Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kostenübernahme. Auslandsbehandlung. Allgemein anerkannter Stand der medizinischen Erkenntnis. Verfassungsgemäßheit. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Gestaltungsspielraum. Selbstbestimmungsrecht des Patienten
Orientierungssatz
1. Das BSG verlangt für die Kostenübernahme einer Auslandsbehandlung nach § 18 Abs 1 SGB 5, dass die Behandlung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis entspricht und dies verfassungsgemäß ist (vgl BSG vom 17.02.2004 - B 1 KR 5/02 R = BSGE 92, 164 = SozR 4-2500 § 18 Nr 2).
2. Aus Art 2 GG folgt zwar eine objektiv-rechtliche Pflicht des Staates, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen (vgl ua BVerfG vom 9.3.1994 - 2 BvL 43/92 = BVerfGE 90, 145). Darüber hinaus ist verfassungsrechtlich jedoch nur geboten, eine medizinische Versorgung für alle Bürger bereitzuhalten. Dabei hat der Gesetzgeber aber einen so weiten Gestaltungsspielraum, dass sich originäre Leistungsansprüche aus Art 2 Abs 2 S 1 GG regelmäßig nicht ableiten lassen. Aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten folgt jedenfalls kein grundrechtlicher Anspruch gegen seine Krankenkasse auf Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen (stRspr vgl ua BSG vom 19.10.2004 - B 1 KR 3/03 R).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3; SGB 5 § 18 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der 1985 geborene Kläger, der bei der beklagten Krankenkasse versichert ist, leidet an einem Usher-Syndrom mit Retinopathia pigmentosa, progredienter Schwerhörigkeit, Vestibularisausfall und eventuell epileptischen Anfällen. Im Dezember 2002 beantragte er die Kostenübernahme für eine Operation in der Klinik "C." in Havanna, Kuba. Die Therapie in Havanna sei die einzige Möglichkeit, ihn vor einer Erblindung zu retten. Viele Menschen hätten bereits positive Erfahrungen mit der Therapie gemacht. Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme nach Einschaltung des Medizinischen Dienstes ab, weil für die begehrte Retinitis Pigmentosa-Therapie der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit nicht erbracht sei. Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben und im April/Mai 2003 die Behandlung auf Kuba durchführen lassen. Das Sozialgericht hat seine nunmehr auf die Erstattung von 11.482 € (davon entfallen auf die Gesamttherapie 8.921 €) umgestellte Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers hiergegen zurückgewiesen und ausgeführt, die Voraussetzungen des § 18 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), der für die begehrte Auslandsbehandlung einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage, seien nicht erfüllt. Zwar sei die Kostenübernahme vor Beginn der Behandlung beantragt worden, jedoch entspreche die auf Kuba durchgeführte Behandlung nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis. Die Behandlungsmethode werde weithin ernsthaft kritisiert und habe außerhalb Kubas keine nennenswerte Verbreitung gefunden. Daran ändere sich auch nichts, wenn man unterstelle, dass der jetzige Status im Krankheitsbild des Klägers einer erwarteten weiteren Verschlechterung des Sehvermögens entgegenstehe und dies durch die Operation verursacht worden sei. Der Erfolgsgrad einer Behandlung im Einzelfall sei nicht maßgeblich für die Kostentragung. Der Kläger könne sich für den geltend gemachten Anspruch auch nicht unmittelbar auf Grundrechte berufen (Urteil vom 11. November 2004).
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unzulässig. Sie genügt nicht den Begründungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
1. Dies gilt zunächst für den Zulassungsgrund der Divergenz. Die Revision ist nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG zuzulassen, wenn das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG), des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Abweichung (Divergenz) iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zu Grunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz gebildet und eine Rechtsfrage in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz der in § 160 Abs 2 Nr 2 SGG genannten Gerichte aufgestellt hat. In der Beschwerdebegründung muss die Entscheidung, von der das Urteil des LSG abweicht, bezeichnet werden (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerdebegründung muss nach der Rechtsprechung des BSG insoweit erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz im herangezogenen höchstrichterlichen Urteil enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 67). - Hieran fehlt es.
Die Beschwerde behauptet, das Urteil des LSG beruhe auf folgendem Rechtssatz: "Auch in Fällen einer lebensbedrohlichen oder lebenszerstörenden Erkrankung fordert das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit keine verfassungskonforme Auslegung des § 18 Abs. 1 SGB V dergestalt, daß die Anspruchsvoraussetzungen dieser Vorschrift bereits dann gegeben sind, wenn ein Erfolg einer Behandlung im Einzelfall eingetreten ist oder bei der im Ausland bereitstehenden Behandlung auch nur eine geringe Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht, noch führt das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bei einer restriktiveren Auslegung der Anspruchsvoraussetzung des § 18 Abs. 1 SGB V zu der Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift."
Diese Rechtsauffassung des LSG sei mit dem im Beschluss des BVerfG vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 (NJW 2003, 1236 = NZS 2003, 253 f) tragenden Rechtssatz unvereinbar, dass in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland Leben und körperliche Unversehrtheit hohen Rang haben und aus Art 2 Abs 2 Satz 2 Grundgesetz (GG) allgemein die Pflicht der staatlichen Organe folge, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen. Das Urteil des LSG weiche damit von der Rechtsprechung des BVerfG ab und beruhe auf dieser Abweichung.
