wahl zwischen mehreren geeigneten Hilfsmitteln ist darüber hinaus § 33 SGB I zu beachten: 'Ist der Inhalt von Rechten oder Pflichten nach Art oder Umfang nicht im Einzelnen bestimmt, sind bei ihrer Ausgestaltung die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten oder Verpflichteten, sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit sowie die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Dabei soll den Wünschen des Berechtigten oder Verpflichteten entsprochen werden, soweit sie angemessen sind.' An diese Regelung knüpft auch das 'Wunsch- und Wahlrecht' behinderter Menschen bei der Rehabilitation und der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft an, das in § 9 Abs 1 SGB IX niedergelegt ist, wobei Leistungsempfänger, die ein geeignetes Hilfsmittel in einer aufwändigeren Ausführung als notwendig wählen, nur die Mehrkosten selbst zu tragen haben (§ 31 Abs 3 SGB IX). Nach diesen Grundsätzen ist die Versorgung der Klägerin mit dem zweisitzigen Elektrofahrzeug gerechtfertigt, weil sie dem Ziel einer möglichst selbstständigen Lebensführung eines behinderten Menschen dient, dessen Bewegungsspielraum im Nahbereich der Wohnung spürbar erweitert wird. Es geht nicht lediglich um die Erhöhung der Bequemlichkeit der Klägerin oder die Förderung der ehelichen Partnerschaft, was einen Versorgungsanspruch nicht rechtfertigen könnte …, sondern um eine qualitative Erweiterung des persönlichen Freiraums und des Umfangs der selbstständigen Lebensführung." |
Diese Entscheidung ist zwar zum Anspruch einer blinden und gehbehinderten Krankenversicherten auf Ausstattung mit einem zweisitzigen Elektrorollstuhl ergangen, wenn die zur Verfügung stehende Hilfsperson selbst gehbehindert ist. Die dort niedergelegten Grundsätze sind aber auch für den vorliegenden Fall beachtlich, denn hier geht es ebenfalls um die "Qualität" einer Hilfeleistung. Deshalb hätte die Beklagte dazu Stellung nehmen und darlegen müssen, welche Bedeutung dieses frühere Urteil des Senats hinsichtlich der hier streitigen Rechtsfrage besitzt und welche Aspekte gleichwohl noch klärungsbedürftig sind. Dies ist nicht geschehen; die Beklagte hat auch nicht vorgetragen, dass der damaligen Entscheidung in Rechtsprechung und/oder Literatur in nennenswerter Weise widersprochen worden ist oder neue Gesichtspunkte aufgetaucht sind, die eine erneute revisionsgerichtliche Klärung rechtfertigen könnten.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen