Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtsverfahren. Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht bei einer Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde. höhere Gewalt iS von § 67 Abs 3 SGG
Orientierungssatz
1. Die hinreichende Erfolgsaussicht ist bei einer Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für ein Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht allein danach zu beurteilen, ob die Beschwerde Aussicht auf Erfolg hat, dh ob möglicherweise aufgrund von Verfahrensfehlern die Revision zuzulassen wäre. Vielmehr ist PKH auch dann zu versagen, wenn klar auf der Hand liegt, dass der Antragsteller letztlich nicht erreichen kann, was er mit dem Prozess erreichen möchte.
2. Unter höherer Gewalt iS von § 67 Abs 3 SGG ist auch unter Berücksichtigung des Grundrechts auf effektiven Zugang zu den Gerichten (Art 19 Abs 4 S 1 GG) nur ein Ereignis zu verstehen, das auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falles vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe - also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung - zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (vgl BVerfG vom 16.10.2007 - 2 BvR 51/05 = BVerfGK 12, 303, 306 mwN). Allein die fehlende Kenntnis über das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung erfüllt ebenso wenig wie ein bloßer Rechtsirrtum diese Merkmale der höheren Gewalt (vgl BFH vom 9.6.2015 - X R 14/14 = BFHE 250, 19 = juris RdNr 38).
Normenkette
SGG § 67 Abs. 3, § 73a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a; ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4 S. 1
Verfahrensgang
SG Dessau-Roßlau (Gerichtsbescheid vom 14.04.2009; Aktenzeichen S 1 R 62/08) |
LSG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 17.12.2014; Aktenzeichen L 3 R 388/14) |
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 17. Dezember 2014 Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im vorstehend genannten Urteil wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Das LSG Sachsen-Anhalt hat mit Urteil vom 17.12.2014 die vom Kläger am 22.8.2014 erhobene Berufung gegen den seinen damaligen Prozessbevollmächtigten am 17.4.2009 zugestellten Gerichtsbescheid des SG Dessau-Roßlau vom 14.4.2009 als unzulässig - weil verspätet - verworfen. Die Voraussetzungen für eine Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor. Den darauf gerichteten Antrag habe der Kläger mehr als fünf Jahre nach Ablauf der versäumten Frist gestellt, obgleich er von seinen damaligen Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 7.5.2009 ausdrücklich auf den Fristablauf am 18.5.2009 hingewiesen worden sei.
Der Kläger hat beim BSG Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten Urteil des LSG erhoben. Er macht geltend, das LSG habe rechtsfehlerhaft in der Sache bereits entschieden, noch bevor es über seine Beschwerde gegen den Beschluss des LSG vom 3.11.2014 hinsichtlich der Ablehnung der beantragten Prozesskostenhilfe (PKH) befunden habe. Außerdem hätte ihm das LSG Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist gewähren müssen, denn er habe erst jetzt Kenntnis von dieser Möglichkeit erlangt. Das SG habe seine Klage auf Auszahlung einer Rentennachzahlung, die vom beklagten Rentenversicherungsträger unter Hinweis auf einen befriedigten Erstattungsanspruch der Krankenkasse wegen überzahlten Krankengelds (§ 50 Abs 2 Nr 2 SGB V iVm §§ 103, 107 SGB X) verweigert worden sei, zu Unrecht abgewiesen, denn sowohl die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit als auch das Krankengeld seien Versicherungsleistungen, für die er Pflichtbeiträge gezahlt habe und die deshalb nicht aufeinander angerechnet werden dürften.
Zudem hat der Kläger für das Beschwerdeverfahren PKH beantragt.
II. 1. Der PKH-Antrag des Klägers ist abzulehnen.
Nach § 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 Abs 1 S 1 ZPO kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Das ist hier nicht der Fall.
Dabei kann offenbleiben, ob im Fall des Klägers die strengen Voraussetzungen für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG (§§ 160, 160a SGG) etwa im Hinblick auf den vom Kläger behaupteten Verfahrensmangel (fehlende Entscheidung des LSG über den von ihm mit Schreiben vom 8.11.2014 auch gegen den PKH ablehnenden Beschluss vom 3.11.2014 erhobenen Rechtsbehelf "Beschwerde laut §§ 160, 160a und 178a sowie ZPO § 127" vor Erlass des Urteils in der Hauptsache) überhaupt erfüllbar sind. Denn die hinreichende Erfolgsaussicht ist bei einer Entscheidung über die Bewilligung von PKH für ein Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht allein danach zu beurteilen, ob die Beschwerde Aussicht auf Erfolg hat, dh ob möglicherweise aufgrund von Verfahrensfehlern die Revision zuzulassen wäre. Vielmehr ist PKH auch dann zu versagen, wenn klar auf der Hand liegt, dass der Antragsteller letztlich nicht erreichen kann, was er mit dem Prozess erreichen möchte. PKH hat nicht den Zweck, Bedürftigen die Durchführung von Verfahren zu ermöglichen, die im Ergebnis nicht zu ihrem Vorteil ausgehen können und die daher ein vernünftiger Rechtsuchender auf eigene Kosten nicht führen würde (stRspr, vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 13.7.2005 - 1 BvR 1041/05 - SozR 4-1500 § 73a Nr 3 RdNr 10 ff; BSG Beschluss vom 5.9.2005 - B 1 KR 9/05 BH - SozR 4-1500 § 73a Nr 2 RdNr 3 mwN; BSG Beschluss vom 22.7.2014 - B 5 R 56/14 B - BeckRS 2014, 71432 RdNr 3 ff).
So verhält es sich mit dem vom Kläger mit diesem Verfahren verfolgten Rechtsmittel gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 14.4.2009. Dieser wurde seinen damaligen Prozessbevollmächtigten am 17.4.2009 zugestellt, sodass die einmonatige Berufungsfrist (§ 151 Abs 1 SGG) am Montag, dem 18.5.2009 ablief (§ 64 Abs 2 S 1 iVm Abs 3 SGG). Der erst mehr als fünf Jahre nach Fristablauf mit Schreiben vom 18.8.2014 (beim LSG eingegangen am 22.8.2014) vom Kläger angebrachte Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist war, wie im Beschluss des LSG vom 3.11.2014 (gesonderte Entscheidung über die Wiedereinsetzung) zutreffend ausgeführt ist, gemäß § 67 Abs 3 SGG unzulässig. Denn es ist nichts dafür ersichtlich, dass dem Kläger ein solcher Antrag vor Ablauf der in dieser Vorschrift für Wiedereinsetzungsgesuche grundsätzlich vorgesehenen Jahresfrist ausnahmsweise "infolge höherer Gewalt" unmöglich gewesen sein könnte.
Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang geltend macht, er habe den Antrag nicht früher stellen können, weil er "erst jetzt" (Schreiben vom 18.8.2014) Kenntnis von dieser prozessualen Möglichkeit erlangt habe, hilft ihm das nicht weiter. Denn unter höherer Gewalt iS von § 67 Abs 3 SGG ist auch unter Berücksichtigung des Grundrechts auf effektiven Zugang zu den Gerichten (Art 19 Abs 4 S 1 GG) nur ein Ereignis zu verstehen, das auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falles vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe - also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung - zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 16.10.2007 - 2 BvR 51/05 - BVerfGK 12, 303, 306 mwN). Allein die fehlende Kenntnis über das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung - ihr Vorliegen beim Kläger unterstellt - erfüllt ebenso wenig wie ein bloßer Rechtsirrtum diese Merkmale der höheren Gewalt (vgl BFH Urteil vom 9.6.2015 - X R 14/14 - BFHE 250, 19 = Juris RdNr 38). Zudem ist weder vom Kläger vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dieser durch ein dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde zuzurechnendes Verhalten von der rechtzeitigen Anbringung eines Wiedereinsetzungsantrags abgehalten worden wäre (zu solchen Konstellationen vgl BSG Beschluss vom 6.10.2011 - B 14 AS 63/11 B - SozR 4-1500 § 67 Nr 9 RdNr 10).
Erfolgsaussichten ergeben sich auch dann nicht, wenn das ursprünglich gegenüber dem LSG als "Wiedereinsetzungsantrag laut SGB X § 44" bezeichnete Begehren des Klägers (vgl Berufungsschrift vom 18.8.2014 - S 3) als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X hinsichtlich der Entscheidung über die Nichtauszahlung der errechneten Rentennachzahlung im Bescheid der Beklagten vom 30.3.2007 (in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.1.2008) gedeutet wird (zum Verwaltungsakts-Charakter der Mitteilung über die Nichtauszahlung vgl BSG Urteil vom 3.4.2003 - B 13 RJ 39/02 R - BSGE 91, 68 = SozR 4-1300 § 31 Nr 1, RdNr 9; BSG Urteil vom 24.10.2013 - B 13 R 31/12 R - Juris RdNr 15). Über einen solchen Überprüfungsantrag hätte zunächst der beklagte Rentenversicherungsträger in einem neuen Verwaltungsverfahren entscheiden müssen; ein entsprechender Antrag kann nicht unmittelbar zur Eröffnung eines Berufungsverfahrens gegen die bestandskräftig gewordene erstinstanzliche Entscheidung zur Rechtmäßigkeit der Nichtauszahlungs-Bescheide führen (zur Möglichkeit der Durchbrechung der Bindungswirkung eines rechtskräftigen Urteils auf der Grundlage von § 44 SGB X siehe BSG Urteil vom 10.12.2013 - B 13 R 91/11 R - SozR 4-2600 § 249b Nr 1 RdNr 18). Schon deshalb kann der Kläger auch auf der Grundlage des § 44 SGB X in Bezug auf das von ihm - gleichsam als "Abkürzung" - erstrebte Rechtsmittelverfahren keinen Erfolg haben. Ungeachtet dessen besteht jedoch von vornherein kein Anspruch auf Überprüfung durch die Behörde nach § 44 SGB X, wenn schon wegen Ablaufs der in § 44 Abs 4 SGB X geregelten Vier-Jahres-Frist eine Erbringung von Sozialleistungen für die Vergangenheit nicht in Betracht kommt (BSG Beschluss vom 26.10.1994 - 8 BH (Kn) 1/94 - SozR 3-6610 Art 5 Nr 1 S 4). Aus diesem Grund kann der Kläger auch mit seinem materiellen Begehren auf Auszahlung der für den Zeitraum Februar 2005 bis September 2006 zunächst im Rentenbescheid vom 6.3.2007 errechneten, im Abrechnungsbescheid vom 30.3.2007 aber versagten Rentennachzahlung letztlich keinen Erfolg haben.
Nach alledem kann der Kläger sein Rechtsschutzziel über eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des LSG vom 17.12.2014 keinesfalls erreichen. Deshalb kann ihm aufgrund fehlender Erfolgsaussichten PKH für dieses Verfahren nicht gewährt werden; ebenso entfällt die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der PKH (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
2. Die von dem Kläger selbst eingelegte Beschwerde entspricht nicht den zwingenden gesetzlichen Vorschriften, weil sie nicht durch einen vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegt worden ist. Schon die Beschwerdeschrift muss von einem nach § 73 Abs 4 SGG zugelassenen Prozessbevollmächtigten unterzeichnet sein.
Die nicht formgerecht erhobene Beschwerde ist durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15020149 |