Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verwerfung der Berufung als unzulässig. Versäumung der Berufungsfrist. öffentliche Zustellung
Orientierungssatz
1. Die Voraussetzungen des § 185 ZPO dürfen wegen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) bzw des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 S 1 GG) nicht vorschnell angenommen werden, weil die öffentliche Zustellung in aller Regel tatsächlich keine Kenntnisnahme des Empfängers ermöglicht.
2. Die öffentliche Zustellung ist als ultima ratio anzusehen und darf nur angeordnet werden, wenn zuvor alle der Sache nach geeigneten und zumutbaren Nachforschungen angestellt wurden, um den Aufenthalt des Zustellungsadressaten zu ermitteln; eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt reicht nicht in jedem Fall aus (vgl BSG vom 5.7.2018 - B 8 SO 50/17 B = juris RdNr 7, BGH vom 17.1.2017 - VIII ZR 209/16 = juris RdNr 4 und BFH vom 25.2.2016 - X S 23/15 (PKH) = juris RdNr 19).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 151 Abs. 1, § 105 Abs. 2 S. 1, § 63 Abs. 2 S. 1, § 62; ZPO § 185 Nr. 1; GG Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. November 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der Kläger macht in der Sache geltend, die Beklagten hätten von ihm gestellte Anträge auf laufende Leistungen nicht bearbeitet.
Er hat am 31.12.2021 beim SG Klage erhoben; die Klageschrift enthält die Absenderangabe: "B. R, c/o D.P. F, S". Die an diese Anschrift versandte Eingangsbestätigung des SG vom 10.1.2022 ist am 18.1.2022 als unzustellbar zum Gericht zurückgelangt. Auf dem Postrücklauf befindet sich ein Bearbeitungsvermerk des beauftragten Postdienstes "b", nach dem der Kläger unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln gewesen sei. Weder der Briefkasten noch die Klingel seien beschriftet gewesen. Eine daraufhin eingeholte Einwohnermeldeamtsauskunft der Stadt S vom 24.1.2022 hat ergeben, dass unter der vom Kläger angegebenen Anschrift niemand gemeldet ist. Die Übersendung der Eingangsbestätigung an die aus den Verwaltungsvorgängen ermittelte frühere Anschrift des Klägers "R, c/o postlag. D. Post. R, J -Straße, S" hat ebenfalls zu einem Postrücklauf geführt. Der erneut beauftragte Postdienst "b" hat wiederum mitgeteilt, unter der angegebenen Anschrift habe der Kläger nicht ermittelt werden können; der Briefkasten und die Klingel seien nicht beschriftet gewesen. Daraufhin hat das SG dem Kläger aufgegeben, eine ladungsfähige Anschrift anzugeben; andernfalls sei seine Klage unzulässig. Zugleich hat es die Beteiligten unter Fristsetzung bis zum 31.3.2022 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und beide Verfügungen öffentlich zugestellt.
Das SG hat die Klage als unzulässig abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 18.3.2022). Für seine Entscheidung hat es wiederum die öffentliche Zustellung angeordnet (Beschluss vom 18.3.2022). Die Zustellbenachrichtigung ist am 21.3.2022 ausgehängt worden. Dem Kläger ist der Gerichtsbescheid erst anlässlich einer Sachstandsanfrage im Mai 2022 bekannt geworden; daraufhin hat er am 27.5.2022 sinngemäß Berufung eingelegt. Das LSG hat das Rechtsmittel des Klägers als unzulässig verworfen, weil die Berufungsfrist von einem Monat nicht gewahrt worden sei; das SG habe dem Kläger den Gerichtsbescheid wirksam öffentlich zugestellt (Urteil vom 22.11.2022).
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger als Verfahrensmangel, die Entscheidung des LSG über die Zulässigkeit der Berufung sei unzutreffend. Statt eines Prozessurteils habe im Berufungsverfahren eine Sachentscheidung ergehen müssen. Der Gerichtsbescheid des SG habe ihm nicht wirksam öffentlich zugestellt werden dürfen, sodass die Berufungsfrist am 27.5.2022 noch nicht abgelaufen gewesen sei. Das SG sei gehalten gewesen, zunächst einen weiteren postalischen Zustellversuch unter der von ihm bei Klageerhebung angegebenen Anschrift durchzuführen, unter der ihn auch andere Post erreicht habe. Zudem habe das SG pflichtwidrig eine Kontaktaufnahme unter einer der beiden aus den beigezogenen Verwaltungsakten ersichtlichen E-Mail-Adressen unterlassen, obwohl er auf diesem Weg auch vorgerichtlich mit den Beklagten kommuniziert habe.
II. Die zulässige Beschwerde des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG. Der Entscheidung liegt ein formgerecht gerügter (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) zugrunde. Das LSG hätte die Berufung nicht wegen Verfristung als unzulässig verwerfen dürfen, sondern in der Sache entscheiden müssen. Darin liegt ein Verfahrensmangel, denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung (stRspr; vgl nur BSG vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - juris RdNr 5; BSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 651/15 B - juris RdNr 5; BSG vom 15.2.2023 - B 4 AS 101/22 B - juris RdNr 6).
Gemäß § 151 Abs 1 SGG beginnt die Berufungsfrist mit der "Zustellung des Urteils"; dasselbe gilt für den hier gegebenen Fall einer erstinstanzlichen Entscheidung durch Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 2 Satz 1 SGG). Die Zustellung erfolgt nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (§ 63 Abs 2 Satz 1 SGG). Danach kann eine Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung ua dann erfolgen, wenn der Aufenthaltsort einer Person unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist (§ 185 Nr 1 ZPO). Letzteres war hier der Fall; das SG hat sich jedoch nicht in prozessordnungsgemäßer Weise davon überzeugt, dass der klägerische Aufenthalt (allgemein und nicht nur ihm) unbekannt war.
Die Voraussetzungen des § 185 ZPO dürfen wegen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) bzw des - hier einschlägigen - Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 Satz 1 GG) nicht vorschnell angenommen werden, weil die öffentliche Zustellung in aller Regel tatsächlich keine Kenntnisnahme des Empfängers ermöglicht (siehe nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 63 RdNr 17 mwN). Sie ist daher als ultima ratio anzusehen und darf nur angeordnet werden, wenn zuvor alle der Sache nach geeigneten und zumutbaren Nachforschungen angestellt wurden, um den Aufenthalt des Zustellungsadressaten zu ermitteln; eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt reicht nicht in jedem Fall aus (vgl BSG vom 5.7.2018 - B 8 SO 50/17 B - juris RdNr 7; BGH vom 17.1.2017 - VIII ZR 209/16 - juris RdNr 4; BFH vom 25.2.2016 - X S 23/15 (PKH) - juris RdNr 19). Diesen Anforderungen genügt das Vorgehen des SG im vorliegenden Fall nicht. Gibt der Kläger an, dass er seine Briefe postlagernd in einer bestimmten Postfiliale entgegennimmt, liegt es nahe, ihm zunächst einen einfachen Brief auf die gewünschte Weise mit der Deutschen Post AG zu übersenden. Diese ist zur Beförderung von Briefsendungen nach Maßgabe der Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV), also insbesondere unter Einhaltung der in § 2 PUDLV genannten Qualitätsmerkmale, verpflichtet. Dass der vom SG beauftragte Dienstleister insoweit überfordert war, ist bereits mit dem Rücklauf der Eingangsbestätigung des SG am 18.1.2022 offensichtlich geworden, da der entsprechende Brief gerade nicht den Mitarbeitern der Postfiliale zur Aufbewahrung für den Kläger übergeben, sondern an das SG zurückgeschickt worden ist. In dieser Situation war es verfahrensfehlerhaft, von einem Zustellversuch mit der Deutschen Post AG abzusehen. Darüber hinaus wäre aber vor einer öffentlichen Zustellung auch eine formlose Nachfrage beim Kläger über eine der aktenkundigen E-Mail-Adressen erforderlich gewesen (vgl BSG vom 29.8.2012 - B 11 AL 72/11 B - juris RdNr 7). Dass eine einfache E-Mail das Formerfordernis für die Erhebung oder Einlegung eines Rechtsmittels nicht wahrt (vgl BSG vom 9.3.2023 - B 4 AS 104/22 BH - juris RdNr 8 mwN - zur Veröffentlichung in SozR 4-1500 § 66 Nr 6 vorgesehen), steht dem nicht entgegen.
Die öffentliche Zustellung des Gerichtsbescheids ist vor diesem Hintergrund für den Beginn der Berufungsfrist nicht maßgebend gewesen, weil der Verstoß gegen § 185 ZPO nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Folge hat, dass die Zustellungsfiktion des § 188 ZPO nicht ausgelöst wird und damit auch keine Frist zu laufen beginnt (statt aller BGH vom 6.10.2006 - V ZR 282/05 - NJW 2007, 303 RdNr 12 mwN; BSG vom 24.3.2015 - B 8 SO 73/14 B - juris RdNr 7). Eine gegenüber dem Kläger wirksame Zustellung des Gerichtsbescheids des SG vor Ende Mai 2022 ist nicht nachweisbar, sodass sein vom LSG zu Recht als Berufung ausgelegtes Rechtsmittel vom 27.5.2022 die Berufungsfrist gewahrt hat. Die Berufung ist ferner statthaft, da der Kläger jedenfalls auch (die Nichtbescheidung von Anträgen auf) laufende Leistungen ab März 2020 geltend macht. Schließlich bestehen keine Anhaltspunkte, dass das klägerische Rechtsmittel aus anderen Gründen unzulässig sein könnte.
Die Entscheidung des LSG beruht auch auf dem vorliegenden Verfahrensfehler, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Sachentscheidung zu einem anderen Ergebnis führt.
Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch. Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren zunächst in eigener Zuständigkeit zu beurteilen haben, ob die Klage zulässig ist. Insofern hat es im Ausgangspunkt zutreffend darauf hingewiesen, dass ein zulässiges Rechtsschutzbegehren grundsätzlich die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift voraussetzt (ebenso zuletzt BSG vom 23.6.2023 - B 4 AS 191/22 BH - juris RdNr 5 mwN). Sollte das LSG zu dem Ergebnis kommen, dass die Klage diesen Anforderungen nicht entsprochen hat, wird es zu berücksichtigen haben, dass im erstinstanzlichen Verfahren das zwingende Verfahren des § 92 Abs 2 Satz 1 SGG nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, weil die entsprechende Aufforderung der Vorsitzenden vom 7.2.2022 dem Kläger ebenfalls nicht wirksam zugestellt worden ist. Vor diesem Hintergrund wird der Kläger - vorbehaltlich weiterer Schritte des LSG - bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz Gelegenheit haben, fehlende Angaben nachzuholen. Sodann wird das LSG unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes das sachliche Begehren des Klägers festzustellen haben. Sollte sich dabei ergeben, dass der Kläger (ua auch) einen Schadensersatzanspruch geltend macht, der sich nicht auf eine sozialrechtliche Anspruchsgrundlage, sondern allein auf einen Amtshaftungsanspruch stützen lässt, wird es vorrangig zu prüfen haben, ob das SG hierüber eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen hat (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 5 GVG). Andernfalls wird es das Verfahren im Fall der objektiven Klagehäufung (§ 56 SGG) insoweit abtrennen und an das zuständige Landgericht verweisen müssen (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 2 GVG; siehe zum Ganzen BSG vom 19.9.2023 - B 4 AS 56/23 B - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; vgl auch BGH vom 5.7.1990 - III ZR 166/89 - juris RdNr 17 ff).
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten. |
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Estelmann |
Burkiczak |
B. Schmidt |
Fundstellen
Dokument-Index HI16148556 |