Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 04.10.2018; Aktenzeichen L 16 KR 751/14)

SG Aachen (Urteil vom 02.12.2014; Aktenzeichen S 13 KR 121/14)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Oktober 2018 wird als unzulässig verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beklagte.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4406,97 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I

Die Beklagte, Trägerin eines für die Behandlung Versicherter zugelassenen Krankenhauses, behandelte die bei der klagenden Krankenkasse versicherte, an COPD leidende H. S. (im Folgenden: Versicherte) wegen einer respiratorischen Globalinsuffizienz stationär vom 20.6. bis 2.7.2010. Sie berechnete unter Zugrundelegung einer Beatmungszeit von 26 Stunden die Fallpauschale (Diagnosis Related Group 2010 ≪DRG≫) E40C (Krankheiten und Störungen der Atmungsorgane mit Beatmung ≫ 24 Stunden, ohne intensivmedizinische Komplexbehandlung im Kindesalter, mehr als 72 Stunden, ohne komplizierende Diagnose, ohne äußerst schwere CC, außer bei Para-/Tetraplegie; 13 053,62 Euro; 8.7.2010). Die Klägerin beglich die Rechnung zunächst. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung ging von 17 Beatmungsstunden aus. Die Klägerin forderte erfolglos die Rückzahlung von 4406,97 Euro (Differenz zur von der Klägerin für zutreffend angesehenen DRG E65C: Chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung ohne äußerst schwere CC, ohne starre Bronchoskopie, ohne komplizierende Diagnose, ohne FEV1 ≪ 35%, Alter ≫ 0 Jahre). Das SG hat die auf Zahlung dieses Betrags gerichtete Klage abgewiesen. Das LSG hat das SG-Urteil aufgehoben und die Beklagte zur Zahlung dieses Betrags nebst Zinsen verurteilt: Nach den Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) 1001h seien nicht mehr als 24 Beatmungsstunden zu kodieren. Maßgeblich seien nur die Zeiten der tatsächlichen Beatmung mittels BIPAP (Biphasic Positive Airway Pressure). Die beatmungsfreien Intervalle der Versicherten, durch die sich erst eine Beatmungszeit von mehr als 24 Stunden ergeben hätte, wären nur im Rahmen einer hier nicht bestehenden Entwöhnungssituation berücksichtigungsfähig gewesen (Urteil vom 4.10.2018).

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II

Die Beschwerde der Beklagten ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und des Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Die Beklagte richtet ihr Vorbringen hieran nicht aus.

Die Beklagte formuliert die Frage:

"Wie ist die Entwöhnung im Sinne der DKR 1001h hinsichtlich der vom BSG angenommenen, dem Wortsinn immanenten Gewöhnung auszulegen; konkret: Wann ist eine Gewöhnung anzunehmen, damit eine daraus resultierende Entwöhnung beginnen kann?"

Die Beklagte formuliert mit dem zweiten Teil der Frage keine Rechtsfrage. Die Beantwortung der Frage hängt - soweit eine maschinelle Beatmung iS der DKR 1001h vorliegt - von medizinischen Erfahrungssätzen und den konkreten tatsächlichen Umständen des einzelnen Beatmungsfalls ab. Sofern dem ersten Teil der Frage iVm der Konkretisierung im zweiten Teil eine darüber hinausgehende, eigenständige Zielrichtung beizumessen sein sollte, wirft die Beklagte schon keine konkrete entscheidungserhebliche Rechtsfrage auf. Die Konkretisierung erfordert regelmäßig, dass die Rechtsfrage mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden kann; das schließt nicht aus, dass eine Frage gestellt wird, die je nach den formulierten Voraussetzungen mehrere Antworten zulässt. Unzulässig ist jedoch eine Fragestellung, deren Beantwortung von den Umständen des Einzelfalles abhängt und damit auf die Antwort "Kann sein" hinausläuft (vgl BSG Beschluss vom 19.6.2018 - B 1 KR 87/17 B - juris RdNr 6).

Soweit die Beklagte sinngemäß die Rechtsfrage stellt, ob eine die Entwöhnung iS der DKR 1001h voraussetzende Gewöhnung an die maschinelle Beatmung schon mit einer instabilen respiratorischen Situation gleichzusetzen sei, legt sie die Klärungsbedürftigkeit der Frage nicht hinreichend dar. Ist eine Frage bereits von der höchstrichterlichen Rspr entschieden, ist sie grundsätzlich nicht mehr klärungsbedürftig (vgl zB BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - RdNr 7 mwN). Die Beklagte zeigt nicht hinreichend auf, dass trotz der auch vom LSG zutreffend zitierten Rspr des BSG (SozR 4-5562 § 9 Nr 8) noch rechtlicher Klärungsbedarf verblieben ist. Danach setzt das Krankenhaus nur dann, wenn sich der Patient an die maschinelle Beatmung gewöhnt hat und dadurch seine Fähigkeit eingeschränkt ist, vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können, eine Methode der Entwöhnung ein und wird der Patient im Sinne der DKR 1001h entwöhnt. Es genügt hierfür nicht, dass sich der Patient nicht an eine erfolgte maschinelle Beatmung gewöhnt hat, aber aus anderen Gründen - etwa wegen einer noch nicht hinreichend antibiotisch beherrschten Sepsis - nach Intervallen mit Spontanatmung wieder maschinelle NIV-Beatmung erhält, um solche Intervalle in die Beatmungszeit einzubeziehen (vgl BSG SozR 4-5562 § 9 Nr 8 RdNr 16). Die Beklagte zeigt keinen weitergehenden rechtlichen, sondern lediglich einen im Tatsächlichen liegenden Klärungsbedarf auf, wann im Einzelfall eine Gewöhnung anzunehmen sei. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache betrifft jedoch lediglich Rechtsfragen.

2. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36).

a) Wer sich - wie hier die Beklagte - auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss daher ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen (vgl zB BSG Beschluss vom 20.7.2010 - B 1 KR 29/10 B - RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 1.3.2011 - B 1 KR 112/10 B - juris RdNr 3 mwN). Hierzu gehört nach ständiger Rspr des BSG die Darlegung, dass ein anwaltlich vertretener Beteiligter einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat (vgl dazu BSG Beschluss vom 14.6.2005 - B 1 KR 38/04 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 25.4.2006 - B 1 KR 97/05 B - juris RdNr 6; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Der Tatsacheninstanz soll dadurch nämlich vor Augen geführt werden, dass der Betroffene die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 67; BSG Beschluss vom 10.4.2006 - B 1 KR 47/05 B - juris RdNr 9 mwN; BSG Beschluss vom 1.2.2013 - B 1 KR 111/12 B - RdNr 8). Daran fehlt es. Die Beklagte benennt bereits keinen Beweisantrag, den sie bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt oder aufrechterhalten hat.

b) Die Beschwerdebegründung rügt in diesem Zusammenhang auch, das LSG habe bei der Verneinung einer entwöhnungspflichtigen maschinellen Beatmung der Versicherten medizinische Bewertungen vorgenommen, ohne sich auf eine entsprechende eigene oder durch Sachverständigengutachten vermittelte Sachkunde stützen zu können. Es genügt jedoch nicht, dass sich die Beschwerde nur gegen die Beweiswürdigung durch das LSG richtet. Diese kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 128 Abs 1 SGG im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht gerügt werden.

c) Soweit die Beklagte darauf verweist, dass eigene medizinische Sachkunde des Gerichts den Beteiligten vor der Entscheidung mitzuteilen sei, ist diesem Vorbringen auch keine Rüge eines Gehörsverstoßes in Gestalt einer Überraschungsentscheidung zu entnehmen. Die Ausführungen der Beklagten zur medizinischen Sachkunde beziehen sich nur auf die von ihr gerügte fehlerhafte Beweiswürdigung. Im Übrigen fehlt es aber - diese Rüge unterstellt - auch an hinreichenden Darlegungen eines entsprechenden Gehörsverstoßes.

Nach § 128 Abs 2 SGG darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten haben äußern können. Die Regelung erfasst einen Teilbereich des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention ≪EMRK≫; vgl BSGE 117, 192 = SozR 4-1500 § 163 Nr 7, RdNr 23; BSG Beschluss vom 15.3.2017 - B 5 R 366/16 B - juris RdNr 15; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 128 Anm 10a). Die Vorschrift soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. Ein Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (vgl BVerfG ≪Kammer≫ NJW 2003, 2524; BSG Beschluss vom 3.2.2010 - B 6 KA 45/09 B - juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 7.2.2013 - B 1 KR 68/12 B - juris RdNr 8). Das Gericht muss die Beteiligten über die für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen und Beweisergebnisse vorher unterrichten, ihnen insbesondere auch Gelegenheit geben, sich zu äußern (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Wer die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß § 128 Abs 2 SGG rügt, muss hierzu ausführen, zu welchen vom Gericht zugrunde gelegten Tatsachen und Beweisergebnissen sich der Rechtsuchende nicht hat äußern können, welches Vorbringen des Rechtsuchenden dadurch verhindert worden ist und inwiefern das Urteil auf diesem Sachverhalt beruht (vgl allgemein zu den Anforderungen an die Darlegung eines Gehörsverstoßes zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 36; BSG Beschluss vom 10.3.2011 - B 1 KR 134/10 B - juris RdNr 6 mwN; BSG Beschluss vom 3.11.2014 - B 12 KR 48/14 B - juris RdNr 13). Die Beklagte setzt sich schon nicht damit auseinander, dass ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 4.10.2018 der Vorsitzende nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung den Beteiligten das Ergebnis der Zwischenberatung mitgeteilt und danach die Beklagte nur einen Sachantrag (Zurückweisung der Berufung) gestellt hat. Sie legt nicht dar, welches Zwischenergebnis ihr mitgeteilt und wodurch sie daran gehindert worden ist, zumindest hilfsweise einen Beweisantrag zu stellen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO, diejenige über den Streitwert auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI13500518

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