Entscheidungsstichwort (Thema)
Notwendige Beiladung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren. Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Verwertbarkeit einer Parteivernehmung in früherer mündlicher Verhandlung. Protokollierung oder Aktenkundigkeit des gewonnenen persönlichen Eindruckes
Orientierungssatz
1. Der für das Revisionsverfahren geltende § 168 S 2 SGG soll aus Gründen der Verfahrenskonzentration die Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz vermeiden helfen, wenn es weiterer Tatsachenfeststellungen durch die Vorinstanz nicht bedarf. Für eine entsprechende Anwendung des § 168 S 2 SGG in dem als Zwischenverfahren ausgestalteten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren fehlt es an einer entsprechenden Ausgangslage (vgl BVerwG vom 20.10.2000 - 7 B 58/00 = Buchholz 310 § 65 VwGO Nr 136 = NVwZ 2001, 2002).
2. Das Ergebnis einer früheren Beweisaufnahme kann durch Heranziehung der Niederschrift verwertet werden. Das Gericht darf dann aber bei der Beweiswürdigung nur das verwerten, was auf der Wahrnehmung aller an der Entscheidung beteiligten Richter beruht oder aktenkundig ist und wozu sich die Beteiligten äußern konnten. Dies gilt auch dann, wenn das Gericht den persönlichen Eindruck von einem Zeugen zur Beurteilung von dessen Glaubwürdigkeit heranziehen will. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung und der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme erfordern auch in diesem Fall, dass sich alle die Entscheidung treffenden Richter einen persönlichen Eindruck von dem Zeugen gemacht haben, wenn sie ihre Entscheidung darauf stützen (vgl BSG vom 15.8.2002 - B 7 Al 66/01 R = SozR 3-1500 § 128 Nr 15).
Normenkette
SGG §§ 117, 128, 168 S. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger bei seiner Ehefrau, der Beigeladenen zu 1., versicherungspflichtig beschäftigt war. Die beklagte Krankenkasse stellte als Einzugsstelle fest, dass ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht bestanden habe. Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos. Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg vom 6. September 2005.
Entscheidungsgründe
1. Der Antrag der Beigeladenen zu 1., den Freistaat Bayern im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren beizuladen, hat keinen Erfolg. Der Senat kann offen lassen, ob eine solche Beiladung in einem künftigen Revisionsverfahren erfolgen müsste, weil sie iS des § 75 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) notwendig wäre. Jedenfalls hätte eine solche Beiladung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zu unterbleiben. Der für das Revisionsverfahren geltende § 168 Satz 2 SGG soll - aus Gründen der Verfahrenskonzentration - die Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz vermeiden helfen, wenn es weiterer Tatsachenfeststellungen durch die Vorinstanz nicht bedarf. Für eine entsprechende Anwendung des § 168 Satz 2 SGG in dem als Zwischenverfahren ausgestalteten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren fehlt es an einer entsprechenden Ausgangslage (vgl BVerwG, Beschluss vom 20. Oktober 2000, 7 B 58/00, Buchholz 310 § 65 VwGO Nr 136 = NVwZ 2001, 202). Weil sich das Verfahren nach § 160a SGG auf die Prüfung der Zulassungsgründe nach § 160 Abs 2 SGG beschränkt, kann es dem wesentlichen Zweck der notwendigen Beiladung, eine einheitliche Sachentscheidung gegenüber allen an dem streitigen Rechtsverhältnis beteiligten Personen zu ermöglichen, nicht erfüllen. Die bei Erfolglosigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde eintretende Rechtskraft des Berufungsurteils würde den erst im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren beigeladenen Dritten nicht binden (vgl BVerwG, aaO).
2. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig, denn der Kläger hat in der Begründung keinen Zulassungsgrund in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise dargelegt oder bezeichnet.
Das Bundessozialgericht (BSG) darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
a) Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), die zur Zulassung der Revision führen könnten, sind nicht in der gebotenen Weise bezeichnet.
Der Kläger sieht einen Verfahrensmangel darin, dass der Senat des LSG in der letzten mündlichen Verhandlung am 6. September 2005 nicht mit denjenigen ehrenamtlichen Richtern besetzt war, die in der mündlichen Verhandlung am 22. Februar 2005 an der Einvernahme der Zeugin S. teilgenommen haben. Er hält insoweit einen Verstoß des Berufungsgerichts gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nach § 117 SGG für gegeben.