Die Beschwerde legt mit diesem Vorbringen eine Divergenz nicht in der gebotenen Weise dar. Abgesehen davon, dass das BVerfG in dem genannten Beschluss aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG keine konkreten materiell-rechtlichen Ansprüche auf die Gewährung bestimmter Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung abgeleitet ("Off-Label-Use"), sondern im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes unter dem Gesichtspunkte des Art 19 Abs 4 GG vom Beschwerdegericht eine "besonders intensive und nicht nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten" oder eine Folgenabwägung verlangt hat, ist der Beschwerde eine Divergenz im oben genannten Sinne nicht zu entnehmen. Es ist schon fraglich, ob das LSG den behaupteten Rechtssatz, wie von der Beschwerde behauptet, aufgestellt hat; jedenfalls hat es keine konkreten Aussagen zu Art 2 Abs 2 GG getroffen. Die Beschwerde stellt nicht zwei voneinander abweichende Rechtssätze des LSG einerseits und des BVerfG einander gegenüber, sondern behauptet der Sache nach allenfalls, dass das LSG den Grundsätzen des BVerfG nicht gefolgt sei. Dies stellt indessen keine Divergenz iS eines bewussten Aufstellens abweichender abstrakter Rechtssätze dar (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26). Ebenso wenig legt die Beschwerde dar, dass aus den von ihr genannten Aussagen des BVerfG hätte zwingend ein Anspruch des Klägers auf die von ihm begehrten Leistungen folgen müssen.
2. Die Darlegungserfordernisse sind auch nicht erfüllt, soweit die Beschwerde eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung begehrt. Zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) ist erforderlich, die grundsätzliche Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt, dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig und klärungsfähig ist, dh sie im Falle der Zulassung der Revision entscheidungserheblich wäre. Eine Rechtsfrage, die das BSG bereits entschieden hat, ist nicht mehr klärungsbedürftig und kann somit keine grundsätzliche Bedeutung haben, es sei denn, die Beantwortung der Frage ist aus besonderen Gründen klärungsbedürftig geblieben oder es erneut geworden; auch das muss substantiiert dargelegt werden (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21). - Hieran fehlt es.
Zwar hält die Beschwerde für klärungsbedürftig, "ob in Fällen einer lebensbedrohlichen oder lebenszerstörenden Erkrankung das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit eine verfassungskonforme Auslegung des § 18 Abs 1 SGB V dergestalt erfordert, dass die Anspruchsvoraussetzungen dieser Vorschrift bereits dann erfüllt sind, wenn ein Erfolg der Behandlung im Einzelfall eingetreten ist oder bei der im Ausland bereits bestehenden Behandlung auch nur eine geringe Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht, bzw, ob das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bei einer restriktiven Auslegung der Anspruchsvoraussetzungen des § 18 Abs 1 SGB V zu der Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift führt". - Die Beschwerde räumt selbst ein, dass das BSG in seinem Urteil vom 17. Februar 2004 (SozR 4-2500 § 18 Nr 2) auch für eine Auslandsbehandlung verlange, dass die Behandlung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis entspreche und dies verfassungsgemäß sei. Die Beschwerde meint indessen, es sei nicht Aufgabe des BSG hierüber zu befinden; vielmehr sei diese Frage vom BVerfG zu klären.
Angesichts dieser Ausgangslage hätte sich die Beschwerde auch mit der Rechtsprechung des BVerfG auseinandersetzen müssen. Wird die Nichtzulassungsbeschwerde auf eine angebliche Verfassungswidrigkeit der dem Rechtsstreit zu Grunde liegenden Vorschrift gestützt, sind die verfassungsrechtlichen Maßstäbe aufzuzeigen, an denen die Vorschrift gemessen werden soll (BSG SozR 1500 § 160a Nr 11 und 17). Bereits hieran fehlt es. Im Übrigen fehlt es an einer Auseinandersetzung mit der bisherigen Rechtsprechung hierzu. Wie das BSG und das BVerfG wiederholt ausgeführt haben, folgt aus Art 2 GG zwar eine objektiv-rechtliche Pflicht des Staates, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen (vgl BVerfGE 85, 191, 212; 88, 203, 251; 90, 145, 195; Schulze-Fielitz in: Dreier, GG-Kommentar, 2. Aufl 2004, Art 2 II, RdNr 76). Darüber hinaus ist verfassungsrechtlich jedoch nur geboten, eine medizinische Versorgung für alle Bürger bereitzuhalten (vgl Schulze-Fielitz, aaO, RdNr 96). Dabei hat der Gesetzgeber aber einen so weiten Gestaltungsspielraum, dass sich originäre Leistungsansprüche aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG regelmäßig nicht ableiten lassen (vgl Murswiek in: Sachs, GG, 3. Aufl 2003, Art 2, RdNr 225). Aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten (vgl BVerfGE 89, 120, 130) folgt jedenfalls kein grundrechtlicher Anspruch gegen seine Krankenkasse auf Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen (stRspr, vgl BVerfG ≪Kammer≫ NJW 1998, 1775; vgl BVerfG ≪Kammer≫ NJW 1997, 3085; zur Grundrechtsrelevanz eines möglichen Systemversagens vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 19. März 2004 - 1 BvR 131/04, NZS 2004, 527 RdNr 8 ff; Urteil des Senats vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 3/03 R -: Brustvergrößerung, zur Veröffentlichung vorgesehen, juris-Dokument KSRE 099191518 RdNr 20).
Eine Rechtsfrage, die bereits entschieden ist, ist nicht mehr klärungsbedürftig und kann keine grundsätzliche Bedeutung haben, es sei denn, die Beantwortung der Frage ist aus besonderen Gründen klärungsbedürftig geblieben oder erneut geworden; auch das muss substantiiert dargelegt werden (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21). Auch hierfür ist nichts dargetan.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 SGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen