Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Divergenz. Konkludenter Rechtssatz. Verdeckt aufgestellter Rechtssatz. Darlegung
Leitsatz (redaktionell)
Soweit ein konkludenter, d.h. verdeckt aufgestellter Rechtssatz des LSG behauptet wird, hätte für die Darlegung einer Divergenz dargelegt werden müssen, dass dieser (vermeintliche) Rechtssatz sich nicht erst nachträglich logisch induktiv aus dem Entscheidungsergebnis herleiten lässt, sondern dass dieses Ergebnis deduktiv aus einem Rechtssatz folgt, der in der Entscheidung zweifellos enthalten ist und den das LSG als solchen tatsächlich vertreten wollte.
Normenkette
SGG § 65a Abs. 3, § 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nrn. 2-3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 2, § 169 Sätze 2-3
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Juni 2021 wird als unzulässig verworfen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 12 816,23 Euro festgesetzt.
Gründe
I
In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten noch um die Höhe nachgeforderter Sozialversicherungsbeiträge und die Erhebung von Säumniszuschlägen.
Nach einer Betriebsprüfung forderte die Beklagte von der Klägerin wegen der Versicherungspflicht des Beigeladenen zu 1. in den Zweigen der Sozialversicherung aufgrund einer abhängigen Beschäftigung als Fahrer in der Zeit vom 1.3. bis zum 30.9.2010 einen Betrag von insgesamt 19 250,26 Euro inklusive 6337,50 Euro Säumniszuschläge (Bescheid vom 6.7.2015; Widerspruchsbescheid vom 27.9.2016). Das SG hat die Bescheide insoweit aufgehoben, als die Beklagte eine Nettolohnhochrechnung vorgenommen und Säumniszuschläge erhoben hat (Urteil vom 2.5.2018). Ein mindestens bedingter Vorsatz der Klägerin hinsichtlich der Nichtzahlung der Sozialversicherungsbeiträge sei nicht hinreichend erwiesen. Das Entstehen der Sozialversicherungspflicht sei für die Geschäftsleitung nicht erkennbar gewesen.
Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Streitgegenständlich sei noch ein Betrag in Höhe von 12 816,23 Euro. Der Klägerin sei bedingt vorsätzliches Verhalten vorzuwerfen, sodass sowohl die Nettolohnhochrechnung als auch die Erhebung von Säumniszuschlägen rechtmäßig seien. Es sei davon überzeugt, dass der Inhaber der Klägerin seine Arbeitgeberstellung in Bezug auf die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1 jedenfalls für möglich gehalten, durch das Unterlassen der Einholung von Rechtsrat zur sozialversicherungsrechtlichen Einordnung der Tätigkeit im Hinblick auf die kritische Situation im Betrieb und die Notlage der Klägerin aber billigend in Kauf genommen habe, die damit zusammenhängende Melde- und Beitragspflicht nicht zu erfüllen (Urteil vom 10.6.2021).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde. Auf den richterlichen Hinweis, dass die Beschwerde über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach ausweislich des Prüfvermerks ohne die erforderliche qualifizierte elektronische Signatur übermittelt worden sei, hat die Klägerin unter Vorlage verschiedener Unterlagen vorgetragen, dass die erforderlichen Formvoraussetzungen von ihrer Seite fristgerecht eingehalten worden seien. Hilfsweise hat sie Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand beantragt.
II
Es kann dahinstehen, ob die Beschwerde fristgerecht unter Einhaltung der nach § 65a Abs 3 SGG erforderlichen Formalia eingereicht worden und ob dem Antrag auf Wiedereinsetzung stattzugeben ist. Denn unbeschadet dieser Fragen ist die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des LSG als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG), weil die Klägerin entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG den allein geltend gemachten Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) nicht hinreichend bezeichnet hat.
1. Der Zulassungsgrund der Divergenz setzt voraus, dass das angefochtene Urteil des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Abweichung ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage zum Bundesrecht die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht. Insoweit genügt es nicht darauf hinzuweisen, dass das LSG seiner Entscheidung nicht die höchstrichterliche Rechtsprechung zugrunde gelegt hätte. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz. Sie liegt daher nicht schon dann vor, wenn das angefochtene Urteil nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG, der GmSOGB oder das BVerfG entwickelt hat, sondern erst dann, wenn das LSG diesen Kriterien auch widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe bei seiner Entscheidung herangezogen hat (vgl BSG Beschlüsse vom 12.5.2005 - B 3 P 13/04 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 6 RdNr 5 und vom 16.7.2004 - B 2 U 41/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 4 RdNr 6, jeweils mwN). Eine solche Abweichung hat die Klägerin nicht hinreichend dargetan.
Sie trägt vor, das LSG habe in seinen Entscheidungsgründen zunächst die Entscheidungen des BSG "zur Frage von bedingtem Vorsatz und Vorsatz", die in der Vergangenheit ergangen seien, korrekt wiedergegeben und somit die Rechtsprechung des BSG auch ausdrücklich erwähnt. Die herangezogenen Rechtsausführungen zum vorliegenden Fall ließen jedoch erkennen, dass das Berufungsgericht "in der Sache einen anderen rechtlichen Standpunkt eingenommen" habe. Faktisch lasse sich der Entscheidung entnehmen, dass das LSG Fahrlässigkeit ausreichen lasse, um Säumniszuschläge und die sogenannte Nettolohn-Hochrechnung durchzuführen. Beides stehe im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung des BSG. Es handele sich "um einen Fall eines verdeckten Rechtssatzes". Das LSG habe die "Maßstäbe, die eine grobe Fahrlässigkeit begründen, zugrunde gelegt, um letztlich hieraus den Begriff grobe Fahrlässigkeit mit bedingtem Vorsatz gleichzusetzen".
Soweit die Klägerin damit einen konkludent, dh verdeckt aufgestellten Rechtssatz des LSG behauptet, hätte sie darlegen müssen, dass dieser (vermeintliche) Rechtssatz sich nicht erst nachträglich logisch induktiv aus dem Entscheidungsergebnis herleiten lässt, sondern dass dieses Ergebnis deduktiv aus einem Rechtssatz folgt, der in der Entscheidung zweifellos enthalten ist und den das LSG als solchen tatsächlich vertreten wollte (vgl BSG Beschluss vom 19.12.2011 - B 12 KR 42/11 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 27.1.1999 - B 4 RA 131/98 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 26 = juris RdNr 12; BSG Beschluss vom 25.10.2016 - B 10 ÜG 24/16 B - juris RdNr 13; BAG Beschluss vom 23.10.2018 - 1 ABN 36/18 - juris RdNr 8).
Insoweit fehlen hinreichende Darlegungen. Vielmehr verdeutlicht die Beschwerdebegründung trotz des Hinweises auf die - vermeintliche - Zugrundelegung eines Rechtssatzes durch das LSG, dass sich die Kritik der Klägerin gerade gegen die aus ihrer Sicht falsche Beweiswürdigung und ungenügende Berücksichtigung bestimmter tatsächlicher Umstände durch das Berufungsgericht richtet. Letztlich schlussfolgert sie aus ihrer eigenen Bewertung des Sachverhalts, nach der allenfalls Fahrlässigkeit vorliege, dass das LSG "einen Fall von Fahrlässigkeit einem Fall von Vorsatz gleichstellen" wollte. Anstelle eines Widerspruchs abstrakter Rechtssätze rügt die Klägerin damit im Kern die Unrichtigkeit der Entscheidung. Auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall kann aber das Revisionszulassungsbegehren wegen Divergenz nicht mit Erfolg gestützt werden, denn in einem solchen Fall wird - worauf es hier allein ankommt - nicht die Rechtseinheit gefährdet (vgl BSG Beschluss vom 27.1.1999 - B 4 RA 131/98 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 26 = juris RdNr 13). Ebenso wenig kann die Nichtzulassungsbeschwerde auf den Vorwurf einer falschen Beweiswürdigung (Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG) gestützt werden, wie sich aus § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ausdrücklich ergibt. Gerade die Frage des Vorliegens eines bestimmten Verschuldensgrads stellt sich grundsätzlich als eine der revisionsgerichtlichen Überprüfung weitgehend entzogene tatrichterliche Würdigung dar (vgl BSG Beschluss vom 30.4.2018 - B 9 V 58/17 B - juris RdNr 6 mwN).
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 und 3, § 162 Abs 3 VwGO.
4. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG und entspricht der Höhe der noch streitigen Forderung.
Heinz Beck Bergner
Fundstellen
Dokument-Index HI15161279 |