Nach § 117 SGG erhebt das Gericht Beweise in der mündlichen Verhandlung, soweit die Beweiserhebung nicht einen besonderen Termin erfordert. Mit dieser Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme soll sichergestellt werden, dass diejenigen Richter, die im Rahmen ihrer freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) über einen Rechtsstreit entscheiden, auch einen persönlichen Eindruck von den der Entscheidung zu Grunde liegenden Tatsachen und Beweisergebnissen haben. Das Ergebnis einer früheren Beweisaufnahme kann durch Heranziehung der Niederschrift verwertet werden. Das Gericht darf dann aber bei der Beweiswürdigung nur das verwerten, was auf der Wahrnehmung aller an der Entscheidung beteiligten Richter beruht oder aktenkundig ist und wozu sich die Beteiligten äußern konnten (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl, § 117 RdNr 2a mwN). Dies gilt auch dann, wenn das Gericht den persönlichen Eindruck von einem Zeugen zur Beurteilung von dessen Glaubwürdigkeit heranziehen will. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung und der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme erfordern auch in diesem Fall, dass sich alle die Entscheidung treffenden Richter einen persönlichen Eindruck von dem Zeugen gemacht haben, wenn sie ihre Entscheidung darauf stützen (vgl BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 15 mwN; SozR 4-1500 § 117 Nr 1; Beschluss vom 7. September 2004, B 2 U 2/04 B, juris-Nr KSRE038451322 ). Dies gilt nur dann nicht, wenn der persönliche Eindruck, welchen die Richter einer früheren mündlichen Verhandlung von einem Zeugen gewonnen haben, protokolliert oder auf sonstige Weise aktenkundig gemacht worden ist und sich die Beteiligten dazu erklären konnten (vgl die angegebenen Entscheidungen des BSG).
Der Kläger begründet den Verfahrensmangel ausschließlich damit, dass die ehrenamtlichen Richterinnen, die an der mündlichen Verhandlung am 6. September 2005 teilgenommen haben, sich keinen persönlichen Eindruck von der Person der Zeugin S. verschaffen konnten. Soweit er dabei unterstellt, das LSG sei bei seiner Beweiswürdigung von der fehlenden Glaubwürdigkeit der Zeugin ausgegangen, ist seine Rüge nicht hinreichend substantiiert. Der Kläger hätte unter Heranziehung der maßgeblichen Passagen des Berufungsurteils auf dessen Seiten 9 und 10 darlegen müssen, warum das LSG trotz seiner Bezugnahme auf die Widersprüchlichkeit der "Aussagen" der Zeugin S. im erstinstanzlichen und zweitinstanzlichen Verfahren und die fehlende Übereinstimmung ihrer "Aussagen" mit der Aktenlage, also trotz seiner Bezugnahme auf objektive Kriterien, die Unglaubwürdigkeit der Zeugin als Person und nicht nur die - bloße - Unglaubhaftigkeit eines Teils ihrer Aussagen angenommen hat (vgl etwa BSG, Beschluss vom 7. September 2004, B 2 U 2/04 B, juris-Nr KSRE038451322 ). Der Kläger hätte einen Verfahrensmangel aber auch dann nicht in der gebotenen Weise bezeichnet, wenn - wie er behauptet - für das LSG tatsächlich der persönliche Eindruck von der Zeugin maßgebend gewesen wäre. In einem solchen Fall wäre von ihm unter Auswertung des in der mündlichen Verhandlung am 6. September 2005 verlesenen Beweisaufnahmeprotokolls vom 22. Februar 2005 darzulegen gewesen, dass in diesem Protokoll nicht auch der persönliche Eindruck von der Zeugin festgehalten war. Schließlich hat der Kläger in der Beschwerdebegründung nicht dazu Stellung genommen, warum er und sein Prozessbevollmächtigter, obwohl beide in der mündlichen Verhandlung am 6. September 2005 anwesend waren, die bloße Verlesung der früheren Zeugenaussage in der mündlichen Verhandlung nicht vor Urteilserlass durch Stellung eines neuen Beweisantrags angegriffen haben. Ein Verstoß gegen § 117 SGG kann nicht mehr gerügt werden, wenn nach § 202 SGG iVm § 295 der Zivilprozessordnung auf die Einhaltung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verzichtet wurde (vgl BSG SozR 4-1500 § 117 Nr 1; ebenso Urteil vom 16. Oktober 1986, 5b RJ 56/85, juris-Nr KSRE028090118 mwN).
