Orientierungssatz
Optacon (Lesegerät für Sehbehinderte) als Hilfsmittel?
1. Bei Hilfsmitteln ist das maßgebliche Kriterium für die Leistungspflicht einer Krankenkasse neben der Eignung eines Hilfsmittels iS des § 182b RVO dessen Notwendigkeit gemäß § 182 Abs 2 RVO. Unter diesem Gesichtspunkt kommt es darauf an, ob der Einsatz des Hilfsmittels der alltäglichen Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse dient. Soweit das Hilfsmittel dagegen nur für besondere, dem gesellschaftlichen oder privaten Bereich allein zuzurechnende Tätigkeit benötigt wird, gehört es nicht zu den notwendigen, nach § 182 Abs 2 RVO zu gewährenden Leistungen.
2. Es wird (wegen der sonst gebotenen Anrufung des Großen Senats des BSG gemäß § 42 SGG) beim 3. Senat angefragt, ob er daran festhält, daß die Krankenkasse einem (Seh-)Behinderten ein Lesegerät auch dann zu gewähren hat, wenn sein Informationsbedürfnis in annähernd gleichem Umfang mit einem anderen Hilfsmittel befriedigt werden kann.
Normenkette
RVO § 182b Fassung: 1974-08-07, § 182 Abs 2 Fassung: 1930-07-26
Verfahrensgang
Tatbestand
Der klagende Sozialhilfeträger beansprucht mit seiner am 8. März 1984 erhobenen Klage von der Beklagten, ihm als nachrangig verpflichtetem Leistungsträger seine Aufwendungen im Gesamtbetrage von 17.732,22 DM zu erstatten; diese sind ihm aufgrund seines Bewilligungsbescheides vom 10. März 1983 für die gemäß §§ 40, 44 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) übernommene Beschaffung eines tragbaren "Optacon"-Lesegerätes einschließlich einer Zusatzlinse und der Kosten eines Einführungstrainings für den 1966 geborenen, seit seiner Geburt blinden Sohn Pierre der bei der Beklagten versicherten Beigeladenen M. K. entstanden. Das Gerät ermöglicht einem Blinden, Bücher, Zeitschriften und Zeitungen zu "lesen", indem es Druckschrift in vergrößerter Form vibrierend wiedergibt und damit die Buchstaben ertastbar macht.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Beklagte antragsgemäß zur Erstattung der geltend gemachten Kosten verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Beide Vorinstanzen haben das Lesegerät als Hilfsmittel iS des § 182b der Reichsversicherungsordnung (RVO) angesehen, weil es dazu diene und geeignet sei, die Befriedigung weiterer allgemeiner Grundbedürfnisse des Kindes dadurch zu ermöglichen, daß dessen Abhängigkeit von Hilfspersonen vermindert und zugleich sein geistiger Freiraum beträchtlich erweitert wird. Aus diesem Grunde sei auch die Ausstattung des blinden Kindes der Beigeladenen mit dem Lesegerät notwendig, zumal da aktuelle Texte des Alltages in Blindenschrift nicht allgemein verfügbar seien.
Die Beklagte trägt zur Begründung ihrer Revision vor, das Lesegerät sei zwar im weiteren Sinne ein Hilfsmittel. Es bewirke aber keinen medizinischen Funktionsausgleich und sei daher kein Hilfsmittel iS des § 182b RVO. Aber selbst wenn dies angenommen werde, sei es nicht notwendig iS des § 182 Abs 2 RVO, weil es nicht für die Befriedigung eines alltäglichen menschlichen Grundbedürfnisses erforderlich sei, sondern nur bestimmten, dem gesellschaftlichen oder beruflichen Bereich des Kindes zuzuordnenden Betätigungen diene.
Die Beklagte beantragt,
|
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom |
16. Oktober 1985 und das Urteil des Sozialgerichts |
Berlin vom 18. Oktober 1984 aufzuheben und die |
Klage abzuweisen. |
Die Klägerin beantragt,
|
die Revision zurückzuweisen. |
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nach Auffassung des erkennenden Senats begründet. Dem klagenden Land steht die auf § 104 des Sozialgesetzbuches - Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten, Zehntes Buch (SGB X), gestützte und nicht gemäß § 111 SGB X ausgeschlossene Erstattung nicht zu. An der gebotenen Klageabweisung sieht der Senat sich jedoch durch die Urteile des 3. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. April 1979 - 3 RK 20/78 - (SozR 2200 § 182b Nr 12) und vom 26. März 1980 - 3 RK 61/79 - (BSGE 50, 77 = SozR § 182b Nr 17) gehindert. Bei Anwendung der diesen Urteilen zugrunde liegenden rechtlichen Beurteilung des § 182b RVO wäre die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Der erkennende Senat teilt jedoch die in den vorgenannten Urteilen des 3. Senats vertretene Rechtsauffassung nicht, daß ein Hilfsmittel schon dann notwendig ist, wenn es das Lesen ermöglicht. Die nach § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebotene Anrufung des Großen Senats des BSG entfiele, wenn der 3. Senat erklärt, daß er die Rechtsauffassung des erkennenden Senats teile.
Die beabsichtigte Entscheidung des 8. Senats beruht im wesentlichen auf folgenden Erwägungen:
Der Kläger hat keinen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte, da diese nicht verpflichtet war, vorrangig vor der Klägerin der Beigeladenen gemäß § 182b RVO (idF des § 21 Nr 7 des Gesetzes vom 7. August 1974 -BGBl I 1881-) im Wege der Familienhilfe (§ 205 RVO) für ihren Sohn Pierre das "Optacon"-Lesegerät einschließlich einer Zusatzlinse und des Trainingskurses als Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen. Zwar würde die Beklagte, wenn sie überhaupt leistungspflichtig wäre, auch vorrangig leistungspflichtig sein. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger - hier der Kläger - soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungspflicht eines anderen Leistungsträgers - hier der Beklagten - nicht selbst verpflichtet wäre (§ 104 Abs 1 Satz 2 SGB X). Dies gilt auch für das Rangverhältnis der Leistungspflichten des Klägers und der Beklagten, denn gemäß § 2 Abs 1 BSHG (idF der Bekanntmachung vom 13. Februar 1976 -BGBl I 1150-) erhält Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz nur, wer unter anderem die erforderliche Hilfe nicht von einem Träger anderer Sozialleistungen erhält.
Die Beklagte ist aber nicht leistungspflichtig. Ihre Leistungspflicht setzt insbesondere voraus, daß das Lesegerät ein Hilfsmittel ist, das erforderlich ist, um - allein diese Variante des § 182b RVO kommt nach den Tatsachenfeststellungen des LSG hier in Betracht - die Auswirkungen der körperlichen Behinderung der Blindheit auszugleichen.
Das LSG hat das "Optacon"-Lesegerät zutreffend als ein Hilfsmittel iS des § 182b RVO beurteilt, da es im Hinblick auf seine Funktionsweise dazu dient, den Verlust des Sehvermögens insoweit auszugleichen, wie es sich um die Unfähigkeit zum Lesen gedruckter Textvorlagen handelt. Das Lesegerät ist damit ein an sich geeignetes Hilfsmittel, weil es die Behebung der Auswirkungen des körperlichen Gebrechens der Blindheit in einem nicht unbedeutenden Umfang ermöglicht. Unerheblich ist entgegen der von der Revision vertretenen Ansicht, daß das "Optacon"-Lesegerät die Folgen der bei dem Sohn der Beigeladenen als regelwidrigem Körperzustand bestehenden Blindheit "in medizinischer Hinsicht" nicht zu beheben vermag. Abgesehen davon, daß die am Fall des Blindenführhundes aufgekommene Frage der Eignung eines nicht unmittelbar auf den Ausgleich der bestehenden Behinderung gerichteten Hilfsmittels seit dem Urteil des 5a-Senats des BSG vom 25. Februar 1981 -5a/5 RKn 35/78 - geklärt ist (BSGE 51, 206 = SozR 2200 § 182b Nr 19 mwN; erkennender Senat, Urteil vom 22. Mai 1984 - 8 RK 27/83 - SozR 2200 § 182b Nr 29), läßt sich die von der Beklagten vertretene Ansicht auch nicht auf das Urteil des 3. Senats des BSG vom 15. Februar 1978 - 3 RK 36/76 - (SozR 2200 § 182b Nr 5) stützen. Der 3. Senat hat in dieser Entscheidung zwar von einem "medizinischen Ausgleich" gesprochen. Damit ist aber, wie die Beklagte selbst zutreffend hervorhebt und der Gesamtinhalt der Gründe dieser Entscheidung auch klar erkennen läßt, nur ein Gegensatz zu den Hilfsmitteln hergestellt, die nicht dem Ausgleich einer körperlichen Behinderung dienen (vgl deutlicher: Urteil vom 24. September 1979 - 3 RK 20/78 - SozR 2200 § 182b Nr 12; Urteil vom 26. Oktober 1982 - 3 RK 16/81 -, SozR aaO Nr 25).
Wie der erkennende Senat bereits wiederholt entschieden hat (vgl zuletzt Urteil vom 22. Mai 1984 - 8 RK 45/83 - SozR 2200 § 182b Nr 30 mwN), ist das maßgebliche Kriterium für die Leistungspflicht einer Krankenkasse neben der Eignung eines Hilfsmittels iS des § 182b RVO dessen Notwendigkeit gemäß § 182 Abs 2 RVO, wobei hier dahingestellt bleiben kann, ob die Erforderlichkeit nach § 182b RVO und die Notwendigkeit nach § 182 Abs 2 RVO identisch sind. Insoweit haben der dritte und der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung (vgl die Nachweise in dem Urteil vom 22. Mai 1984 aaO) darauf abgehoben, daß es bei der Anwendung des § 182b RVO auch unter Berücksichtigung der Zielsetzung des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) darauf ankommt, ob der Einsatz des Hilfsmittels der alltäglichen Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse dient. Soweit es dagegen nur für besondere, dem gesellschaftlichen oder privaten Bereich allein zuzurechnende Tätigkeiten benötigt wird, gehört es nicht zu den notwendigen, nach § 182 Abs 2 RVO zu gewährenden Leistungen (erkennender Senat aaO mwN).
Dieser Inhaltsbestimmung des Begriffes der Notwendigkeit iS des § 182 Abs 2 RVO, an der der Senat festhält, ist das LSG nicht gerecht geworden. Es ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß zu den allgemeinen Grundbedürfnissen nicht nur die Ernährung oder die elementare Körperpflege (BSG SozR 2200 § 182b Nrn 10, 17 mwN), sondern auch die Schaffung eines gewissen körperlichen oder geistigen Freiraumes gehören (BSG SozR 2200 § 182b Nrn 12, 17, 29). Immer aber muß, wie der Senat in dem Urteil vom 22. Mai 1984 (aa0) erneut verdeutlicht hat, das Hilfsmittel im Einzelfall für die elementare Lebensbetätigung des Behinderten oder deren wesentliche Verbesserung notwendig sein. Bei der Inhaltsbestimmung dieses Begriffes ist der 3. Senat des BSG (aa0) davon ausgegangen, daß die Verbesserung der Lebensbetätigung durch das Hilfsmittel entweder in der Ersetzung der ausgefallenen Funktion - diese Möglichkeit entfällt allerdings bei der Blindheit - oder in der "natürlichen Ergänzungsfunktion" (Urteil vom 26. Oktober 1982 - 3 RK 16/81 -, SozR 2200 § 182b Nr 25) liegen kann. Er hat damit - aus seiner Sicht zu Recht nicht im Rahmen der Notwendigkeit des Hilfsmittels, sondern im Zusammenhang mit der Frage seiner Eignung - allein auf den Umfang des Ausfalls einer Körperfunktion und das Ausmaß der Ersetzbarkeit dieser Funktion, jedoch nicht darauf abgehoben, ob - jedenfalls bei Ausfall einer Körperfunktion - die Schaffung oder Erweiterung des körperlichen oder geistigen Freiraumes nicht durch ein "ergänzend" funktionierendes Hilfsmittel, sondern auch durch ein anderes Mittel, das den erreichbaren Freiraum auf andere Weise eröffnet, in Betracht kommt. Von diesem Ausgangspunkt her ist es auch folgerichtig, das Lesenkönnen zu den allgemeinen Grundbedürfnissen zu rechnen (BSG SozR 2200 § 182b Nr 12). Dementsprechend wäre bei diesem Ausgangspunkt bei der hier erforderlichen Prüfung, ob das "Optacon"-Lesegerät den geistigen Freiraum eines Blinden wesentlich zu erweitern vermag, allein darauf abzuheben, ob das Gerät das fehlende Sehvermögen zu ersetzen vermag. Derselbe rechtliche Ansatz liegt auch dem Urteil des 3. Senats des BSG vom 26. März 1980 (aa0) und dem LSG-Urteil zugrunde. Die Beklagte weist aber zutreffend darauf hin, daß Lesen nur eine Form der Information ist; insbesondere ist das Lesen gedruckter Textvorlagen eine Form der Betätigung des geistigen Freiraumes eines Blinden, die auch in anderer Weise (zB durch einen Vorleser oder durch Texte in Blindenschrift) erreichbar ist. Das Grundbedürfnis, um dessen Befriedigung es daher geht, ist nicht das Lesen selbst, sondern das zu den elementaren Grundbedürfnissen gehörende Informationsbedürfnis, das im Fall des nicht Sehbehinderten in wesentlichem Umfang durch Lesen befriedigt wird. Fällt diese Art und Weise der Informationsbeschaffung aus, so kommt es allein darauf an, ob es nur durch ein Hilfsmittel in angemessenem Umfang befriedigt werden kann. Dementsprechend ist die Notwendigkeit eines Hilfsmittels, das die ausgefallene Funktion des Sehens in wesentlichem Umfang ersetzt, für den Bereich der Informationsverschaffung dann zu verneinen, wenn ein anderes Mittel zur Verfügung steht, das das Informationsbedürfnis des Betroffenen in annähernd gleichem Umfange zu befriedigen vermag. Insoweit hat die in §§ 182 Abs 2, 182b RVO nicht ausdrücklich angesprochene, von Baader (DOK 1984, 446) zu Recht für erforderlich gehaltene Berücksichtigung einer Kostenobergrenze bei der Inhaltsbestimmung des Begriffes der Notwendigkeit zu erfolgen.
Nach den Feststellungen des LSG kann der Sohn der Beigeladenen zwar mit Hilfe des "Optacon"-Lesegeräts gewöhnliche, das heißt nicht in Blindenschrift erscheinende Druckschrift-Vorlagen (Bücher, Zeitungen) "lesen", so daß er sich aus diesem leichter und schneller zugänglichen, umfangreicheren Informationsmaterial ohne fremde Hilfe (Vorleser) zu informieren vermag. Die Forderung nach einer derart "spontanen" Befriedigung des Informationsbedürfnisses gehört aber entgegen der vom LSG vertretenen Ansicht nicht zum notwendigen Umfang des elementaren Grundbedürfnisses der Information, sondern ist dem Bereich der allgemein-gesellschaftlichen Bedürfnisse zuzuordnen. Aktuelle Informationen in einem die Sicherung seines geistigen Freiraumes abdeckenden Umfang des elementaren Informations-Grundbedürfnisses kann der Sohn der Beigeladenen zB auch durch den Hörfunk erhalten. Dementsprechend ist auch der vom LSG vor allem für wesentlich gehaltene Umstand, daß Tageszeitungen oder aktuelle Druckschriften in Blindenschrift nicht allgemein verfügbar sind, zur Begründung der Notwendigkeit iS des § 182 Abs 2 RVO nicht ausreichend. Die Frage, ob die Beklagte dem Sohn der Beigeladenen ein Hörfunkgerät zur Verfügung stellen muß, ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits.
Das LSG hat auch nicht festgestellt, daß die sich aus der Beschränkung des Lesevermögens auf nur in Blindenschrift erhältliche Bücher oder andere Druckschriften ergebende Einschränkung der Informationsmöglichkeiten des Kindes die Befriedigung anderer elementarer Grundbedürfnisse in einem nicht hinreichenden Umfang verhindert. Vielmehr beeinträchtigt die Beschränkung auf derartiges Schrifttum nur die Entfaltungsmöglichkeit des Kindes in einem jenseits des Bereiches der elementaren Grundbedürfnisse liegenden beruflichen oder allgemein-gesellschaftlichen Bereich. Kosten, die für die Behebung einer solchen Beeinträchtigung entstehen, fallen nicht der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern allenfalls dem Fürsorgeträger im Rahmen des BSHG (§§ 39 ff BSHG) zur Last; ob letzteres auch für den Einzelfall des Sohnes der Beigeladenen zutrifft, ist in diesem Verfahren nicht zu entscheiden.
Fundstellen