Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Revision. Erledigungserklärung. Kostenentscheidung des Gerichts. billiges Ermessen. Erfolgsaussichten. Zulässigkeit der Berufung. Beschwerdewert über 750 Euro. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aufrechnungsbescheid. Bezugnahme auf Bewilligungsbescheid. zeitliche Begrenzung des Streitgegenstandes auf den Bewilligungsabschnitt
Orientierungssatz
1. Soweit das Gericht über die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten nach § 193 Abs 2 SGG zu befinden hat, erfolgt die Bestimmung der Verpflichtung zur Kostenerstattung dem Grunde nach und deren Umfang nach sachgemäßem bzw billigem Ermessen. Dabei steht grundsätzlich der nach dem Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Erledigung zu beurteilende Verfahrenserfolg im Vordergrund (vgl BSG vom 1.4.2010 - B 13 R 233/09 B RdNr 8 und vom 16.5.2007 - B 7b AS 40/06 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 4 RdNr 5).
2. Danach ist es in der Regel billig, dass derjenige die Kosten trägt, der unterliegt bzw - im Falle einer Erledigungserklärung - dessen Rechtsstreit auch vor Wegfall eines Rechtsschutzbedürfnisses unter Berücksichtigung des bis dahin vorliegenden Sach- und Streitstandes voraussichtlich keinen Erfolg gehabt hätte (vgl BSG vom 6.4.2011 - B 4 AS 5/10 R = FEVS 63, 109 = juris RdNr 17).
3. Ein Bescheid, mit dem eine Aufrechnung "gegen die laufenden Leistungen" verfügt wird, nimmt damit grundsätzlich Bezug auf einen Bewilligungsbescheid. Die mit dem betreffenden Bewilligungsbescheid bewirkte Begrenzung des Streitgegenstandes auf den Bewilligungsabschnitt gilt aus diesem Grund auch für den Aufrechnungsbescheid.
Normenkette
SGG § 165 S. 1, § 156 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 2, § 193 Abs. 2, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Im Streit war die Berechtigung des beklagten Jobcenters, einen Rückzahlungsanspruch aus einem Mietkautionsdarlehens mit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II aufzurechnen.
Die im SGB II-Leistungsbezug stehende, 1980 geborene Klägerin wohnte zunächst im Zuständigkeitsbereich des Jobcenters C. ; auf ein von ihr vorgelegtes Wohnungsangebot im Zuständigkeitsbereich des beklagten Jobcenters mit Umzug zum 1.4.2011 erklärte sich das Jobcenter C. der Klägerin gegenüber bereit, "die Miete für die angemessene Unterkunft laut Angebot in Höhe von 444,00 Euro monatlich anzuerkennen, ebenso die Kaution (regelmäßig als Darlehen) in Höhe von 1.263,30 Euro" zu übernehmen (Schreiben vom 29.3.2011). Nach Abschluss des neuen Mietvertrags mit Wirkung zum 1.4.2011 zog die Klägerin mit ihrer Tochter in die neue Wohnung. Das Jobcenter C. bewilligte ihr das Mietkautionsdarlehen (Bescheid vom 6.4.2011). Nach dem Umzug bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrer Tochter vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit von Mai bis Oktober 2011 (Bescheid vom 13.4.2011). In einem weiteren Bescheid vom 14.4.2011 teilte er der Klägerin mit, dass gegen sie eine Forderung in Höhe von 1263,30 Euro bestehe. Das Darlehen werde durch monatliche Aufrechnung "in Höhe von bis zu 10 vom Hundert der jeweils zu zahlenden Regelleistung getilgt". Ab dem 1.6.2011 würden "monatlich 36,40 Euro gegen die laufenden Leistungen aufgerechnet". Der Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 12.8.2011).
Das SG hat die gegen die Aufrechnung gerichtete Klage abgewiesen, ohne die Berufung zuzulassen (Urteil vom 12.12.2012). Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt (Urteil vom 12.3.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die vom Beklagten verfügte Aufrechnung auf der Rechtsgrundlage des § 42a Abs 2 SGB II sei nicht zu beanstanden, zumal die Vorschrift kein Ermessen einräume. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Aufrechnung mit den laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bestünden nicht.
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Die hiergegen eingelegte Revision hat die Klägerin nach einem Hinweisschreiben des Senats vom 5.12.2016 für erledigt erklärt und beantragt, die Kosten des Verfahrens dem Revisionsbeklagten aufzuerlegen. |
Der Beklagte ist davon ausgegangen, dass sich die Revision durch Klagerücknahme erledigt hat und hat sich zur Übernahme der notwendigen außergerichtlichen Kosten nicht bereit erklärt.
II. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für das Revisionsverfahren.
Nach § 165 S 1 iVm §§ 156 Abs 1 S 1, Abs 3 S 2 SGG hat das Gericht bei Zurücknahme des Rechtsmittels auf Antrag durch Beschluss über die Kosten zu entscheiden. Danach kann die Revision bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden. Eine solche rechtskräftige Entscheidung des Senats liegt nicht vor und der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat hier die Revision für erledigt erklärt. Soweit daher der Senat über die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten nach § 193 Abs 2 SGG zu befinden hat, erfolgt die Bestimmung der Verpflichtung zur Kostenerstattung dem Grunde nach und deren Umfang nach sachgemäßem bzw billigem Ermessen. Dabei steht grundsätzlich der nach dem Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Erledigung zu beurteilende Verfahrenserfolg im Vordergrund (vgl BSG Beschluss vom 1.4.2010 - B 13 R 233/09 B - RdNr 8; BSG Beschluss vom 16.5.2007 - B 7b AS 40/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 4 RdNr 5). Danach ist es in der Regel billig, dass derjenige die Kosten trägt, der unterliegt bzw - im Falle einer Erledigungserklärung - dessen Rechtsstreit auch vor Wegfall eines Rechtsschutzbedürfnisses unter Berücksichtigung des bis dahin vorliegenden Sach- und Streitstandes voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte (BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 5/10 R - Juris RdNr 17). So liegt der Fall hier. Die Revision der Klägerin war unbegründet, weil ihre Berufung - dies ist vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen (stRspr; vgl BSGE 67, 221, 223 = SozR 3-4100 § 117 Nr 3; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1) - nicht zulässig gewesen ist.
Nach § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Dies gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes lag hier unterhalb der von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG normierten Wertgrenze von 750 Euro. Die Frage, ob das vormals zuständige Jobcenter C. die Mietkaution zu Recht nur als Darlehen und nicht als Zuschuss erbracht hat, war nicht streitgegenständlich. Mit der Berufung hat sich die Klägerin im Wege der Anfechtungsklage ausschließlich gegen den Bescheid des Beklagten vom 14.4.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.8.2011 gewandt und schon kein weitergehendes Klagebegehren formuliert. Der Beklagte hat mit dem angefochtenen Bescheid die Aufrechnung ab dem 1.6.2011 in Höhe von 36,40 Euro "gegen die laufenden Leistungen" verfügt. Mit dieser Formulierung hat er auf den bereits erlassenen Bewilligungsbescheid vom 13.4.2011 Bezug genommen, der keine Tilgungsregelung enthält und mit dem - wie vom LSG festgestellt - nur begrenzt auf den Zeitraum vom 1.5.2011 bis 31.10.2011 vorläufig SGB II-Leistungen bewilligt worden sind (zur Bescheidauslegung, die auch dem Revisionsgericht obliegt: vgl BSG Urteil vom 28.6.1990 - 4 RA 57/89 - BSGE 67, 104, 110 = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 S 11).
Die mit dem Bewilligungsbescheid bewirkte Begrenzung des Streitgegenstandes auf den Bewilligungsabschnitt gilt aus diesem Grund auch für den Tilgungsbescheid vom 14.4.2011, sodass im Berufungsverfahren lediglich 182 Euro im Streit standen (vgl zur zeitlichen Zäsur des Bewilligungsabschnitts, der zugleich eine entsprechende Begrenzung des Streitgegenstandes bewirkt: BSG Beschluss vom 30.7.2008 - B 14 AS 7/08 B; zur Außerachtlassung von Folgewirkungen für weitere Bewilligungsabschnitte BSG Beschluss vom 31.1.2006 - B 11a AL 177/05 B - SozR 4-1500 § 144 Nr 3).
Der als behördliche Willenserklärung nach dem objektiven Sinngehalt der Erklärung, wie sie ein verständiger Empfänger unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls verstehen musste, auszulegende Bescheid vom 14.4.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.8.2011 erweckte demnach auch nicht den Anschein einer über den SGB II-Bewilligungsbescheid vom 13.4.2011 und den hiervon erfassten Zeitraum (1.5.2011 bis 31.10.2011) hinausgehenden Regelung. Der Senat hätte daher nicht darüber zu befinden gehabt, ob die Rechtsprechung des 14. Senats über die Zulässigkeit eines Grundlagenverwaltungsaktes im Anwendungsbereich des § 43 SGB II in dem konkret entschiedenen Fall (vgl BSG Urteil vom 9.3.2016 - B 14 AS 20/15 R - SozR 4-4200 § 43 Nr 1 RdNr 11) auf die Ausgangslage der Anrechnungsregelung nach § 42a Abs 2 SGB II übertragen werden kann (vgl zur "objektiven Verrechnungslage" zB BSG Urteil vom 26.9.1991 - 4/1 RA 33/90 - BSGE 69, 238 ff = SozR 3-1200 § 52 Nr 2, RdNr 26; BSG Urteil vom 31.10.2012 - B 13 R 13/12 R - RdNr 21 f).
Fundstellen