Ebenso wenig hat der Kläger die einen Verfahrensmangel ergebenden Umstände dargelegt, soweit er geltend macht, das Berufungsgericht habe gegen § 6 Nr 1 SGG verstoßen. Soweit er vorträgt, die "Heranziehungsliste" habe den Senatsvorsitzenden dazu veranlassen müssen, "einen anderen Verhandlungstermin anzuberaumen als ausgerechnet den Termin, an dem die bisherigen ehrenamtlichen Richter gar nicht an der Reihe waren", rügt er gerade keine unzulässige Abweichung von der Reihenfolge iS des § 6 Nr 1 Satz 2 SGG. Er hält den Senat des LSG ausschließlich wegen einer Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme für nicht ordnungsgemäß besetzt. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.
Soweit in dem beim BSG am 3. April 2006 eingegangenen Antrag, den Freistaat Bayern im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren beizuladen (dazu oben 1.), als Rüge auch enthalten sein sollte, das LSG habe diesen unter Verletzung von § 75 Abs 2 SGG im Berufungsverfahren nicht notwendig beigeladen, wäre ein solcher Verfahrensmangel - erstens - nicht vom Kläger und - zweitens - erst nach Ablauf der am 9. Februar 2006 endenden Beschwerdebegründungsfrist geltend gemacht.
b) Der Kläger macht darüber hinaus eine Abweichung vom Urteil des BSG vom 21. April 1993 (11 RAr 67/92 = SozR 3-4100 § 168 Nr 11) geltend. Abweichung (Divergenz) iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zu Grunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz der in der Vorschrift genannten Gerichte aufgestellt hat. Die Beschwerdebegründung muss daher erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in den herangezogenen höchstrichterlichen Urteilen enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht (vgl BSG in SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67). - Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger arbeitet als entscheidungserheblichen abstrakten Rechtssatz des Berufungsgerichts heraus:
"Ein nicht laufend gezahltes Arbeitsentgelt an den Arbeitnehmer-Ehegatten muss eindeutig als familienhafte Rücksichtnahme gesehen werden, die ein wesentliches Indiz gegen die Arbeitnehmereigenschaft des Arbeitnehmer-Ehegatten darstellt".
Als maßgeblichen Rechtssatz des BSG stellt er diesem vor allem gegenüber:
"Dieses Merkmal (... die Nichtauszahlung des vereinbarten Arbeitsentgelts bzw dessen nicht nachvollziehbare Verrechnung ...) vermag indessen nicht - etwa im Sinne einer ungeschriebenen Tatbestandsvoraussetzung - die auch bei Ehegatten bzw nicht ehelichen Lebenspartnern erforderliche Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls zu ersetzen."
Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit der zitierten Passage aus dem Berufungsurteil tatsächlich einen "Rechtssatz" des LSG bezeichnet hat oder ob er nicht vielmehr der Sache nach auf das Ergebnis der Subsumtion eines konkreten Sachverhalts unter den Begriff "Beschäftigung" iS des § 7 Abs 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung verweist und diese als fehlerhaft angreift. Jedenfalls hat das LSG auf Seite 8 und 9 seines Urteils unter Hinweis auf die höchstrichterliche Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2002, B 7 AL 34/02 R, juris-Nr KSRE060071505 ; BSG SozR 2200 § 1227 Nr 4 und 8) ausdrücklich ausgeführt, es sei eine "Würdigung der Gesamtumstände erforderlich, ob ein Beschäftigungsverhältnis zwischen den Angehörigen ernsthaft und eindeutig gewollt, entsprechend vereinbart und in der Wirklichkeit auch vollzogen wurde". Im Hinblick hierauf wäre nachhaltig begründungsbedürftig gewesen, dass das Berufungsgericht der zitierten Entscheidung des BSG tatsächlich einen eigenen abstrakten Rechtssatz entgegengestellt hat und nicht lediglich eine - ggf unzutreffende - Anwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Beurteilung von Beschäftigungsverhältnissen nach Maßgabe einer Gesamtschau aller Umstände gerügt wird.
3. Soweit sich der Kläger schließlich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft und der Frage grundsätzliche Bedeutung beimisst, "ob im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung der aufgestellten Kriterien für die Annahme eines versicherungspflichtigen Ehegatten-Arbeitsverhältnisses ein überragendes Kriterium die Gesamtwürdigung aller aufgestellten Kriterien entbehrlich macht, oder ob der aufgestellte Kriterienkatalog kumulativ oder lediglich überwiegend erfüllt sein muss", hat er die Begründungsanforderungen (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) ebenfalls nicht erfüllt. Er hat damit bereits keine konkrete, für den zu entscheidenden Streitfall rechtserhebliche Rechtsfrage gestellt. Eine solche konkrete Rechtsfrage ist aber zu bezeichnen, weil in einem künftigen Revisionsverfahren der Funktion des Revisionsverfahrens entsprechend über abstrakte Rechtsfragen sachlich nicht entschieden werden kann.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen